Kontemplation – die Praxisform der Mystik

 In FEATURED, Roland Rottenfußer, Spiritualität

„Schauen ins eigene Selbst, Schauen des Göttlichen in uns“ – so beschreibt Willigis Jäger die Kontemplation. Der Alltagsreligion im Westen hat mit Mystik nicht viel am Hut – vielleicht auch weil uns eine tiefe, intime Verbindung zum Selbst unabhängiger machen würde von geistlichen und weltlichen Autoritäten. Insbesondere kennzeichnet den christlichen Kulturkreis ein Defizit an spirituellen Übungen – ob Körper-, Energie- oder Meditationsübungen. Der Gegensatz zwischen aktivem und kontemplativem Leben ist noch geläufig; unter dem Druck der ökonomischen Verhältnisse hat sich aber ein starkes Übergewicht der (effizienten) Aktivität herausgebildet. Reflexion, Besinnung, Konzentration, Versenkung kommen zu kurz – mit schwer wiegenden Folgen für die geistige Verfassung der Einzelmenschen wie auch der Gemeinschaft.  Roland Rottenfußer

Franz Jalics war ein Jesuit ungarischer Herkunft. 1974 ging er in das Slumviertel Bajo Flores bei Buonos Aires (Argentinien), um dort unter den Armen zu leben. Nach dem Militärputsch im Mai 1976 wurde Jalics aus bis heute nicht ganz geklärten Gründen verhaftet und eingekerkert. Vielleicht hatte sich ein Mitbruder der linken Guerilla im damaligen argentinischen Bürgerkrieg angeschlossen, was die Jesuiten den neuen Machthabern verdächtig machte. Franz Jalics verbrachte insgesamt fünf Monate gefesselt und mit verbundenen Augen in Gefangenschaft. Eine unvorstellbare Situation, in der er von einem Wechselbad quälender Gefühle und Bilder heimgesucht wurde.

Doch der Jesuit besaß ein Gegenmittel gegen den Wahnsinn, den Hass und die Verzweiflung: das Jesusgebet. Es bestand aus nichts anderem als der permanenten inneren Wiederholung des Namens „Jesus Christus“. Jalics hatte sich als junger Priester nach neuen Formen christlicher Spiritualität umgesehen und war dabei auf das Jesus-Gebet gestoßen, das schon die frühen Wüstenmönche angewandt hatten, um einen Zustands inneren Friedens zu erreichen. In der Langfassung lautete das Gebet: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“. Jalics sprach allein den Namen des Religionsstifters aus: Jesus Christus. In tausenden von Wiederholungen der Formel rang er um Vergebung für seine Peiniger und überlebte – auch psychisch – in einem einigermaßen gesunden Zustand. Er empfand die fortwährende Anrufung des Namens als Prozess der Läuterung und entwickelte aufgrund seiner Erfahrungen eine eigene Schule kontemplativer Exerzitien.

Selbst-Besinnung kann Widerstand sein

Diese wahre Geschichte ist insofern interessant, als sie eine Antwort auf die Frage darstellt: „Wozu sind spirituelle Übungen gut?“ Ja, Spiritualität oder Religion als Ganzes erscheinen durch sie in einem neuen Licht. Der Hintergrund dieser Begebenheit ist ein politischer. In Diktaturen können aufrechte Menschen, aber auch Personen ohne politische Ambitionen, Folter und Haft erleiden. Welche Formen des Widerstandes gibt es gegen die Übermacht? Politisch Interessierte, gerade auf Seiten der „Linken“, fordern hier vor allem zur befreienden Tat auf. Natürlich: Besser als betend im Gefängnis auszuharren, wäre es gewesen, aus dem Gefängnis auszubrechen. Besser als auszubrechen, wäre es gewesen, den ganzen faschistischen Spuk in einer groß angelegten Revolution hinwegzufegen. Es wäre dann niemand mehr in Haft gewesen – jedenfalls nicht aus politischen Gründen.

Was aber, wenn jemand im Gefängnis festsitzt, wenn er subjektiv – aber auch objektiv – nicht die geringste Aussicht hat, zu entkommen? Wie kann er es in einer solchen Situation schaffen, den Mut nicht zu verlieren, den intakten Kern seiner Persönlichkeit zu bewahren, seinen Peinigern somit in gewisser Weise den Sieg zu entreißen? Viele von uns fühlen sich auch in Freiheit „wie im Gefängnis“, jedenfalls was ihre politischen Handlungsoptionen betrifft. Sie sind umgeben von Mauern juristisch sanktionierten Unrechts; von der Ignoranz der meisten Mitmenschen, die als Mitstreiter kaum zu gewinnen sind; von lauter Blockaden und Unmöglichkeiten, die den politischen Widerstand schon im Keim ersticken. Es mögen in vieler Hinsicht nur Denkgefängnisse sein – in relativer Freiheit gibt es immer irgendetwas, was wir tun können, um für eine gerechtere Welt zu kämpfen. Und doch ist unsere Situation in einer Fassadendemokratie mit gefügiger Mehrheit, mit einer rigiden Staatsmacht und mit Gesetzen, die fast immer gegen uns sind, der in einem Gefängnis nicht unähnlich – einem Gefängnis mit größeren Zellen vielleicht.

Was tun, wenn alle Wege versperrt scheinen und alles, was getan werden könnte, nicht zum Ziel führt? Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, zunächst den Blick vom Tun selbst wegzulenken. Es ist nicht unbedingt politischer Defätismus und typisch spirituelle Weltfremdheit, wenn man feststellt: das Gebet öffne keine Gefängnismauern, aber es macht das Gefängnis mitunter erträglicher. Es eröffnet Räume innerer Freiheit, wo die äußere (derzeit) nicht möglich scheint. Spirituelle Übungen können dabei helfen, dass man sich unter widrigsten Umständen nicht brechen lässt. Und wer als Ungebrochener das Glück hat, wieder frei zu kommen, besitzt die Kraft und Integrität, um weiter für eine gerechtere Welt – eine Welt möglichst ohne Gefängnismauern – einzutreten. Das Warten auf die Weltrevolution, während man die „Blumen an der Kette“ (Karl Marx) – also alles Tröstliche und subjektiv Erleichternde – abpflückt, dauert mitunter zu lange.

Das innere Heiligtum

Der Sinn von Kontemplation ist jedoch nicht abhängig von Extremsituationen, in die die meisten von uns zum Glück nie geraten. Das Wort Kontemplation – aus dem lateinischen contemplatio, Anschauen, Betrachten – meint zunächst das konzentrierte Betrachten oder Nachdenken über einen Gegenstand, das Sich-Vertiefen in ein Objekt, um darüber Erkenntnisse zu gewinnen. Dies können Gegenstände des Alltags oder der materiellen Welt sein. Traditionell meint Kontemplation aber vor allem die Betrachtung nicht-materieller Phänomene wie Leben und Tod, Liebe, Vergänglichkeit oder ethischer Grundsätze. Häufig ist auch Gott selbst oder das Göttliche Hauptgegenstand von Kontemplation.

Der namensgebende Tempel (lateinisch templum) war im alten Rom ursprünglich ein Platz, an dem Auguren, quasi beamtete Wahrsager, den Willen der Götter zu erforschen suchten. Spätere Verwendungen des Wortes Tempel machten das Wort auch im Kontext der monotheistischen Religionen bekannt – man denke etwa an den Tempel von Jerusalem. Das Wort steht heute allgemein für „Heiligtum“, „Kultort“. Zwar ist Kontemplation grundsätzlich auch Atheisten und Agnostikern möglich, jedoch ist historisch gesehen eher ein religiöser Hintergrund typisch.

Auch ohne theologisches Fachwissen ist vielen der Gegensatz zwischen einem aktiven und einem kontemplativen Leben geläufig. Die mythologischen Urbilder dieser beiden Lebensweisen sind in der christlichen Tradition Martha und Maria. Jesus soll bei den Schwestern zu Gast gewesen sein, und während sich Martha um die praktischen Aspekte der Bewirtung kümmert, saß Maria ergriffen zu den Füßen ihres Meisters, um seinen spirituellen Unterweisungen zu lauschen. Martha beschwerte sich darüber, dass Maria ihr nicht im Haushalt half – in Wohngemeinschaften eine durchaus übliche Dynamik. Daraufhin soll Jesus für Maria Partei ergriffen haben: „Eins aber ist Not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ (Lukas 10,42)

Saftige Vitalität oder geistige Dürre?

Im Anschluss daran kam es in der katholischen Tradition zu einer für heutige Menschen eher befremdlichen Bevorzugung des Kontemplativen gegenüber dem Aktiven. Schon vorchristliche griechische Philosophen kannten diese Parteinahme für die theoria – das geistige, innerliche und „theoretische“ Leben im Gegensatz zum zupackenden Einwirken auf die äußere Welt. Pythagoras verglich das Leben mit einer Veranstaltung, bei der die Zuschauer die bessere Rolle gewählt hätten. Praktischen Menschen, so Pythagoras, gelüste es nach Ruhm und Reichtum; der Philosoph dagegen sei auf der Suche nach Wahrheit, die er nur durch Betrachtung und Reflexion erlangen könne. Christliche Philosophen machten später sich das auch von Plato vertretene Kontemplationsideal zu eigen, luden es aber gleichsam mystisch auf. Durch Rückzug und Verinnerlichung sei Glückseligkeit und letztlich Gottesschau zu erlangen.

Anschauliche Prototypen des aktiven und des kontemplativen Menschen erschuf auch Hermann Hesse in seinem Roman „Narziss und Goldmund“. Goldmund, der lebenspralle, ruhelose Wanderer, der sich auch in Liebesaffären verstrickt; Narziss, der Mönch und Intellektuelle, der am Leben eher als Zuschauer teilnimmt. An einer Stelle beschreibt Narziss den Unterschied zwischen den Freunden so:

„Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns anderen, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker.“

Obwohl aus der Textstelle ein gewisser Neid des Introvertierten auf den extrovertierten „Lebemann“ spricht, sind beide Charaktere hier doch liebevoll und im Wesentlichen als gleichwertig beschrieben.

Schattenseiten der Aktivitätsgesellschaft

Es ist klar, dass sich der Zeitgeist seit dem Mittelalter komplett gedreht hat, dass die vita activa heute in weitaus höherem Ansehen steht. Der moderne Mensch ist ein Macher, der die Welt unterwirft und sie seinem Willen gemäß formt. In der Management-Sprache gesagt, organisiert er das „Doing“ und „operationalisiert“ Vorgänge. Dabei agiert er aber nicht besonnen, sondern – gerade im Hinblick auf das Ökosystem und die eigene seelische Gesundheit – geradezu besinnungslos. Interessanterweise hat aber nicht nur der Kapitalismus dem aktiven, tatkräftigen Menschen den Vorzug gegeben, weil dieser ökonomisch besser verwertbar erscheint; auch die sozialistische Theorie bevorzugt die Aktion, speziell die revolutionäre Tat. Aber auch die Arbeit im Allgemeinen steht unter Linken in hohem Ansehen als Form des Selbstausdrucks durch nicht-entfremdete Tätigkeit. Wenig beliebt sind dagegen das bloße Träumen, Planen und Reflektieren.

So geißelt Bertolt Brecht in seinem Theaterstück „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ das bloße „Es-gut-Meinen“, das reflektierende Auf-der-Stelle-treten, das den Klassengegensatz nicht wirklich aufzuheben vermag. Das Stück gipfelt in dem Aphorismus „Sorgt doch, dass ihr die Welt verlassend nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt.“ Weder das angestrengte Arbeiten an sich noch selbst das ehrliche Bemühen findet bei Brecht Gnade – ausschließlich die erfolgreich zu Ende gebrachte revolutionäre Tat. Hier zeigt sich ein entscheidender Gegensatz: Die Tat verändert die Welt; die Reflexion bzw. Kontemplation verändert eher den Menschen.

Man kann hier dem einen oder anderen den Vorzug geben; Tatsache ist aber, dass es beides braucht. Grübler und Zauderer können – wie Shakespeares Figur Hamlet – in der Falle bloßer Potenzialität, im „Ich könnte, sollte, müsste“ stecken bleiben. Sie gehen vielleicht in die richtige Richtung, jedoch kraftlos und unentschlossen. Unreflektiert Voranpreschende können dagegen viel Schaden anrichten, weil ihre Kraft keine Richtung hat.

Die Angst vor Selbstbegegnung

Unsere Zeit braucht Kontemplation dringender – nicht weil diese im Spannungsfeld „aktiv/kontemplativ“ den größeren Wert besäße, sondern weil sie aufgrund eines ökonomisch dominierten Zeitgeists ins Hintertreffen geraten ist. Das Wort ist aus der Mode gekommen – die Realität, die sich dahinter verbirgt, auch. Ja ein Großteil unserer Kultur ist geradezu durch das Vermeiden von Kontemplation gekennzeichnet, all das unablässige Hetzen, Sich-Zerstreuen und Auf-Bildschirme-Glotzen, das vielleicht vor allem einen innersten Grund hat: die Angst vor wirklicher Selbstbegegnung. Das politisch-ökonomische System und die Aufmerksamkeitsdiebe der Medien docken an dieser tief verwurzelte Angst an.

Umgekehrt kann Kontemplation eine Form des Widerstands gegen die Vereinnahmung unseres Geistes durch Verkäufer und Manipulateure sein. Selbstbegegnung führt dazu, dass Menschen „selbstidentisch“ werden können, genügsam im guten Sinn, somit weniger verführ- und erpressbarer. Darüber hinausgehende Ziele – etwa „Gott begegnen“ – mag man für sich annehmen oder nicht. Es ist etwas anderes als sich selbst zu begegnen – vielleicht ist es auch im Grunde nichts anderes. Hierüber mag es verschiedene Ansichten geben, die durch Weltanschauung und individuelle Lebenserfahrung geprägt sind. Vor allem aber schließt Kontemplation – mag man sie mit dem Zusatz „christlich“ versehen oder nicht – eine schmerzhafte Lücke. Dies will ich etwas genauer erklären.

Spirituelles Praxisdefizit im Westen

Yoga, Qi Gong, Mantren-Singen, Zen-Meditation – viele Menschen haben in spirituelle Praktiken aus Fernost zumindest mal hineingeschnuppert. Meist ohne deshalb zu den zugrunde liegenden Weltreligionen Hinduismus oder Buddhismus zu „konvertieren“. Es ist spürbar, dass solche Übungen gut tun, und auch die ihnen zugrunde liegende Weisheit ist für Menschen aus dem Westen vielfach sehr anregend. Aber haben Sie schon einmal christliche spirituelle Übungen praktiziert? Selbst wer einen christlichen Familienhintergrund hat und mit Kirchenbesuchen und Religionsunterricht vertraut ist, muss hier vermutlich passen. Ja selbst religiöse Menschen findet man manchmal ratlos bei der Frage, was christliche spirituelle Praxis überhaupt sein soll.

Christliche „Körperübungen“ beschränken sich meist auf den Wechsel zwischen der sitzenden, der stehenden und der knienden Haltung bei Gottesdiensten (bei katholischen Messen; Lutheraner verzichten auf das Knien). Es gibt das Gebet – gemeinschaftlich oder privat –, das meist ziemlich wortreich ist, egal ob es sich um traditionelle Gebete wie das Vaterunser handelt oder um frei formulierte Gebete. Wie überhaupt Christen nur sehr schwer „aus dem Kopf rauskommen“. Alles Weihrauchgeschwenke, die Musik und der Bilderschatz, die sich vor allem im Katholizismus finden, ändern nichts daran, dass wir es zum großen Teil mit einer Wort- und Schriftreligion zu tun haben. Alles Heil kommt für den Gläubigen aus dem gesprochenen und niedergeschriebenen Wort; spirituelles Leben beschränkt sich auf das Studium und – im günstigsten Fall – die ethische Umsetzung dieser Worte.

Im Islam gibt es ein Gebet, das körperlich relativ umfangreiche Aktivitäten erfordert. Niederwerfungen vor allem – die Gläubigen berühren mit ihrer Stirn den Boden. Deshalb wird das salat, das vorgeschriebenen Ritualgebet, auch als „Yoga des Islam“ bezeichnet. Die Sufis, islamische Mystiker, kennen noch mehr Übungsformen. Es gibt eine Reihe ritueller Sufi-Tänze. Und Dhikr, das stille oder laute Vergegenwärtigen einzelner Worte und Sätze oder der 99 Namen Allahs. Dies ähnelt dem Sprechen hinduistischer Mantras. Dabei geht es nicht nur darum, sich den Sinn der Worte einzuprägen, sie intellektuell zu durchdringen und in ethisches Verhalten umzusetzen; die Klangstruktur und die energetische „Ladung“ der Kurzformeln üben nach Ansicht von Gläubigen eine unmittelbare Wirkung aus – quasi am Verstand vorbei. Sie versetzen den Übenden direkt in die Gegenwart Gottes und bewirken eine Transformation seines ganzen Wesens.

Den Menschen transformieren statt Stagnation begleiten

Im „gewöhnlichen“ Christentum, aber auch in anderen nicht-mystischen Ausdrucksformen von Religion, spielt der Anspruch, den Menschen zu transformieren, keine erkennbare Rolle. Intendiert ist hier vor allem, den Menschen in seinem Ist-Zustand zu stützen und zu trösten, ihn bei seinen Alltagsproblemen zu begleiten und auf ein transzendentes Heil vorzubereiten, das erst später – nach dem Tod – manifest werden soll. Der Mensch soll sich nicht grundlegend verändern – dies könnte bei bestimmten weltlichen und kirchlichen Autoritäten sogar unerwünscht sein. Er soll sich nicht selbständig Gott nähern – dafür gibt es ja die Priester als Vermittler. Erwünscht sind allenfalls Gebete, die quasi den Charakter von Bittgesuchen bei einem himmlischen Vorgesetzten haben. Man versucht, Gott zu Dienstleistungen zu überreden, auf die er von sich aus nicht gekommen wäre. Die Notwendigkeit, mit dem „kosmischen Versandhaus“ in Kontakt zu bleiben, erübrigt sich mit dem Moment der „Lieferung“ – so lange bis mal wieder Bedarf ist.

Selbstverständlich erschöpft sich das christliche Geistesleben nicht in diesem hier sehr vereinfacht dargestellten Gebetsvorgang. Es gibt Aussagen in der Bibel, die sehr kühne transformatorische Vorgänge beschreiben, die dem gläubigen Christen zuteilwerden können. Man denke etwa an das Wort des Paulus (1. Korinther, 15, 43): „Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.“ Darauf aber muss man buchstäblich bis zum Jüngsten Gericht warten.

Den Menschen ändern, nicht Gott ändern

Was ist im Gegensatz dazu „Kontemplation“? Ich beschreibe Kontemplation in diesem Artikel als die Praxisform der Mystik. Also solche war und ist sie – unter verschiedenen Namen – in vielen Religionen und Kulturkreisen bekannt. Speziell für unseren Kulturkreis verstehe ich sie als spirituelle Übungsform des Christentums – diejenige Aktivität, die das Praxisdefizit des real existierenden Christentums zu beheben hilft und damit eine schmerzliche Lücke schließt. Konkret gesprochen, kann Kontemplation als eine Mischform aus Gebet und Meditation beschrieben werden, als ein Gebet ohne oder mit sehr wenigen Worten.

In gewisser Weise kann man sogar – was paradox klingt – von Kontemplation als Mystik in Aktion sprechen. Womit aber nicht eine „Tat“ im herkömmlichen Sinn gemeint ist, sondern eher ein Zulassen und Sich-Öffnen. Willigis Jäger, katholischer Priester und Zen-Meister, schreibt: „Kontemplation ist auf ihrem Höhepunkt mehr ein Zustand des Empfangens als des aktiven Tuns. Dieser Zustand kann im Grunde nicht gelehrt, sondern nur erweckt werden.“

Was die mit Kontemplation verbundene Absicht betrifft, so folge ich der Definition des Gebets, die der Franziskaner-Pater Richard Rohr gegeben hat. Rohr verbindet sie gleich mit einer tiefer gehenden Zeitgeist-Kritik. „Die abendländische Gesellschaft ist tendenziell eine extrovertierte ‚Macher‘-Kultur. Dabei wird das Gebet zum vorschnellen Versuch, Gott zu ändern und uns selbst wichtig zu machen, anstatt das zu sein, was es sein sollte: eine innere Übung, um den Betenden oder die Betende zu verändern.“ Diese nach innen gewandte Stoßrichtung des Gebets ist entscheidend. Denn „die Veränderung wird sich unweigerlich ereignen, wenn wir schweigend vor der geheimnisvollen und uns ganz und gar bergenden Großen Präsenz stehen und wenn wir dem göttlichen Blick erlauben, unser Unterbewusstsein zu berühren und zu heilen.“

Fokussierung statt Geschwätzigkeit

Wenn Rohr hier vom „Schweigen“ spricht, ist seine Definition des Gebets einem Verständnis von Kontemplation schon sehr nahe. Im jedem Fall darf man sich bei dieser Art von Gebet keine „Geschwätzigkeit“ vorstellen – so legitim es sein mag, das Gottesgespräch in vielen thematischen Verzweigungen weiterzuspinnen. Kontemplation kann auch völlig wortloses Anwesendsein vor und inmitten dieser „Großen Präsenz“ meinen. Oder die Fokussierung darauf mit Hilfe ganz weniger, aber ausgewählter Worte, wie Franz Jalics es im Gefängnis mit dem Jesusgebet praktiziert hat. Der bekannte Altöttinger Mönch Bruder Konrad sagte im 19. Jahrhundert: „Ich bete nicht, ich halte mein Herz einfach in die Liebe Gottes hinein.“ Dieser Satz zeichnet das Idealbild der Kontemplation.

Von östlichen Formen der Meditation, etwa dem Zen, unterscheidet sich das schweigende – oder wortarme – Gebet dadurch, dass eine göttliche Präsenz als „Gegenüber“ oder besser: als in und um uns herum existierende Kraft angenommen wird. Definiert man Kontemplation als eine Form der Meditation, so handelt es sich um eine Variante, bei der sich der Meditierende nicht in „Leere“ verliert (obwohl auch dieser Begriff aus dem Buddhismus oft falsch verstanden wird). Es wird vielmehr eine Fülle erfahren, in die der Meditierende mit seiner Seele bzw. seinem Herzen eintauchen kann. Das, was erfahren wird, ist nicht völlig wertneutral, vielmehr besitzt es die Qualitäten der Güte, der Wärme und der Freude, einer zutiefst tröstlichen und bergenden inneren Heimat, die uns ebenso innewohnt wie sie uns bis in kosmische Dimensionen hinein übersteigt.

Definiert man Kontemplation dagegen als eine Form des Betens, dann ist es eine Kommunikationsweise der Subtraktion. Abgezogen wird alles Redundante und Geschwätzige, jedes „Und dann könntest Du, lieber Gott, auch noch das für mich tun … und das … und das…“ Auch diese Form des Gebets kann aufrichtig, sinnvoll und gewinnbringend sein, vor allem wenn sie auch das Bitten für das Wohl anderer miteinbezieht. Sie ist aber nicht typisch für Kontemplation, die sehr stark auf Konzentration, Reduktion und Wiederholung, letztlich sogar auf das Verstummen ausgerichtet ist, damit eine „sprechende“ letztliche Wirklichkeit erfahrbar wird.

Bei der Kontemplation gilt also: „Weniger ist mehr“. Im unnachahmlich konzentrierten aphoristischen Stil des Taoismus, sagt der Klassiker Shodoka von Yoka Daishi (7. Jahrhundert):

Im Schweigen redet es,

Im Reden schweigt es.

 

Am kommenden Freitag veröffentlichen wir an dieser Stelle einen zweiten Teil dieses Artikels unter dem Titel „Kontemplation – das Geschenk in uns wecken“. Der Autor geht darin auch stärker auf die praktischen Aspekte ein.

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