Kotzbrocken-Antikapitalismus

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Holdger Platta, Politik

Einige unfreundliche Erinnerungen an einige Unfreundlichkeiten während der APO-Zeit.  “Marxismus war für diese Genossen nur ein anderes Wort für Muffeligkeit. Oder anders herum: es schien ganz so, als glaubten diese Genossen, am besten leite man die Abschaffung des Kapitalismus durch Abschaffung der Freundlichkeit ein.” Hieraus spricht lange und sicher oft nervenaufreibende Lebenserfahrung. Der Marxismus an sich ist eine logische und auch menschliche Methode der Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge. So mancher könnte sich sicher mit ihm anfreunden – wären da nicht die Marxisten, die leider nicht selten als Fleisch gewordene Antiwerbung für ihre Weltanschauung agieren. Holdger Platta

 

Erich Fried

 Not kennt kein Gebot

Heute haben wir leider
für Feinheiten
keine Zeit

sagte einer
den ich schon vor Jahren
als Grobian kannte

 

Zugegeben: worüber hier zu berichten ist (mit kleiner Analyse versehen), das stieß mir damals schon auf, und durchaus auch aus sehr persönlichen Gründen. Deswegen keine furchtbare Aufrüstung dieser Reminiszenzen mit marxistischer Theorie, sondern durchaus sehr subjektive Schilderung und Analyse dessen, was damals geschah. Doch zunächstmal einige Erinnerungen aus damaliger Zeit.

Da entsinne ich mich als allererstes an jene Genossen, die es sich während der APO-Zeit abgewöhnten, noch „Guten Tag“ zu sagen und „Auf Wiedersehen“, die einem weder die Hand bei Begrüßung und Abschied gaben noch jemals ein freundliches Gesicht zeigten oder freundlich mit einem sprachen. War ja alles – so die messerscharfe Klassenanalyse – „kleinbürgerlicher Scheiß!“. Und so liefen diese Genossen lieber mit Leichenbittermienen in der Gegend herum, sodass es nicht nur ihre Mundwinkel – mit Sarah Kirsch zu sprechen – „in Richtung der Füße“ zog (siehe Anmerkungen!), sondern gleich alles, was unser Existieren auf diesem kapitalistischen Planeten etwas liebenswürdiger hätte machen können, zu Grabe getragen wurde: die eigene Lebensfreude wie die der anderen auch. Wer Anschauungsunterricht haben wollte für Nietzsches Satz „Ich würde ja gerne an die christliche Erlösung glauben, wenn die Christen selber erlöster aussähen“, der bekam hier permanent das Material geliefert. Marxismus war für diese Genossen nur ein anderes Wort für Muffeligkeit. Oder anders herum: es schien ganz so, als glaubten diese Genossen, am besten leite man die Abschaffung des Kapitalismus durch Abschaffung der Freundlichkeit ein.

Aber ernsthafter betrachtet: linke Begründung für diese Ekel-Alfred-Epidemie war, dass Freundlichkeit nichts anderes sei als kapitalistische Verlogenheit, Schmiermittel für das reibungslos funktionierende Gesellschaftssystem, ideologischer Betrug. Doch genau darin, in dieser zutreffenden Analyse der Freundlichkeiten innerhalb des kapitalistischen Systems, bestand zugleich der logische Irrtum dieser Genossen: vom Missbrauch einer Sache – hier der Freundlichkeiten und der guten Manieren (ohgott!) – schloss man schnurstracks darauf, dass es deshalb auch das Gegenteil nicht geben dürfe: den guten Gebrauch von Freundlichkeiten. By the way: wenn hier von „guten Manieren“ die Rede ist, dann nicht davon, dass die Gabel links vom Eßteller zu liegen hat, sondern dass man andere Menschen anständig behandelt. Es geht um Beziehungsgeschehen, nicht um Etikette, nicht um den Fünfziger-Jahre-Muff um die Bonner Regierungsgouvernante Erica Pappritz herum.

Von der kapitalistischen Funktionstauglichkeit des freundlichen Benehmens schloss man mit zwingender Unerbittlichkeit auf das kapitalistische Wesen dieser Verhaltensweisen schlechthin. Da es vorherrschend derart viel falsche Freundlichkeit gäbe – so die These –, gehöre auch die echte Freundlichkeit abgeschafft. Na toll! Und weil gute Verkehrsformen im Kapitalismus ausschließlich als Schmiermittel dienten, würde unvermeidlicherweise der Kapitalismus selber mit dieser öligen Verkehrsform Freundlichkeit in den Marxismus eingeschleppt. Das war zwar völlig undialektisch gedacht – und suspendierte beim Marxismus gleich beides, den Diamat und Histomat –, aber das gemeine Verhalten war bei diesen Genossen ungemein populär. Es wurde von diesen für höchst marxistisch gehalten und entsprechend hinaufideologisiert. Achja, welch im Menschlichen verarmende Welt!

Gleiches wurde dann auch noch über sonst alles Mögliche gesagt, über die Künste zum Beispiel – über Musik, Literatur, Malerei, Kino, Ballett: alles muss raus, war die Devise, weil all das Vermarktungsgegenstände und Vermarktungsmittel seien innerhalb des kapitalistischen Verwertungsprozesses. O-Ton Bahman Nirumand, der das für die Studentenrevolte so ungemein wichtige Buch „Persien – Modell eines Entwicklunglandes“ geschrieben hatte (ein Buch über das blutige Schah-Regime), bei einem Vortrag im Göttinger Audimax, Frühjahr 1968: „Mit Beethoven im Ohr kann man kein Revolutionär sein!“ Welch kurioses Mißverständnis gerade dieses Komponisten! Und ein bisschen später dann: die ernsthaft intendierte Beerdigung einer ganzen Kunstsparte, durch Hans Magnus Enzensberger und dessen „Kursbuch“-Team: „Tod der Literatur!“ Tja, was wäre dann noch übriggeblieben von der Welt? Wo konnte da noch von dialektischer Aufhebung guten bürgerlichen Erbes die Rede sein?

Typisch für diese Bewegungen innerhalb der Bewegung: bald geisterten diese Miesepeter des Marxismus nur noch alleine durch die Unis, legten ohne nennenswerten Beifall der Mitstudenten ihre hochexplosiven Soloauftritte hin bei irgendwelchen Vollversammlungen und versuchten bestenfalls noch in Minigrüppchen ihren konsequenten Kotzbrocken-Antikapitalismus in die Tat umzusetzen (am Küchentisch ohne Tischtuch, ohne Blumen und ohne jeden Schmuck in der angemieteten Butze überhaupt). Diese Manierenentmüller im Namen des Marxismus waren also nicht nur anderen, sondern auch sich selber ein einziges Missvergnügen.

Klar ist, dass diese Genossen mit all diesem Verhaltenskappes eigentlich nicht abrechneten mit dem Kapitalismus, sondern daß sie endlich Mama und Papa im Kopf loswerden wollten. Und typisch ist, dass nahezu alle aus dieser „besonders radikalen“ Fiese-Leute-Fraktion heute wieder zu den angepasstesten Mitmachern im kapitalistischen Gesellschaftssystem zählen. Weil alles an diesen „neuen“ Verhaltensweisen nur auf Erscheinungsformen des Kapitalismus losging, konnte nichts davon wirklich radikal sein, also an die Wurzel gehend. So blieb es auch bei fast allen dieser Genossen bei dieser ausschließlich äußerlich-negativen Selbst-Kosmetik und war nicht antikapitalistischer als ein wochenlang ungewaschener Pullover, der stinkt. Tja, und eine zweite „marxistische“ Aufwertungsstrategie für dieses Vorbeibenehmen um jeden Preis kam noch hinzu:

Manche dieser Genossen hielten die Kotzbrockeritis nämlich für zutiefst „proletarisch“. Was natürlich die Frage aufwirft: wenn das schon prima ist, dieses miese Verhalten, und zwar klassenbewusst-proletarische Benehmenskultur, wie prima muss dann erst der Kapitalismus sein, der diese prima proletarische Benehmenskultur hervorgebracht hat? Erich Fried widmete seinerzeit dieser Frage – am Beispiel des Kunstgeschmacks von Proletariern – ein ganzes Gedicht (siehe unten: Anmerkungen!). Um es kurz zu machen: auch dieser Lyriker kam nicht zu dem Schluss, dass der röhrende Hirsch über dem Sofa des Kohlekumpels ein Gipfel der abendländischen Kunstttradition sei. Und apropos Lyrik: es war ja nicht so, dass uns Genossen jedes „Gedicht“ zuwider war. Eine „Meisterleistung“ der emotionalen Intelligenz, die unbedingt hierhergehört, weil sie zeigt, dass dieses Unfreundlichkeitsideal nicht nur unser Binnenverhalten kennzeichnete, sondern auch typisch war für unsere Kommunikation nach außen hin, stellte zum Beispiel der folgende Zweizeiler dar, ein Sprechchorspruch, den wir gern bei Demonstrationen durchs Stadtinnere von uns gaben:

„Bürger, lasst das Glotzen sein,
kommt herunter, reiht Euch ein!“

Ob alle Genossen von damals bemerkt haben dürften, das es einigermaßen infantil und widersinnig ist, denselben Personenkreis erst zu beleidigen und dann aufzufordern zur Solidarität?

Als diese autoritär-antiautoritäre Rebellenzeit vorüber war, als es vorbei war mit dem Kampf gegen die Eltern-Imagines im eigenen Schädel, da war es auch rasch mit diesem sogenannten Antikapitalismus vorbei. Und so kann es vorkommen, dass wir heute urplötzlich vor einem solchen Ex-Extremisten des Unfreundlichkeits-Marxismus stehen, und dieser Vertreter des Kotzbrocken-Antikapitalismus von einst fällt heute kapitalismusfromme Urteile als Vorsitzender einer Kammer beim Landgericht. Und wir, die wir in der Freundlichkeit den guten Kern ahnten und in unserem Verhalten zu leben versuchen, wir stehen dann da vor diesem Herrn Richter und sind immer noch Marxisten und benehmen uns immer noch freundlich und werden verurteilt wegen Teilnahme an einer Demonstration gegen den kapitalistischen Abbau des Sozialstaats Bundesrepublik. Na prima!

So, und nun rüsten auch wir theoretisch wieder ab und sagen ganz schlicht: wenn es schon so unfreundlich zugeht in der kapitalistischen Welt – und zwar essentiell, nicht, was zudem irgendwelche seiner Erscheinungsformen betrifft –, sollten wir die allerletzten sein, die sich ausgerechnet vom Kapitalismus Unfreundlichkeit diktieren lassen sollten und Herzlosigkeit. Wo Takt Herzenstakt ist (achgott, noch so ein altmodisches Wort, nicht wahr?), sollten wir die allerersten sein, die an dieser Herzlichkeit in jedweder Hinsicht festhalten! Denn – Vorsicht, das Plädoyer wird jetzt emphatisch! – wie kann eine Sache leuchten – der Marxismus –, wenn nicht zuerst ein Vorschein davon im Verhalten von uns Marxisten die Welt aufleuchten lässt? Und da wir mit dem Begriff „Vorschein“ schon bei Bloch gelandet sind: der Tübinger Marxist, angetan mit Anzug, weißem Hemd und Krawatte, pflegte sein Publikum stets mit einem freundlichen „Verehrte Damen und Herren!“ zu begrüßen. Na, so ein „pseudomarxistisches Kleinbürgerschwein!“…

Dass in den Verwertungszusammenhängen des Kapitalismus Freundlichkeit stets auf Beschiss hinausläuft und hinauslaufen muss, diese Tatsache ist also keinesfalls ein Grund, auch Freundlichkeit unter Genossen für Beschiß halten zu müssen. Welch merkwürdige Logik wäre das: uns vom Kapitalismus ein Kontrastverhalten aufzwingen zu lassen, das lediglich schlechteste Aufhebung seiner Widersprüche wäre, nicht aber wirklicher Widerspruch zu ihm! Ergo:

Echter Widerspruch zum kapitalistischen Schmierentheater der Freundlichkeiten sowie dessen dialektische Aufhebung, das ist nicht talmimarxistische Kotzbrockerei, sondern Freundlichkeit, der man vertrauen kann, ohne Furcht haben zu müssen vor dem Beschiss!

 

 

 

 

Anmerkungen:

 

Die Textzeile mit den Mundwinkeln „in Richtung der Füße“ stammt aus dem Gedicht „Besinnung“ von Sarah Kirsch, erschienen in deren Lyrikband „Zaubersprüche“ (Langenwiesche-Brandt Ebenhausen 1974); wörtlich heißt es da (Ausschnitt):

 

Besinnung

 

                                            Was bin ich für ein vollkommener weißgesichtiger Clown

Am Anfang war meine Natur sorglos und fröhlich

Aber was ich gesehen habe zog mir den Mund

In Richtung der Füße

 

(…)

 

Bei Erich Fried handelt es sich um ein Gedicht aus seinem Lyrikband „Die Beine der größeren Lügen“ (Wagenbach Berlin 1969):

 

 

Erziehung zum Kunstverstand

 

Wenn die Söhne der Arbeiterklasse

herangewachsen

unter dem Kapitalismus

so gute Kunstrichter wären

wie sie behaupten

so aufgeschlossen

so sicher

im richtigen Denken

 

wie bewundernswert

müßte

die Umwelt

gewesen sein

die sie das lehrte:

wie herrlich

müßte

der Kapitalismus sein

 

 

Das Gedicht „Not kennt kein Gebot“ stammt aus dem Gedichtband von Erich Fried „Die Freiheit den Mund aufzu-machen“ (Wagenbach Berlin 1972)

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