Lauter Amerikaner

 In Holdger Platta, Kurzgeschichte/Satire
Unsere Macho-Vorfahren nannte dieses Gebäck "Amerikaner", heute heißt es natürlich "Amerikaner_in"

Unsere Macho-Vorfahren nannte dieses Gebäck „Amerikaner“, heute heißt es natürlich „Amerikaner_in“

Zugegeben: hier wird einmal ganz subjektiv auf jenes Land geblickt, das sich selber gerne als „Amerika“ tituliert, obwohl es doch eigentlich nur ein Teil des Doppelkontinents Amerika ist – auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Und: es werden, in der Gestalt von Alltagserfahrungen, fast ausschließlich Erlebnisse geschildert, die unser Autor Holdger Platta – als Jugendlicher, also Anfang der sechziger Jahre – mit einigen Angehörigen dieser Nation hatte. Mag jeder selber entscheiden, was da der Zufallsgenerator Leben unserem Mitarbeiter an Begegnungen und kleinen Geschichten zukommen ließ, an Begebenheiten, die mit US-AmerikanerInnen zu tun haben – die Frage also: handelt es sich hier um völlig atypische Erfahrungen oder doch irgendwie um ziemlich repräsentative Fakten? „Literatur sagt ihre Wahrheit, indem sie ihre Wahrheit erzählt.“ An diese Maxime hat sich der kleine autobiografische Text von Holdger Platta jedenfalls sehr konsequent gehalten, und zwar ohne selektive Tricks. Alles ist tatsächlich so passiert, nichts wurde ausgelassen, nichts hinzugefügt, die drei geschilderten Mini-Episoden geben demzufolge vollständig wieder, was der Autor während seines sechzehnten bis achtzehnten Lebensjahr so mit AmerikanerInnen erlebt bzw. wie er sie erlebt hat. Ausgelassen hat er nur den Kintopp, egal, ob sich es um Filme mit John Wayne handelte, Westernschinken also, in denen die Indianer meist wie die Fliegen starben, als ob sie keine Menschen gewesen seien, oder um Filme mit Gregory Peck, in denen das schon deutlich anders aussah. (Holdger Platta)

Also, die ersten Amerikaner, die ich kannte, waren Gebäck mit Zuckerguß. Die mochte ich sehr. Dann kam ein junger Amerikaner hinzu, der bei uns für eine Woche logierte, weil er in Hannover mit einem Schülerchor aus seiner Heimat auftrat. Er sprach kein Wort Deutsch und wollte das auch nicht, war so alt wie ich, sechzehn Jahre also, und behandelte mich wie Luft. Er pulte aus den Brötchen das Innere heraus und warf nach einem Tag die Socken, die er getragen hatte, weg. Er ließ sich für seine zwei Konzertauftritte einen rotsamtenen Talar, der ihm bis zu den Füßen reichte, von meiner Mutter aufbügeln, ohne „Thank You“ zu sagen, und sein Anzug war dünn. Eine Einladung zu einem seiner Konzerte bekamen wir nicht, Freikarten schon gar nicht. Als er wieder weg war, waren wir froh.

Tja, und dann das „Amerikahaus“ in Hannover, keine zwei Minuten Fußweg vom Kröpke entfernt. Der Englischlehrer hatte uns den Tipp gegeben, dort hinzugehen. Ich tat es mit einem Freund. Man konnte dort eine Lesekarte erstehen, und wir taten es. Wir liehen uns ein paar Wochen lang auch Bücher aus, ließen es dann aber rasch bleiben, weil die Angestellten dort unfreundlich waren und nur amerikanisch sprachen. Auch zwei, drei Filme haben wir dort gesehen, in Originalsprache, mit Kulturfilm vorweg. An einen Spielfilm erinnere ich mich noch, und er gefiel mir, soweit ich ihn verstand, sehr gut. Es waren „Die zwölf Geschworenen“, mit Henry Fonda in der Hauptrolle. Den „Kulturfilm“ habe ich in furchtbarer Erinnerung. Es ging um irgendeinen Staudamm in den USA. Ich glaube, an der kanadischen Grenze war das. Doch im Gedächtnis geblieben ist mir vor allem zweierlei: die Musik, die mich an alte Wochenschauen der Nazis erinnerte, und der Sprecher, der eher schrie denn sprach, eher ein Mittagessen im Mund hatte denn eine Zunge, und vor allem schaurig anzugeben schien. Mein Freund und ich verabschiedeten uns bald von dieser Angeberei und diesem Geschrei und diesen Unfreundlichkeiten, trotz der „Zwölf Geschworenen“ – die ich dann später, auf deutsch in einem deutschen Kino, immer noch gut fand.

Ein Jahr später begegnete ich dann, mit einem anderen Freund, auf Capri weiteren Angehörigen dieser Nation. Schrille alte US-Amerikanerinnen mit schrillen topmodernen Brillen, mit schrillen Hosen und schrillen Stimmbändern, die alles „very nice“ fanden, aber so klangen, als hätten sie gerade nach dem Preis der gesamten capresischen Piazza gefragt. Irgendwie schienen sie alle auf Krücken unterwegs zu sein, bis ich herausfand, daß es an den Sandaletten mit überhohen Absätzen lag. Wir waren froh, als wir auf einem stillen Weg, den Julisommerhimmel zu Häupten, zwischen Weingärten entlang, ohne US-amerikanisches Getöse im Ohr, plötzlich von irgendwoher, aus der Nähe des „Arco Naturale“, Beethovens viertes Klavierkonzert hörten. Zusammenhänge irgendwelcher Art waren uns damals noch nicht klar.

Und dann dieses noch: 1963, Sommerferien, mit meinem Freund in Cannes. Wir sitzen mit anderen Jugendlichen am Strand, es ist schon dunkel dort, wir haben Rotwein eingekauft – Vin d’ordinaire, natürlich – und Baguettes sowie Käse, mein Freund hat seine Gitarre gestimmt, und wir singen. Mit dem Rücken an das Zäunchen gelehnt, das uns vom Millionärsstrand der „Carlton“-Gäste trennt, drüben am Himmel im Westen, über dem Esterel-Gebirge, noch ein letzter Widerschein der längst untergegangenen Sonne. Mein Freund hat vor allem die neuesten Degenhardts drauf (oder war er noch in seiner George-Brassens-Phase?): „Vorstadtfeierabend“, die „Schmuddelkinder“, „Es liegen drei glänzende Kugeln“, und ich vor allem US-amerikanische Songs wie „This land is your land“, „Where have all the flowers gone“ und „We shall overcome“, Lieder also von Woody Guthry, Pete Seeger und Joan Baez.

Diese Lieder mag ich auch heute noch.
Und auch diese Amerikaner.

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