Leben mit Flüchtlingen: Sprachen lernen
Seit einem halben Jahr beherbergt Wolf Schneider, Gründer der mittlerweile eingestellten spirituellen Zeitschrift „connection“ Flüchtlinge aus mehreren Ländern in seinem großen Haus, einer ehemaligen Landgaststätte in Niedertaufkirchen (Südbayern). Er tritt vehement dafür ein, die „Fremden“ als Bereicherung, nicht als Störung, zu betrachten und steht dafür auch mit seiner Lebenspraxis ein. Die teilweise auftretenden Verständigungsproblemem mit den persisch oder arabisch sprechenden Mitbewohnern nimmt Wolf Schneider zum Anlass zu tief gehenden Betrachtungen über Sinn und Unsinn verschiedener Sprachen.
Seit ich Anfang Januar dieses Jahres mit afghanischen und syrischen Flüchtlingen zusammenlebe, deren Hauptbeschäftigung das Erlernen der deutschen Sprache ist, habe ich mich wieder mal mit meinem eigenen Sprachenlernen und meinem Bezug zu Sprache und Sprachen beschäftigt. Ich habe in meinem noch immer recht kurzen Leben immerhin zehn bis fünfzehn Sprachen begonnen zu lernen. Nach der deutschen Sprache, die ich noch immer am Erlernen und Einüben bin, waren das neben einigen weiteren europäischen Sprachen auch Persisch, Hindi, Thai, Chinesisch und Arabisch. Manche denken deshalb, ich sei, was Sprachen anbelangt, besonders begabt. Das bin ich nicht. Im Fach Deutsch war ich zu meiner Schulzeit eher schwach, gut war ich in den Naturwissenschaften. Sprache interessiert mich aber, weil sie etwas das Menschsein aussagt, Mein vertieftes Interesse daran begann, als ich im Alter von 16 auf einem Internat in Südfrankreich, wo alle nur Französisch sprachen, nicht einmal die Deutsch- und Englischlehrer konnten was anderes, die Illusion verlor, die Welt sei so, wie sie auf Deutsch gesprochen aussieht.
Was kann Sprache?
Sprache prägt und steuert uns – unser Denken, Fühlen, sogar Träumen. In vier Sprachen bin ich so weit eingetaucht, dass ich „in ihnen“ geträumt habe, darunter auch eine außereuropäische, Malayisch. Erst dann, als Träumer in einer anderen Sprache, fühlte ich mich als ein anderer.
Auch wenn ich mich im Lauf meines Lebens immer wieder in einzelne Sprachen verliebt habe, viel mehr als einzelne Sprachen interessiert mich das Phänomen Sprache generell. Warum sprechen Menschen? Was kann Sprache? Warum haben Menschen Schriften? Seit etwa den 50er Jahren das 20. Jahrhunderts, meinem Geburtsjahrzehnt, kann immerhin mehr als die Hälfte der menschlichen Erdbewohner lesen. Wie geschieht Verständigung, wenn Menschen keine gemeinsame (Verbal)Sprache miteinander haben?
Wie kommt es überhaupt, dass Menschen Lauten, die ihnen und anderen aus dem Mund quellen, Bedeutung geben? Ist es nicht eine Art Ursünde, dass wir Menschen das tun, vielleicht sogar die Ursünde? Denn ohne Sprache/n gäbe es keine Missverständnisse, dann hätten wir Frieden.
Fiktionen
Viele Jahre lang habe ich mit der Frage gerungen, ob Sprache imstande ist, Wirklichkeit wiederzugeben und musste feststellen, dass sie es nicht kann. Auch perfekt objektive, berichtende Sprache kann nicht etwas abbilden, so wie Fotografie das in gewisser Hinisicht kann oder eine Audio-Aufzeichnung oder ein Fingerabdruck. Sprache erfindet Wirklichkeit, sie produziert Fiktion. Auch wissenschaftliche Texte, Gerichtsprotokolle und wahrhaftige Reportagen produzieren Fiktionen.
Dennoch ist der Anspruch auf Objektivität bei solcher »faktischen« Sprache wichtig. Wer auf ihn verzichtet, befindet sich auf abschüssigem Gelände und riskiert in eines dieser drei Täler abzurutschen: Lüge (d.h. bewusste Falschdarstellung), Fantasie (d.h. utopische Sprachverwendung), Witz (humorvolle Darstellung, spielerisch). Wer kann sich auf so glitschigem Gelände halten? Für faktische Sprache ist der Anspruch der Objektivität wichtig, an diesem Ideal kann man sich ausrichten, auch wenn es auf immer und ewig unerfüllt bleibt. Oder man bekennt sich gleich dazu, nur Fantasie zu produzieren oder Witz, auch das, beides, ist wertvoll.
Sprachballast
Heute lebe ich in einer Art Gemeinschaftshaus, zusammen mit 15 Menschen, deren Muttersprachen Deutsch, Arabisch, Persisch und Pashto sind. Persisch (im Iran »Farsi« genannt, in Afghanistan »Dari«) ist die hier im Haus neben Deutsch am meisten gesprochene Sprache. Pashto will ich nicht erlernen, das ist mir zu speziell, aber von Persisch und Arabisch schnappe ich auf, was ich kann. Kommunikationssprache zwischen uns ist teilweise Englisch; zwischen den Afghanen, die entweder mit Pashto oder mit Dari aufgewachsen sind, ist es Dari.
Inmitten dieses Sprachgewirrs frage ich mich, ob es sein muss, dass wir so viele verschiedene Sprachen sprechen, denn das macht die Verständigung doch sehr umständlich, oft schwierig, manchmal unmöglich. Und ich wundere mich, warum einzelne Sprachen so viele unnütze Eigenschaften aufweisen, die trotzdem wie ein religiöser Kult aufrecht erhalten werden. Dazu gehören zum Beispiel die drei Artikel im Deutschen: der, die, das. Oder in den romanischen Sprachen die komplizierten Verbformen, die im Vergleich mit dem ebenso ausdrucksstarken, aber viel einfacheren Englisch, doch keinen Vorteil haben. Warum schafft man die nicht einfach ab? Warum wird da nicht wenigstens mal das Für und Wider der Aufrechterhaltung diskutiert? Generation für Generation müssen die Kinder das Lernen.
Wie viel Sprachdiversität ist gut?
Und nicht nur Kinder. Wenn eine Erwachsener in einem Land leben will, dessen Sprache er nicht spricht, muss er meist ungeheure Mühen auf sich nehmen, die Landessprache zu erlernen. So wie bei uns heute die vielen Ausländer, die gezwungen werden Deutsch zu lernen. Oder ich, der ich im Winter auf den kanarischen Inseln leben will, mich dazu mit den unregelmäßigen Verben des Spanischen abmühe. Wäre Deutsch eine einfache, sinnvolle Sprache, die an Regeln nur das enthält, was für die Verständigung gut und nützlich ist, wäre die Betonung des Erlernens eines »guten, korrekten Deutsch« ja noch verständlich, aber so? Müssen wir diese Verschiedenheiten wirklich aufrecht erhalten, nur weil es sie gibt? Wir schätzen die Biodiversität und bedauern es, wenn Arten aussterben, aber bei Sprachen, ist das ebenso bedauerlich? Die Kosten der Missverständnisse durch die Sprachenvielfalt sind doch sehr hoch, und auch der Aufwand des Erlernens einer mehrsprachigen Kompetenz ist hoch.
Währenddessen breitet sich überall auf der Welt das Englische aus. Basic english können inzwischen sehr viele, aber auch das anspruchsvolle Englisch breitet sich immer mehr aus. Seit Shakespeare ist Englisch die wortreichste Sprache der Welt. Heute ist es außerdem die Sprache der Wissenschaft, der Diplomatie, des Verkehrs (Luft- und See-Verkehr, der Landverkehr wird noch regionalsprachlich gehandhabt) und der Informationstechnologie.
»Ist« das ein Tisch?
Mehrspachigkeit finde ich gut. Vor allem deshalb, weil einem dabei klar wird, dass dies hier kein Tisch ist, sondern dieses Ding nur so heißt. Sein und Heißen sind eben nicht dasselbe. Wer nur eine Sprache spricht – bei den in einem mächtigen Sprachraum Aufgewachsenen kommt das häufiger vor –, hat eher den Eindruck, dass das hier die Sonne ist und nun ein Wind weht, und nicht, dass dieses helle Objekt dort am Himmel bei uns »Sonne« heißt, und das, was ich jetzt so angenehm kühlend auf der Haut spüre, bei uns, in unserer Sprachgruppe, »Wind« heißt. Mehrsprachigkeit erweitert also nicht nur die Verständigungsmöglichkeiten mit anderen Menschen, sondern auch das Bewusstsein des einzelnen in Bezug auf seine Weltwahrnehmung.
Auch deshalb lerne ich gerne Sprachen: Ich habe dabei immer das Gefühl, dass etwas von dem durchschimmert, was jenseits der Einordnung in Begriffe der Fall ist. Hier heißt ein Ding oder Sachverhalt so; dort, bei euch, heißt es anders, und dazwischen schimmert etwas von der Wirklichkeit durch. Jenseits der beiden Schubladen, in die wir durch unsere Begriffe die Dinge und Ereignisse stecken, gibt es etwas, das der von einer Sprache Besessene nicht wahrnimmt. Wer nur eine Sprache spricht und nie in einer anderen geträumt hat, ist meist viel mehr von dieser Sprache besessen als sie zu besitzen.
Gestik und Mimik
In der Kommunikation mit den „Ausländern“ hier im Haus – für sie bin ja ich, sprachlich gesehen, der Ausländer, der eine „Fremd“sprache spricht – fällt mir auf, welche reichen Möglichkeiten Gestik und Mimik bieten. Zwei unserer erwachsenen Mitbewohner haben nie eine Schule besucht, sie gelten als Analphabeten. Nicht lesen und nicht schreiben zu können, das gibt es auch unter Deutschen: Im Jahr 2011, also vor der Flüchtlingswelle, wurden die »funktionalen Analphabeten« in Deutschland auf 7.5 Millionen geschätzt, das ist fast jeder zehnte, und zwei Millionen der Erwachsenen galten als totale Analphabeten, die nicht mal ihren eigenen Namen schreiben und Straßenverkehrsschilder, die Buchstaben enthalten, nicht lesen können.
Mit den beiden Analphabeten bei uns im Haus, aber auch mit den anderen neuen Mitbewohnern kann ich mich erstaunlich gut pantomimisch verständigen. Das weckt in mir die Lust auf Pantomime und übt sie zugleich ein, so dass ich das nun auch mit Deutschsprachigen häufiger als bisher einsetze. Auch mit Deutschen kann es ja, tralala, Missverständnisse geben. Ein Überwechseln ins Mimische betont die Gefühle einer Aussage und verringert die Bedeutung von ihrer logischen Struktur und wirkt zugleich witzig, clownesk, die Aussage zuspitzend, was – taktvoll gehandhabt – Situationen entspannen kann, in denen man wortreich Gefühle vermeidet. Ich möchte deshalb hier im Haus bald einen Kurs in Pantomime und körpersprachlicher Kommunikation anbieten, vielleicht sogar eine pantomimische Einführung in Meditation, in die wortlose Stille.
Esperanto ist gescheitert
Unsere Verbalsprachen wie Deutsch, Englisch, Arabisch sind nicht besonders gut geeignet für die zwischenmenschliche Verständigung, und schon gar nicht für politische Organisation, für eine world governance. Unsere Sprachen tragen historischen Ballast, ebenso wie die Religionen, von denen der größte Teil ihrer Praktiken und Überzeugungen offensichtlich nicht gut geeignet ist für die Entwicklung von Weisheit, Liebe, Mitgefühl. Heute, nach diesen ersten fünf oder zehn tausend Jahren Kulturgeschichte, müssten wir Menschen es eigentlich besser wissen und dürfen uns nicht mehr so verhalten wie bisher. Esperanto war ein Versuch, aus mehreren bestehenden Sprachen eine Kunstsprache zu entwickeln, die für die an sie gerichteten Zwecke besser geeignet ist als die historisch entstandenen Sprachen. Die Kunstsprache Esperanto ist aber mit diesem Versuch gescheitert; es gelang damit nicht, eine international bedeutende Kommunikationssprache, eine linga franca zu erschaffen.
Wir Menschen hängen eben an unserem kulturellen Erbe, wie unsinnig das auch immer im Einzelfall sein mag. Es ist ja nicht einmal gelungen, die weibliche Genitalbeschneidung abzuschaffen, nicht einmal in ihrer brutalsten Form, der pharaonischen Beschneidung, wie soll man dann den Unsinn von sowas wie der Teufelssteinigung bei der Hadsch auf dem Weg zur Kaaba abschaffen, oder den Glauben, dass die bei der katholischen Messe verabreichte Oblate tatsächlich, physisch real, der Leib von Jesus von Nazareth ist? Wir Menschen hängen an unserem Glauben, egal wie groß der Unsinn ist.
Die positive Sicht
Grund genug aufzugeben? Nein. Weltweit wird zur Zeit der Nationalismus stärker, die Menschen verbinden sich lieber in kleinen Einheiten als in Mega-Gebilden, das können Fußballclubs, Parteien, Nationen sein. Auch der Ethnizismus wird stärker, während das Bewusstsein verblasst, dass wir alle Bürger und Bewohner eines einzigen Planeten sind, der unsere Heimat ist. In Deutschland lässt die Willkommenskultur nach, und man bedauert, dass dieses Land durch die großherzige Einladung von unserer Kanzlerin anno 2015 so viele Integrationsprobleme an der Backe hat.
Man kann es jedoch auch spannend finden, was für Gelegenheiten sich daraus ergeben: Wir können dadurch andere Kulturen kennen lernen, ohne reisen zu müssen. Wir können Vielfalt genießen, wo wir sonst in monokultureller Öde geistig verkümmern würden. Und wir haben Gelegenheit zur Selbsterkenntnis durch die Begegnung mit dem vermeintlich Fremden.