Lebensfragen
„Wenn dein Kind dich morgen fragt…” Was geben wir unseren Kindern auf ihren Lebensweg mit? Was antworten wir ihnen auf ihre Lebensfragen, auf ihre Kindersorgen und Lebensängste? Wie geben wir ihnen unsere ganz persönlichen Lebenserfahrungen weiter und besonders unseren Glauben, unsere Religion und Kultur, so dass sie damit gestärkt und mutig in ihre Zukunft gehen können? Werden wir unseren Kindern eine Hilfe, eine Lebenshilfe sein, damit sie das Leben finden? Rüdiger Schaller
“Wenn dein Kind dich morgen fragt…”, das muss natürlich nicht immer das eigene Kind sein. Die Frage kann auch aufrufen, über unser eigenes Leben nachzudenken. Wonach streben wir? Was trägt uns?
Zunächst ein Blick auf die Verlockungen der Werbung – ewig jung bleiben, vital, fit; es werden Antifaltencremes und vieles mehr angeboten. Bald soll es Hormone geben, die eine Verzögerung des Alterns bewirken. Fitnessstudios werben mit Slogans wie “Bleiben sie jung und dynamisch”.
Es ist wichtig auf die Gesundheit zu achten. Aber der extreme Verjüngungswahn führt dazu, dass viele das eigene Alter nicht mehr akzeptieren. Es scheint, als würden die positiven Seiten des “Älterwerdens” vergessen: Mit jedem neuen Lebensjahr gewinnen wir neue Erfahrungen. Einige ältere Menschen sagen von sich, dass sie mit dem Alter ruhiger und gelassener geworden sind. Doch bei alledem: Wirkliches ewiges Leben, nicht sterben müssen, können wir uns nicht erarbeiten. Zu unserem Leben gehört auch das Sterben. Auch wenn wir das verdrängen. Nicht älter werden wollen, ein verständlicher Wunsch. Doch wenn dich dein Kind morgen fragt, ob das durchs Leben trägt, ist das nicht unbedingt eine befriedigende Antwort.
Ein Schritt weiter auf die Suche, nach dem, was im Leben tragen kann. Über die Zeiten kamen schon etliche selbsternannte gottgleiche Führer. Und es kommen auch heute immer wieder solche Verführer. Das führt zur Frage: Gibt es in unserem Leben Menschen, an denen wir uns orientieren? Denen wir nachstreben und nacheifern? Idole könnte man es auch nennen. Viele Jugendliche eifern Popstars oder Filmstars nach. Haben Sie als Vorbild. Ihre Liedertexte können für sie passende Lebensweisheiten enthalten. Auch erfolgreiche Menschen können zum Vorbild für andere werden. So müsste man sein, so viel Geld müsste man haben, dann wäre alles einfacher. Mit Geld ist wirklich oft vieles einfacher. Vorbilder können auch starke Menschen wie Dietrich Bonhoeffer oder Mutter Theresa sein. In vielen Lebenssituationen kann es hilfreich und fruchtbar sein, sich an anderen Menschen zu orientieren. Aber alle diese Vorbilder sind auch nur Menschen, die ihre Schwächen, Fehler und Probleme haben. Und nicht zu vergessen, die ihr ganz eigenes Leben hatten. So wie jeder von uns hier sein eigenes, einzigartiges Leben führt.
Wenn dein Kind dich morgen fragt, was trägt dich, was ermöglicht dir gelingendes Leben? Dann kann man zwar auf Vorbilder verweisen, doch einen letzten Halt können auch sie nicht geben.
Ein letzter Hinweis, mit Blick in die Welt. Ganz ehrlich: Wir streben danach, von anderen Menschen anerkannt zu sein, geliebt zu sein, verehrt zu werden. Tief menschlich ist dieser Wunsch. Es tut gut die Anerkennung von anderen Menschen auf Augenhöhe zu erhalten, das brauchen wir zum Leben. Und doch bekommen wir es nicht immer in dem Maß, wie wir es uns wünschten. Immer darum kämpfen – bewusst und oft unbewusst – von anderen anerkannt zu werden, kann sehr anstrengend sein. Und bewusst von anderen abgelehnt werden, ist sehr verletzend. Ich denke z.B. an Mobbing, dort wird einem eben gerade keine Ehre von Menschen zuteil. Oft genug wird unser Streben nach Anerkennung, nach Ehre, auf bewusster oder unbewusster Ebene ausgenutzt: Führungskräfte verteilen vergiftetes Lob oder verurteilen vorab, ohne Fakten zu kennen. Ähnliches durchzieht auch das Privatleben.
Wenn mein Kind mich morgen fragt, wonach lebst und handelst du, möchte ich ihm nicht antworten, ich strebe als erstes nach der Ehre anderer Menschen.
Doch, was möchte ich meinem Kind antworten? Was ist das Entscheidende, das einen Menschen im Leben tragen kann und Halt geben kann?
Zunächst müssen wir uns es wieder bewusst machen: Unser Leben ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk. Auch nach der Geburt müssen wir uns nicht selbst ernähren, wir werden gestillt. Ein wunderschönes Erleben zu Beginn des Lebens. Alles Lebensnotwendige empfängt das Baby. Wer so sein Kind, gerade geboren aus dem unsagbar Schönen, in den Armen hält, voller Liebe und Achtsamkeit, der würde – wenn nötig – sein eigenes Leben opfern. Das ist Liebe und Leben aus Gnade. Wir sind beschenkt und vertrauensvoll geborgen.
Doch im Laufe unserer Zivilisation haben wir uns von unseren Wurzeln immer weiter entfernt; oft durch Verletzungen, harte Worte, Ablehnung, Missachtung und so vieles mehr. Schutzschichten zum Leben, oft eher zum Überleben, wurden um unseren inneren Wesenskern gelegt. Doch die tiefste Sehnsucht ist noch immer da – nur wird sie über die so vielen Ablenkungen, die die Welt bietet, nicht wirklich gelebt. Ablenkungen vom Wesentlichen, vergebliche Suche im Außen – letztendlich gibt es dort keinen Halt, keine wirkliche Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht. Der Sehnsucht nach Hingabe an etwas Größeres als ich es bin. Keine Trennung mehr, kein Alleinsein mit meinen Ängsten. Vertrauensvolle Hingabe an das was mir jetzt, in diesem Moment, als Aufgabe im Leben zufällt. Dabei spüren, dass ich eingebunden bin in das unermesslich große Ganze. Ein kleiner, doch unendlich wertvoller Teil.
Bei dieser Art von Hingabe geht es nicht um mich. Es geht nicht um mein Ego, das sich zwar in narzisstischen Höhenflügen verlieren kann. Aber am Ende des Lebens, spätestens dann, erkennen muss, dass ich nichts wirklich in meinem Leben im Griff habe. Wir sind begrenzte Wesen. Begrenzt im Verstand. Wissen wird zwar angehäuft, doch das nicht sagbar, das Numinose, das können wir niemals mit dem Verstand erfassen.
Und nun, was folgt aus dieser Erkenntnis? Entweder noch heftigere Fluchtbewegungen zur Abwehr. Doch diese bleiben vergebens. So kann aber jeder Mensch zu seiner Zeit, sich auf eine Entdeckungsreise begeben. Mit Hilfe anderer Menschen. Die Gefahr ist ansonsten zu groß, sich wieder im Verstand zu verlieren. Es gibt keinen Königsweg, der alleine selig macht und ohne Herausforderungen zum Ziel führt.
Ganz persönlich bin ich nach Jahren der Suche – mehr am Ende – habe ich meinen Weg gefunden. Folgend Impulse, zum Nachdenken.
Ich glaube, unsere tiefste Sehnsucht hat ihren Ursprung in Gott. Menschen können das niemals ganz erfüllen, wir müssen mit dieser Ebene, dem tiefsten Punkt in unserem Herzen, wieder in Kontakt kommen. So erhält unsere Suche eine ganz andere Richtung. Richtung Heimat. Wir bleiben zwar immer weiter auf der Suche, aber wir kennen nun das Ziel: Die Liebe Gottes entdecken und annehmen. Dann ist es auch nicht mehr wichtig Ehre von anderen Menschen zu suchen. Ich muss nicht durch andere legitimiert werden. Ich bin wertvoll und werde geliebt. Das ist unglaublich entlastend. Angelehnt an ein Zitat von Mahatma Gandhi: „Wer sich Gott anheimgibt, hört auf, sich vor Menschen zu fürchten.“
Doch wie komme ich dort hin, zu dem tiefsten Punkt meines Wesens? Zunächst ist rein der Verstand herausgefordert: Eine bewusste Entscheidung, nun dem eigenen Leben eine andere Richtung zu geben als bisher. Doch unser Verstand ist eingeengt vor allem durch eine Zentrierung auf das Ego – ich will erkennen. Während unserer Individuation wurden innerlich Mauern aufgebaut, die uns abgrenzen von anderen Menschen. Oft machen diese Abgrenzungen uns sehr einsam im Leben. So bleiben wir oft in uns nicht bewussten Ängsten gefangen und laufen in einem Hamsterrad durch unsere Leben. Bis zum Zusammenbruch; im aufrechthalten der Schutzmauern gebundene Lebensenergie. Die sich im Grunde doch so sehr nach Hingabe sehnt.
Und gerade Gott ist unserem Verstand nicht verfügbar; ein rein gedachter Gott führt auf Irrwege, manche mit fatalen Folgen bis hin zu Glaubenskriegen. So zielt die Suche nach Gotteserfahrungen nach Erfahrungen im Herzen. „Es ist aber das Herz, das Gott spürt, und nicht die Vernunft. Das aber ist der Glaube: Gott im Herzen spüren und nicht in der Vernunft.“, so beschrieb es Blaise Pascal.
Gott sagt „Du bist mein und Dein Name steht im Himmel geschrieben“. Dann, wenn dieses „Du bist mein“ in seine Zeit durch die vielen Schichten unseres Bewusstseins bis zu unserem Herz gedrungen ist, dann wird Glaube zum Erfahrungswissen. Das sich trotz mancher Fragen und Zweifel weiter und weiter ausdehnen kann, bis unser ganzes Wesen von dieser unfassbaren Liebe durchdrungen ist. Auch wenn dies manchmal ein sehr langer Weg ist – es lohnt sich, ihn zu gehen.
Und wenn dein Kind dich morgen fragt: Wonach handelst du, was bestimmt dein Leben, woher bekommst du Kraft? Dann kann eine Antwort heißen: Aus der Liebe Gottes heraus lebe und handle ich. Diese Antwort ist geboren aus einem tiefen Entschluss. Bewusst getroffen. Und führt auch weiter, in den Alltag, ins Handeln: Aus Liebe heraus handeln. Nein, nicht der Eros oder die Freundesliebe sind gemeint. Es ist die Qualität der Agape gemeint, die göttliche Liebe. Die immer aus einer bewussten Entscheidung heraus gelebt wird.
Liebe ist bei uns in der Gesellschaft ganz oft ein Gefühl. Aber Agape bedeutet im Gegensatz dazu, dass wir uns ganz bewusst entscheiden. Ich entscheide mich, Dich zu lieben, auch wenn ich im Moment darauf vielleicht dazu keine Lust habe.
Ein Beispiel: Corrie ten Boom, war eine niederländische Judenretterin aus christlicher Überzeugung, die während der nationalsozialistischen deutschen Besetzung der Niederlande eine Untergrundorganisation gründete, mit der zahlreiche Juden vor dem Holocaust gerettet wurden. Sie wurde verpfiffen und musste mit ihrem Vater und ihrer Schwester ins KZ. Sowohl ihr Vater als auch ihre Schwester haben das nicht überlebt. Sie war eine fromme, gläubige Frau. Ihr Herzensanliegen war es nach dem Krieg, nicht diesen Hass auf die Deutschen zu schüren, der so naheliegend gewesen wäre. Was habt ihr mir angetan? Mein Vater ist tot, meine Schwester ist tot, ich habe unter übelsten Bedingungen im KZ gehaust. Doch sie hat es sich aus ihrem Glauben heraus zum Auftrag gemacht: Versöhnung aus ihrem Glauben heraus, Versöhnung zwischen den Völkern. Ende der 40ziger Jahre war sie in München auf einer Konferenz. Nach der Konferenz stand plötzlich ein Mann vor ihr, mit ausgestreckter Hand und fragte sie: „Kennen sie mich noch? Ich bin zum Glauben an Jesus gekommen. Vergeben sie mir?“ Und er strahlte über das ganze Gesicht und streckte ihr nochmals die Hand entgegen. Der Mann war einer ihrer Aufseher im KZ. Und sie hat gestockt. Eben auf der Bühne hatte sie noch gesagt, alle müssen sich vergeben in Liebe. Und es hat sich in dem Moment für sie nicht angefühlt: „Hurra, dass da der Mann ist“ und „toll, dass ich ihn nun in den Arm nehmen kann“. Doch dann hat sie eine Entscheidung getroffen: ´Ich entscheide mich, diesen Menschen zu lieben.´ Dann hat sie ihn in den Arm genommen und dann flossen ihr die Tränen. Sie sagte später: „In diesem Moment konnte ich echte Liebe für diesen Menschen empfinden.“
Das Gefühl kam nach der Entscheidung. Das Gefühl war nicht zuerst da, und dann hat sie sich entschieden. Nein, das Gefühl kam nach der Entscheidung. Das ist der Unterschied zwischen Eros – ich fühle mich hingezogen – zu Agape. Wenn alle das machen würden, dann würde es der Welt etwas besser gehen. Ja, das stimmt: Liebe nicht nur von Emotionen und von Gefühlen getrieben, sondern Liebe aus guten Entscheidungen – dann wird die Welt etwas besser sein.
„Alles was ihr tut, geschehe in Liebe“, das ist eine ganz hoffnungsvolle Botschaft, auch wenn sie anspruchsvoll ist – wir müssen alles in Liebe machen, verbunden mit einer Ermunterung, das täglich zu üben. Und dabei merken, dass es mich und die Welt um mich herum verändert. Vielleicht zunächst nur in kleinen Schritten. Doch etwas Besseres kann eigentlich gar nicht passieren. Alles was ihr tut, geschehe in Liebe.
Und wenn mein Kind mich morgen fragt: Wonach handelst du, was bestimmt dein Leben, woher bekommst du Kraft? Dann heißt meine Antwort: Aus der Liebe Gottes heraus lebe und handle ich. Und das begeistert mich zutiefst.
Rüdiger Schaller, 22.01.2024
Autor des Buches „In die Stille“
P.S.
Hier noch weitere, ganz persönliche Informationen, wie im Laufe des Blogeintrages versprochen.
Schon vor vielen Jahren Zusammenbruch mit einem Überlastungssyndrom. Quasi der Anstoß, mich auf die Suche nach etwas zu begeben, dass mich durch die Zeiten trägt. Ein paar Erinnerungssplitter: Selbsterfahrungsgruppen bei Schülern von Osho, Schreibtraining ebenfalls. Reiki-Ausbildung, alternative Zeitungen gelesen und Bücher studiert. Parallel dazu aber zumindest in mehr oder weniger losem Kontakt mit meiner Kirchengemeinde vor Ort. Irgendwann, nach einem heftigen Autounfall besuchte ich einen Glaubenskurs. Erste vertiefte Annäherung an Gott; v.a. das Vater-Gottesbild und das eigene internalisierte Vaterbild bei mir wurde kräftig hinterfragt und einiges zurechtgerückt. Über die Jahre viel Vertiefung und viele Fragen. Vor kurzem auch das Waldbaden in einer Reha entdeckt – Kraftquelle, Verbindung mit dem großen Ganzen auf einer ganz anderen und sinnlichen Ebene. Ebenso schöpfe ich aus dem Glauben immer wieder Kraft; gerade über die aktuelle Jahreslosung „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ (1. Korinther 16,14) ist so eine Quelle der Freude; einiges davon ist ja auch weiter oben im Text schon angeklungen.
Alles untermalt und durchwoben von einem alten portugiesischen Sprichwort: „Gott schreibt auch krumme Linien gerade.“