Lebenshelfer und Sinnstifter in Zeiten von Corona & Hölderlin

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik, Spiritualität

„Wenn es den Leuten schlecht geht, geht es dem Pfarrer gut“ – in einem seltenen Moment der Aufrichtigkeit entfuhr einem evangelischen Pfarrer wenige Stunden nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin 2017 dieses denkwürdige Bekenntnis. Und er hat ja recht. Bis jetzt, drei Jahre nach dem Anschlag, ist er als professioneller Betroffenheitsdarsteller ein gerne gesehener TV Gast. Und mit jedem neuen Desaster wird die Schar der Mutmacher größer. Sie nennen sich „Sinnstifter“, „Berufungsberater“, „Lebensversteher“, „Zukunftsspeaker“, heißen Horx oder Quarch (beide Namen könnten erfunden sein, sind es aber nicht) und spenden gegen Bezahlung Hilfe jeder Art en gros und en Detail. Jetzt im Zeichen von Corona blüht das Gewerbe förmlich auf. Jürgen Wertheimer

Mit ihrem optimistisch gedrehten Shake aus Schaum und Phüllosophe mit einem Schuss Religiönchen. Jetzt sind sie grade dabei, Corona auszuschlachten – Hölderlins Jubiläumskadaver liegt noch am Weg, Hölderlin war gestern, die Karawane der kulturellen Reibachmacher aber schreitet voran, und spekuliert bereits jetzt auf die Zukunft. Noch während die Zahlen der Infizierten und Sterbenden exponentiell nach oben steigen, Pflegekräfte erschöpft kollabieren, Frauen an den Supermarktkassen im wahrsten Sinne ihre Haut zu Markte tragen, prognostizieren dies frivolen „Zukunftserforscher“ uns ein postcoronales Paradies. Was für eine schöne, neue Welt uns da in Haus steht – falls wir diese kleine Krise überleben sollten. Sie malen uns eine gereinigte solidarische, aufs Wesentliche konzentrierte, bescheiden gewordene Welt, die geläutert voranschreitet. Ein neuer Mensch, der alle Gier, alles Häßliche, Alte, Kranke, Unvollkommene überwunden hat

Vor 250 Jahren hat sich Voltaire in seiner ätzenderen Satire über die Theodizeephilosophen lustig gemacht, die gemäß ihrer „was-immer-ist-ist-gut“-Maxime über Leichen gingen und sich und ihren Zeitgenossen alles Grauenhafte der Welt schönredeten. Jetzt möchte einem die Galle überlaufen, wenn man ungleich weniger kluge und reflektierte, jedoch sehr viel geschmeidiger daherkommende Epigonen mit den Rezepten, die seinerzeit schon daneben waren, rattenfängerisch auftreten und Firmen und Konzerne, Hilfesuchende und Irritierte mit süßlichen Sinnverheissungen abspeisen sieht.

Privatsache, wird man sagen, und: Was geht Dich das an? Sehr viel. Außer man wollte sich daran gewöhnen, diesem Selbstsomatierungsprozess einer ganzen Gesellschaft kritiklos zuzusehen. Manchmal frage ich mich, ob diese Horden mentaler Tranquilizer nicht doch im Dienste einer geheimen staatlichen Organisation handeln. Mit dem Auftrag, die genervte, überforderte bereite Gesellschaft ruhigzustellen und zu sedieren. Was die Politiker durch ihre monotonisierenden Reden allein nicht mehr schaffen, müssen nun die Coaches und Speaker, Halbempfinder und Vordenker auf Sparflamme leisten. Mentales Somatisierungs–Ergänzungs-Nährmittel. Wie sollen alle bereits zu Lebzeiten so werden wie Senioren in einem der besseren Satt-und Sauber Pflegeheime. Was früher die Kirchen mit einem gewaltigen Inventar an Verängstigungsgeschossen kaum erreichten, schaffen nun vielleicht die Verdummungsschwätzer von der Sinnstiftungsheilfront im sachte, zugewandt-säuselnden Parlando-Ton.

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  • Piranha
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    Wir sollen alle bereits zu Lebzeiten so werden wie Senioren in einem der besseren Satt-und Sauber Pflegeheime. Was früher die Kirchen mit einem gewaltigen Inventar an Verängstigungsgeschossen kaum erreichten, schaffen nun vielleicht die Verdummungsschwätzer von der Sinnstiftungsheilfront im sachte, zugewandt-säuselnden Parlando-Ton.

    Wortgewandt und so wahr.

    Wäre es weniger zynisch, was diese Heilsversprecher von sich geben, ich müsste lachen.

  • ert_ertrus
    Antworten

    Matthias Horx ist mir schon vor Jahrzehnten als systemkompatibler Dummschwätzer aufgefallen (da schrieb er u. A. noch für die taz). Zu Futurologen besser kein Kommentar, sonst werde ich hier gesperrt ;(

  • Gerold Flock
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    Also ich Heute aufgewacht bin…Zu dieser ungewöhnlichen Zeit für einen Taxi-Nachtschichtler war mir ganz übel…Rückenschmerzen auch noch…Mein Brustkorb hob und senkte sich auch etwas stärker als sonst. – Ich dachte schon jetzt muß ich das Seuchenüberwachungsamt anrufen. – Manno!

    Dann hab ich erstmal einen Kaffee und einen Tee getrunken. – Jetzt sind die schlimmen Symptome, die ich da bei der Webseite von T-Online auswendig gelernt habe wieder weg. – Ich bin etwas autistisch. – Deswegen kann ich gleich immer alles auswendig. – Mein Körper dann anscheinend auch.

    Ja. Dann hab ich bei der Firma angerufen. – Die Dame an der Rezeption hat mir mitgeteilt, daß ich mich gar nicht arbeitslos melden darf und so…

    Dann habe ich dem Jobcenter eine Email gesendet, daß meine Firma befohlen hat, daß ich mich gar nicht arbeitslos melden darf…Obwohl ich ja die Corona-Symptome ja schon auswendg gelernt hab und so.

    Jetzt ist wieder alles Durcheinander in ganz DEUTSCHLAND. – Weil ich gestern über 100 Emails gesendet habe. – An alle Anarchos auf der Welt und andere subversive Organisationen. – Das es jetzt bald abgeht und so…Und wo ich mich denn MELDEN soll? – Oder ANSTELLEN soll? – Wenn die Revolution losgeht und so…

    Ja. Und jetzt gehe ich dann mit diesen auswendig gelernten Symptomen in den ALDI am Schwaigbach. Oder in den Edeka in Benediktbeuern? – Oder in den NETTO in Bichl?

    Da muß einem ja übel werden. – Wenn mensch den ganzen Tag…Wie GESTERN – ZUHAUSE rumhockt und Horror-Groschenromane liest.

    Vielleicht treffen Wir uns mal ALLE an einem geheimen Ort?

    Was geht ab? – Die Corona-Virus-Pandemie und die “Tyrannei des Wachstums” bzw. “Die Diktatur des Profits!”

    https://anarchypeaceangel.jimdofree.com/lesestoff-startseite/152-was-geht-ab/

     

     

     

  • Volker
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    Bei hr1 ist Corona bereits zu einer Spaßaktion verkommen, gemischt mit gute-Laune-Musik und wir-sagen-alle-mal-danke-Hype. Mein Eindruck jedenfalles. Vor ein paar Monaten wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, sich bei Menschen zu bedanken, die täglich ihr Bestes geben und dafür mit einem kümmerlichen Lohn dazu noch abgewertet werden. Oder bestraft, mit aufstockenden Hartz IV-Almosen sowie zukünftiger Altersarmut.
    Danke für den sozialen Kahlschlag und der Privatisierung von Menschen. Darauf muß man erst einmal kommen, Deutschland als Billiglohn-Oase zu feiern, die Wirtschaft mit Sklaven zu versorgen. Reichtum kennt keine Solidarität, denkt eher darüber nach, wie sich hinderliches Grobzeug dezimieren lässt, mit oder ohne Pandemie.
    Und weil die Kacke so richtig dampft, stinkefingern Nachwuchspolitiker aus CDU/CSU, die Elite von morgen, gegen Kinderlose, die gefälligst mehr Rentenbeiträge abdrücken sollten, egal wie, wahrscheinlich über mehrere Billigjobs finanziert. Die haben wohl gerade nichts anderes zu tun, als kräftig nach unten zu treten, mit gewissem Abstand zur Realität und solidarischen Grüßen.
    • Piranha
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      Keine Spaßaktion hat sich heute im faschistischen Orban-Parlament abgespielt.

      Notstandsgesetz  – da kommen doch böse Erinnerungen hoch, nicht wahr?

      Wieso geht da nicht quer durch die EU ein Aufschrei?

      Irgendein Demokrat sollte doch auf die Idee kommen, per Antrag und Abstimmung Ungarn aus der EU zu werfen.

       

       

      • jossel
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        haben alle schuf, dass er Migranten durchwinkt in Richtung BRD

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