Legitime Kritik ist kein Antisemitismus
Brief von jüdischen Gelehrten an Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Hilft es Juden in Deutschland und der Aufarbeitung des Holocaust, wenn der Antisemitismusvorwurf möglichst breit gestreut wird? Felix Klein hat in eher vager Weise gegen „Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu“ Stellung genommen. Eine Reihe jüdischer Akademiker sieht darin den illegitimen Versuch, berechtigte Kritik an der Person Kleins abzuwehren. Dies beeinträchtige die Redefreiheit in einer Demokratie, verharmlose die rechte Gefahr und schade insgesamt eher dem Kampf gegen wirklichen Antisemitismus. Hier der offene Brief im Wortlaut.
Dr. Felix Klein
Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
Alt-Moabit 14010557 Berlin
Zur Kenntnis:
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Horst Seehofer, Bundesminister des Innern
Dr. Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie
Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen
Betreff: Ihre Äußerungen bezüglich „Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu“, 10. Juli 2020
Sehr geehrter Herr Klein,
Wir sind jüdische Gelehrte und Künstler aus Israel und anderen Ländern, von denen viele auf Antisemitismus- und Holocaustforschung, Israel- oder Jüdische Studien spezialisiert sind. Am 30. April haben wir in einem Schreiben an Bundesinnenminister Horst Seehofer Ihre Ablösung als Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus gefordert. Wir taten dies nach Ihrem schändlichen Angriff auf Prof. Achille Mbembe, einen der bedeutendsten Intellektuellen Afrikas und weltweit.
Jetzt sind uns Äußerungen zur Kenntnis gekommen, die Sie in einer Rede am 30. Juni getätigt haben. In Anwesenheit von Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey sagten Sie: „Wir alle wissen, vielleicht, meine Damen und Herren, dass gerade der Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu auch mir persönlich in den letzten Wochen das Leben durchaus etwas schwerer gemacht hat. Aber auch wenn rechte Erzählungen zurzeit höheres Gewaltpotential haben, dürfen wir diesen Bereich nicht unterschätzen.“
Diese Aussage lehnen wir entschieden ab. Sie werden nicht von „linksliberalen Antisemiten“ schikaniert, sondern Juden und Nichtjuden protestieren gegen die Art und Weise, in der Sie den Kampf gegen Antisemitismus missbräuchlich einsetzen („weaponizing“) – auf Kosten der Redefreiheit und grundlegender Bürgerrechte und im Endeffekt auch der Bekämpfung von Antisemitismus selbst. Sie für Äußerungen und Handlungen in Ihrer offiziellen Funktion zur Rechenschaft zu ziehen, Herr Klein, ist kein Antisemitismus. Das ist das Wesen der Demokratie. Ihre oben zitierte Äußerung ist zutiefst beleidigend.
Sie haben uns und viele andere, die Sie in legitimer Weise kritisieren, im Grunde als Antisemiten bezeichnet. Dafür verlangen wir eine Entschuldigung. Es zeugt außerdem von Ihrem verzerrten Verständnis für die akute Gefahr, der Juden in Deutschland aufgrund der Zunahme des rechtsextremen Antisemitismus ausgesetzt sind. Ohne zu Zögern vergleichen Sie „linksliberale“ Kritik mit rechter Gewalt und bestehen darauf, dass Ersteres nicht zu unterschätzen sei. Dabei nehmen wir eine Methode wahr, die Sie schon früher angewandt haben: die Stigmatisierung und Beschuldigung von Kritikern mit undefinierten und unbegründeten Behauptungen. Anstatt Ihre Vorwürfe mit konkreten und glaubwürdigen Informationen über den Vorsatz und das Verhalten bestimmter Personen zu untermauern, begnügen Sie sich mit Verallgemeinerungen wie „dem Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu“.
Davon abgesehen, dass wir uns von Ihnen verdächtigt fühlen – auf wen zeigen Sie eigentlich? Mit welchen Belegen? Wir halten solche Rückgriffe auf vage, aber hochgiftige Unterstellungen an sich schon für problematisch und schädlich, vor allem aber dann, wenn sie von einem von der deutschen Regierung zur Bekämpfung des Antisemitismus ernannten hohen Beamten benutzt und verstärkt werden.
In einem kürzlich erschienenen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb der Journalist und Jurist Stephan Detjen: „Einschränkungen der Meinungsfreiheit, wie sie mit dem Vorwurf der BDS-Nähe begründet werden, bedürfen einer klaren Rechtsgrundlage und unterliegen einem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Prüfungsschema.“ Sie waren und sind eine treibende Kraft hinter Versuchen die Meinungsfreiheit zu untergraben, indem die BDS-Bewegung, die in Deutschland nur einen winzigen Fußabdruck hat, kategorisch als antisemitisch eingestuft und disqualifiziert wird.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat jedoch in seinem Urteil vom 11. Juni bestätigt und klargestellt, dass Aktivismus im Kontext von BDS durch die Meinungsfreiheit geschützt ist. Wie wir schon früher betont haben, gehen unsere Ansichten über BDS auseinander. Wir alle hatten aber gehofft, dass dieses Urteil Sie motivieren würde, Ihre Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen Gefahren des Antisemitismus in Deutschland zu verlagern. So wie wir gehofft hatten, dass die erhebliche Kritik, die nach Ihrem Angriff auf Prof. Mbembe an Ihnen geübt wurde, Sie dazu veranlassen würde, keine haltlosen und unbestimmten Anschuldigungen mehr zu erheben.
Ihre jüngste Äußerung zum „Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu“ macht jedoch deutlich, dass unsere Hoffnung unbegründet war. Sie legen einen Mangel an Bewusstsein und Respekt für demokratische Werte an den Tag. Sie vermögen nicht, zwischen legitimer Kritik und echtem Antisemitismus zu unterscheiden. Während sich die israelische Regierung auf die offizielle Annexion von Teilen des Westjordanlandes zubewegt und der Bedarf an lauter internationaler Kritik und Opposition nur zunimmt, schrecken Sie die öffentliche und politische Debatte in Deutschland und darüber hinaus immer wieder ab.
Stephan Detjen betont in seinem vorgenannten Artikel, dass der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen den Antisemitismus „ein scharfes Schwert“ trägt – aus gutem Grund. Wieder einmal haben Sie gezeigt, dass Sie nicht wissen, wie Sie mit diesem Schwert umgehen sollten. Wir fordern Sie zum Rücktritt auf.
Prof. Gadi Algazi, Department of History, Tel Aviv University; Associate Fellow at Re: Work: International Research Center Work and Human Lifecycle in Global History at Humboldt University, Berlin
Dr. Seth Anziska, Department of Hebrew and Jewish Studies, University College LondonProf. Louise Bethlehem, Department of English and the Program in Cultural Studies, The Hebrew University of Jerusalem; recipient European Research Council Consolidators Grant
Prof. Daniel Boyarin, Taubman Professor of Talmudic Culture, University of California, Berkeley; Fellow American Academy of Arts and Sciences; Von Humboldt Senior LaureateProf. (emerita)
Jane Caplan, Professor of Modern European History, University of Oxford; Emeritus Fellow, St Antony’s College, Oxford
Dr. Raya Cohen, formerly Department of Jewish History, Tel Aviv University; formerly Department of Sociology, University of Naples Federico II
Prof. Jean Comaroff, Alfred North Whitehead Professor of African and African American Studies and of Anthropology; Oppenheimer Research Fellowin African Studies, Harvard University
Prof. John Comaroff, Hugh K. Foster Professor of African and African American Studies and of Anthropology; Oppenheimer Research Fellow in African Studies, Harvard University
Prof. Alon Confino, Pen Tishkach Chair of Holocaust Studies, Departments of History and of Jewish and Near Eastern Studies, University of Massachusetts, Amherst; recipient of the Humboldt-Stiftung and of the Guggenheim Fellowships
Prof. (emerita) Sidra DeKoven Ezrahi, Department of General and Comparative Literature, The Hebrew University of Jerusalem; recipient of Guggenheim Fellowship
Prof. (emeritus) Gideon Freudenthal, The Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas, Tel Aviv University
Dr. Katharina Galor, Hirschfeld Visiting Associate Professor, Program in Judaic Studies, Brown University
Prof. Amos Goldberg, Department of Jewish History and Contemporary Jewry, The Hebrew University of Jerusalem
Prof. Neve Gordon, School of Law, Marie Curie Fellow, Queen Mary University of London
Dr. Ilana Hammerman, Writer, recipient of the Yeshayahu Leibowitz Prize
Prof. David Harel, Department of Computer Science and Applied Mathematics, The Weizmann Institute of Science; recipient of the Israel Prize and of the EMET Prize
Dani Karavan, Sculptor, projects include the Memorial to the Sinti and Roma victims of National Socialism in Berlin, the Regensburg Synagogue Memorial and the Way of Human Rights in Nuremberg; recipient of the Israel Prize
Miki Kratsman, Photographer; former head of the Photography Department at Bezalel Academy of Arts and Design; recipient of the EMET Prize
Alex Levac, Photographer, recipient of the Israel Prize
Prof. (emeritus) Yehuda Judd Ne’eman, Tel Aviv University, recipient of the Israel Prize, Dr.(emeritus)
Mark Levene, Department of History, University of Southampton UK; Parkes Centre for Jewish/non-Jewish Relations; recipient of the Lemkin Prize of the Institute for the Study of Genocide
Prof. Neil Levi, English Department (chair), Drew University
Dr. Anat Matar, Department of Philosophy, Tel Aviv University
Prof. (emeritus) Paul Mendes-Flohr, Dorothy Grant Maclear Professor Emeritus of Modern Jewish History and Thought and Associate Faculty in the Department of History, The University of Chicago Divinity School; Professor Emeritus of Jewish Thought, The Hebrew University of Jerusalem
Prof. Isaac Nevo, Department of Philosophy, Ben-Gurion University of the Negev
Prof. (emeritus) Adi Ophir, The Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas, Tel Aviv University; Visiting Professor of the Humanities, The Cogut Institute for the Humanities and the Center for Middle East Studies, Brown University
Prof. Nurit Peled-Elhanan, School of Education, The Hebrew University of Jerusalem; The David Yellin Academic College of Education; co-recipient of the Sakharov Prize
Prof. (emerita) Shlomith Rimmon-Kenan, Departments of English Literature and Comparative Literature,The Hebrew University of Jerusalem; member of the Israel Academy of Sciences and Humanities
Prof. Ishay Rosen-Zvi, Head of the Talmud and Late Antiquity section, The Department of Jewish Philosophy and Talmud, Tel Aviv University
Prof. Michael Rothberg, 1939 Society Samuel Goetz Chair in Holocaust Studies, Department of Comparative Literature, University of California
Prof. Catherine Rottenberg, Department of American and Canadian Studies, University of Nottingham
Prof. David Shulman, Department of Asian Studies, The Hebrew University of Jerusalem, member of the Israel Academy of Sciences and Humanities, recipient of the Israel Prize and of the EMET Prize
Prof. Barry Trachtenberg, Michael R. and Deborah K. Rubin Presidential Chair of Jewish History, Department of History, Wake Forest University
Prof. (emeritus)Moshe Zuckermann, The Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas, Tel Aviv University
Das Studium der Rechtswissenschaften hat Herr Klein wohl völlig umsonst absolviert.
*Nach der Einladung des Historikers und Politikwissenschaftlers Achille Mbembes als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale 2020 und dem Vorwurf antisemitischer Äußerungen gegen diesen durch Klein kam es zu einer Kontroverse.[5] Am 30. April erklärten 37 jüdische israelkritische Wissenschaftler und Künstler ihre Solidarität mit Mbembe und forderten die Abberufung von Klein aus seinem Amt.[6][7] Am 1. Mai starteten Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, die auf den Gebieten Geschichte des Antisemitismus und Nationalsozialismus, des Kolonialismus und Rassismus in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sowie in der Genozid-Forschung tätig sind, einen Aufruf mit dem Titel „Solidarität mit Achille Mbembe“, der Mbembes Kritikern – darunter Klein – eine Kampagne vorwirft, die ihn „ohne Beweise, unter Zuhilfenahme manipulativ verzerrter Zitate und Inhalte desavouieren“ solle.[8]
12 jüdische oder zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland reagierten umgehend auf die Kritik gegen den Bundesbeauftragten. In einem offenen Brief an Bundesinnenminister Horst Seehofer sprachen sich u. a. die Jüdische Gemeinde zu Berlin, der jüdische Sportverband Makkabi Deutschland und die Amadeu Antonio Stiftung für den Verbleib von Felix Klein als Beauftragten der Bundesregierung aus. Auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats wies die Vorwürfe gegen Felix Klein als „ungerechtfertigt und inakzeptabel“ zurück.[9]
700 afrikanische Intellektuelle verteidigten Mbembe gegen die Vorwürfe in einem Brief an Merkel und forderten ebenfalls die Entlassung von Klein*
Diese Unterwürfigkeit Deutscher Politik unter die Macht des ‚Zentralrats‘ ist eine Schande für die BRD mit deren besonderen Verantwortung für das Menschen- und Völkerrecht.