Liebendes Schweigen
Ein Schweige-Retreat in Kloster St. Ottilien (nahe dem Ammersee) integrierte auf gelungene Weise christliche Kontemplation, Zen und Yoga. Roland Rottenfußer und Monika Herz waren zusammen dort. Das Seminar zeigte, wie interreligiöse, mystische Spiritualität für „alle“ Menschen heute aussehen kann. Schweigen ist der Raum, in dem Menschen verschiedener Herkunft und Weltanschauungen zu sich heimkommen. Dieser Raum ist es auch, in dem sich Erfahrungen zeigen können, die vom lauten Alltag sonst meist zugedeckt werden. Man kann „Gott“ dazu sagen oder auch neutraler: „Frieden“ oder „Stille“. (Roland Rottenfußer)
„‘Stille Tage in St. Ottilien‘ – das war doch eine Folge von ‚Monaco Franze‘“, kicherte mein Schulfreund, als ich ihm von meinem Vorhaben berichtete, mit Monika, meiner Gattin, ein Schweige-Retreat im Kloster zu absolvieren. Die Folge hieß eigentlich „Stille Tage in Maria Stein“ und handelte von etwas unsäglich Langweiligem, Asketischem, ja Lebensfeindlichem, dem sich die Lebemänner Franze und Manni da unterwerfen mussten. Graues Gemäuer, karge Zellen und Hafersuppe. Kein gutes Omen eigentlich für unser geplantes Seminar.
Die Wahrheit ist: mehr Lebendigkeit ist nicht leicht an einem Ort. Man muss sich nur öffnen und „einschwingen“. St. Ottilien ist ein sehr aktives Kloster, malerisch nahe dem Ammersee gelegen, mit Kloster, Kirche, zwei Seminarhäusern, Buchladen, Café, Missonsmuseum und lohnenden Spazierwegen durch’s „Blaue Land“. An die 80 Benediktiner-Mönche leben dort, wie uns der freundliche Pförtner erklärt. Manche von ihnen sind als Missionare unterwegs in Afrika und in Hilfsprojekten auswärts engagiert. Er wünscht uns Gottes Segen für das anstehende Retreat. Andere Klöster wie Wessobrunn haben inzwischen zugemacht, mangels Nachwuchs. St. Ottilien aber vibriert – selbstverständlich auf meditative Weise.
Drei Religionen in einem
Unter der Leitung von Pater Augustinus Pham werden da knapp 3 Tage Seminar angeboten: „Dir im Schweigen begegnen. Christliche Meditation im Stil des Zen und Yoga.“ Geht das zusammen? Wenn Zen eine Richtung des Buddhismus ist und Yoga aus dem Hinduismus stammt, sind das zusammengenommen schon drei Religionen, die wir hier integrieren müssen. Tatsächlich aber zeigt sich, dass die Komponenten bestens harmonieren, dass jede der Religionen quasi jene Lücken ausfüllt, die die anderen hinterlassen. Doch davon später.
Pater Augustinus – hinter diesem würdevollen Namen vermutete ich einen älteren Herr mit Bart, ähnlich einem griechischen Popen. Tatsächlich handelte es sich um einen jüngeren, agilen Mann vietnamesischer Herkunft mit einem ansteckenden Lachen. Das Seminar beginnt Donnerstags mit dem Abendessen, und allzu Hungrige müssen sich gedulden bis nach dem Tischgebet. Noch herrscht Unsicherheit am langen Tisch, wo sich 22 Teilnehmerinnen und Teilnehmer versammelt haben. Noch versucht man seine Nervosität durch intensives Plaudern zu überspielen, als gelte es, vor den drohenden zwei Tagen absoluten Schweigens noch einmal auf Vorrat zu kommunizieren. Im großen Saal dann eine erste Vorschau auf das Programm. Jeder nimmt sich einen Spruch zum Thema „Schweigen“ als Motto mit. Meiner beginnt: „Richte deine Aufmerksamkeit auf diese Stille. Die Wahrnehmung der Stille lässt die Stille in dir erwachen“ und ist von Eckhart Tolle.
Das Zimmer ist karg, auf das Notwendigste beschränkt, nicht wesentlich anders als beim „Monaco Franze“. Etagendusche. An der Wand ein Bild der Jungfrau Maria von Raffael. Das strahlt Vertrautheit aus. Schon im Zimmer herrscht eine seltsame, sprechende Stille. Aufstehen muss man um 6 Uhr morgens. Das ist eine Tageszeit, die ich aus eigener Anschauung eigentlich gar nicht kenne, allenfalls vom Hörensagen oder aus Filmen. Ich bin freiberuflicher Journalist und kann mir meine Schlafenszeit selbst einteilen. Die Zeit zwischen Einschlafen und Weckerklingeln ist also kurz für mich.
Der Klang der Stille
Um 6.45 treffen wir uns auf unseren Yogamatten und hängen noch ziemlich durch. Augustinus geht mit einem Tablett voller kleiner chinesischer Schälchen mit Grünem Tee durch die Reihen. Das tut gut. Die Wärme an den Händen. Der feine Geschmack des Jasmin. Keiner spricht. Das ist noch fremdartig, denn das Zusammensein von Menschen ist – nicht immer zu meiner Freude – sonst automatisch mit Sprechen verbunden, als sei das Gegenteil, das Schweigen, unerträglich oder eine Form der Missachtung der Anderen. Jede Bewegung vollzieht sich im Schweigen langsamer und bewusster. Man muss ja nirgendwo schnell hin. Nichts ist gefordert als sich dem Seminarprogramm ganz anzuvertrauen.
Die Yoga-Lehrerin Dr. Iris Hafner leitet einige (anfangs noch) einfache Bewegungsübungen an, die wir schlaftrunken ausführen. Dann geht es drei Stockwerke hoch in den kleineren Mansarden-Meditationsraum. Der Frühling, der durch Fenster hereinkommt, ist noch kühl, aber er duftet schon, und wer genau hinschaut, kann an den Bäumen im verwunschenen Garten Knospen sehen, die wie eine Verheißung wirken. Besonders laut ist heute das entzückte Gezwitscher der Vögel. Sie scheinen ganz aufgebracht vor Lebensfreude und flattern vor den Fenstern hin und her. Klar, die ewige Geräuschkulisse unseres eigenen Geplappers fehlt. Das schärft die Sinne. „Wie all die Geräusche deutlicher und lauter scheinen, wenn erst die lauten Stimmen der Saison verklungen sind“, sang Reinhard Mey.
Pater Augustinus leitet sanfte körperliche Bewegungen an, die mit bestimmten Worten verbunden sind. Wir sagen z.B. „Ich sammle alles Gute dieser Welt und nehme es mir zu Herzen“ und führen dabei – die Luft gleichsam einsammelnd – die Händen zum Herzen. Eine Art körperlicher Meditation. Man hört deutlich, wie sich die Textilien aneinander reiben beim Erheben der Hände, die sich wie Blüten öffnen. Auch das Verrücken der Sitzbank wirkt laut und klingt lange nach. Eine einfache Bank, unter die ich die Füße schieben kann, eine Decke unter die Knie. Endlich ein Meditationssitz, bei dem mir nicht die Füße einschlafen. Normalerweise wird einem in Seminaren bedeutet, man müsse in einem langen dornenreichen Prozess den eigenen Körper an die Sitzgelegenheit anpassen, statt dass von vornherein eine körpergerechte Sitzgelegenheit angeboten wird.
„Du – in mir“ – eine bergende Präsenz
Pater Augustinus hat geraten, sich ein Mantra auszusuchen, das man während der Meditation im Gedanken rezitieren soll. Wenn die Gedanken wegdriften, kann man immer wieder zum Mantra zurückkehren. Die christliche Meditation oder Kontemplation kennt Worte und Sätze, die sich auf einen persönlichen Gott oder auf Jesus beziehen. Ich wiederhole „Du“ (Ausatmen) „in mir“ (Einatmen). Das ist allgemein genug, um nicht zu viele konventionelle religiöse Vorstellungen zu wecken, und es ist präzise genug, um sich nicht in einer „Leere“ zu verlieren. Mir ist das lieber. Ich hatte einmal ein längeres Zen-Schweige-Retreat ohne christliche Komponente absolviert. Es war eine gute Erfahrung, aber die betonte Nüchternheit des Zen, die „Gegenstandlosigkeit“ der Meditation dort ließen etwas in mir unerfüllt. Eine Komponente fehlte, die ich als Wärme, Herz, Liebe bezeichnen könnte. Anders ausgedrückt auch als Gott, als „Du“.
Du – in mir. Langsam drifte ich – übermüdet – in einen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen. Die „Präsenz im Augenblick“, die Zen fordert, kann ich noch nicht aufbringen, aber es ist unendlich erholsam, die Gedanken und Bilder vorbeitreiben zu lassen, sie nicht festzuhalten, keinen Gedanken quasi schärfer stellen zu müssen. Etwas hüllt mich mit einer geduldigen, wohlwollenden Wärme ein, in der ich ausruhen darf – ohne das Ende der Sitzung herbeizusehen oder es zu fürchten, ohne etwas Größeres, „Erleuchteteres“ erleben zu müssen als das, was ich gerade erlebe. Ich werde in diesem Bericht nicht von einem „Durchbruch“, von „Erleuchtung“ erzählen. Im Freundeskreis bin ich als chronisch unerleuchtet bekannt. Ich werde auch nicht erzählen, dass mich Gott berührt habe. Woher soll ich so genau wissen, was da präsent war? Wann genau wird man eigentlich von Gott nicht berührt? Vielleicht kommt es einem nur manchmal so vor, als ob er abwesend wäre.
Es ist aber etwas im Raum wie „Liebendes Schweigen – schweigende Liebe“ – eine Formulierung aus einem der schönen Zitate, die Pater Augustinus vor den Sitzungen vorgelesen hat. Unspektakulär, unpathetisch, aber warm, bergend, nährend, tröstlich. Etwas, das eigentlich immer da ist, wenn man es zu spüren weiß und die Wolken der „wichtigeren“ Verrichtungen und Gedanken wegzuschieben vermag. Etwas, in das man, wenn man es wünscht, auch wieder zurücktauchen kann – jedenfalls manchmal und unter günstigen Umständen. Hoffentlich von jetzt an immer öfter. Die Meditationssitzungen von 25 Minuten Länge werden durch Gehmeditationen (langsames, achtsames Gehen im Kreis) abgelöst. Das ist Usus im Zen und beugt körperlichen Versteifungen vor, ohne einen ganz aus der meditativen Stimmung zu reißen.
Den Körper aktivieren, um besser ruhen zu können
Yogaübungen gehen der Meditation stets voraus, was sich sehr segensreich auswirkt. Es ist für den westlichen Menschen erfahrungsgemäß schwierig, direkt vom Computerarbeitsplatz, von Autofahrten und Tischgesprächen aufs Meditationskissen zu wechseln, den Kopf voll von anstrengenden, zerstreuenden Gedanken. Der Körper ist dann noch unter Stress und „hungrig“ nach Bewegung, er möchte sich austoben, bevor er zur Ruhe kommen kann. In einem bewegungsgesättigten Körper strömen die Energien dagegen ruhig und wohltuend. Ein Körper, der sich ausagiert hat, möchte nicht mehr „anderswohin“, sondern genießt das, was ist, kann sich also der Meditation ganz hingeben.
Das Konzept ähnelt der „dynamischen Meditation“ nach Osho, nur dass das Tanzen und Schütteln dort so weit getrieben wird, dass einem bei der Sitzmeditation lästiger Schweiß in die Augen rinnt. Yoga unter der durchaus anspruchsvollen, aber einfühlsamen Anleitung von Iris hält dagegen die Waage zwischen Anstrengung und der optimalen Vorbereitung auf die kommende Ruhe. Diese Yogaübungen sind durchaus dynamisch und daher geeignet, einige der Kalorien abzubauen, die sich durch das gute Essen der Klosterküche notgedrungen in unseren Körpern angesammelt haben. Statt minutenlang um die Perfektionierung einer Stellung zu ringen, vollziehen sich Bewegungen hier meist in einem relativ raschen „Hin und Her“, das dem Atemfluss folgt.
Wunderbar dann das meditative Gehen im verwunschenen Garten, einem halbwilden Stück Land hinter dem Seminarhaus, in dem Gartenpflanzen wie Christrose und Narzisse neben Wildblumen wie Veilchen und Lungenkraut stehen. Giersch und Bärlauch verströmen würzigen Duft. Ein paar früh erblühte Obstbäume wie weiße Wolken. Ein Teich, in dem meditativ ein Stockentenpaar dümpelt. Verwittert eine Statue: Maria mit Kind. Es ist noch kühl und feucht im Garten, der Frühling zögert noch vor seinem endgültigen Durchbruch. Jetzt den Blick schweifen lassen, ihn an den kleinen, sprechenden Details, zum Beispiel einer sich öffnenden Knospe haften lassen. Ab und zu auch nach oben blicken. „Nirgendwohin denken, in die Himmel sehen“, sang Reinhard Meys Kollege Konstantin Wecker.
Schweigend unter Menschen – eine seltene Erfahrung
Natur ist eine unmittelbare Sprache Gottes. Das Leben in ihr, die Wachstumskräfte, die Schönheit und Bandbreite der Formen lassen den Gedanken an „Schöpfung“ ohne Mühe in uns aufkommen. Es ist sicher richtig, dass man Gott in sich finden kann, quasi hinter den geschlossenen Augenlidern. Manche spirituelle Schulen machen aber für mein Gefühl den Fehler, ihn nur dort zu suchen. Wo doch von außen her so vieles überdeutlich zu uns zu sprechen scheint: in den Pflanzen, Tieren und Menschen wie auch in wunderbarer Musik.
Am Erstaunlichsten an einem Schweige-Retreat sind jedoch nicht die Meditationssitzungen, meist mit geschlossenen Augen, auf die man sich für 25 Minuten leicht einmal einlassen kann; das Phänomen sind die Essenspausen und anderen Begegnungen mit Kursteilnehmern – Gelegenheiten also, die sonst „zwingend“ mit heftiger Geräuschkulisse und Sprechaktivitäten verbunden wären. Menschen, die einmal nicht sprechen, dazu bedarf es wohl schon eines strengen „Regimes“, mindestens einer entschlossenen gemeinschaftlichen Übereinkunft. Stille scheint unserer Spezies geradezu wesensfremd. Dabei ist Schweigen unendlich wohltuend. Wie oft war ich in Gesellschaft allein gewesen; hier spüre ich im Fallenlassen des Zwangs, sich andauernd aufeinander beziehen zu müssen, ein schönes Gemeinschaftsgefühl. Ab und zu trifft einen ein Blick, ein Lächeln, um sich dann gleich wieder ins Schweigen weg zu ducken.
Selbst mit meiner Frau unterhalte ich mich dort nur noch mit Zeichensprache, was zu manch komischer Situation führt. Sie erinnert an das Ottilienkloster (St. Odile) im Elsass, wo wir einmal einen atemberaubenden Regenbogen zusammen bewundern durften. Sie deutet den Bogen mit einer runden Handbewegung an, und ich wiederhole die Handbewegung: „Ach ja, der Regenbogen.“ Ansonsten betreffen die Handzeichen der Teilnehmer meist nur Essentielles des praktischen Lebens: „Soll ich dir etwas von der Suppe einschenken?“ „Ja, gern“. Überhaupt schmeckt das Essen in einer Atmosphäre des Schweigens besser und „deutlicher“. Eine Honigsemmel mit dick Butter zu Kaffee nach kurzer Nacht und ersten, sehr frühen körperlichen Anstrengungen – das schmeckt herrlich.
Im Schweigen verschwimmen die Unterschiede
Alle Menschen im Seminar scheine hier gleicher als anderswo, verbunden im gleichen Tagesablauf, der gleichen Unterbringung, den gleichen (relativen) Mühen und Freuden. Beruf, „Status“, Einkommen, Familienstand – all das ist mir von den meisten unbekannt. Ich kann nur aufgrund weniger Gesten und Begegnungen erschließen, wie der andere „drauf ist“, kann mir, wenn ich mag, Geschichten zu den Teilnehmern ausdenken. Auch künstliche Hierarchien, die sonst leicht zwischen Selbstbewussten und Scheuen, zwischen Dominanten und Leisen entstehen, fallen hier weg. Man glaubt, von lauter stillen Wassern umgeben zu sein – verhuscht und wie versunken.
Erst mit dem Wegfall des „Schweigegelübdes“ am Sonntag früh, merkt man, welche Energiebündel sich unter den „Verhuschten“ teilweise befinden. Auch das ist wieder eine nette Erfahrung. Denn schädlich ist ja nicht das Bedürfnis nach menschlichem, auch manchmal lautem Austausch; problematisch ist lediglich die einseitige Dominanz des Extrovertierten, Auftrumpfenden in unserer Gesellschaft, die Vertreibung der Stille als eines Kraftquells und Zufluchtsorts, den jeder bei sich selbst finden kann. Wer sich überhaupt zu so einem Schweigeseminar hingezogen fühlt, ist auch als Sprechender dann meist ein umgänglicher Mensch.
Zen ist ein Weg weitgehend frei von Mythen, Bildern und Dogmen, daher für sehr viele Menschen unterschiedlicher religiöser Prägung gangbar. Diesen „überkonfessionellen“ Ansatz pflegt Pater Augustinus auch in seinen vorgelesenen Zitaten und Sprüchen. „Wer ruhen kann, dem sind die Augen für das Ewige aufgetan. „ (Romano Guardini) Wem aber die Bilderwelt des Christentums lieb ist, seine vertrauten Worte und Klänge, der erhält zum Seminarprogramm eine christliche Umrahmung. So können die Teilnehmer etwa in der karg ausgestatteten neugotischen Klosterkirche von St. Ottilien den schönen Mönchsgesängen lauschen, vertonten Psalmen meist, im Wechselgesang vorgetragen.
Modell für ein zeitgemäßes Christentum?
Auch einen Abschlussgottesdienst gestaltet Augustinus am Sonntag vor dem Mittagessen. Auch dieser konnte mich berühren, obwohl oder gerade weil ich im Alltag meist nicht das Bedürfnis habe, eine Kirche aufzusuchen. Mein Eindruck ist, dass der Pater einige Grundelemente des Gottesdienstes neu durchdacht und dem Alten damit mehr Leben eingehaucht hat. Mit Hilfe des eigens bestellten Organisten Raffael proben wir einige neue Kirchenlieder und Kanons. „Neu“ und „Kirchenlied“ – sonst meist Begriffe, die einander ausschließen. „Mein Joch ist leicht“, war einer der zitierten Bibelsprüche, und ein leichteres, helleres Christentum zeigte sich – für mich symbolisiert durch Weintrauben, die sich auf dem weißen Ornat des Priesters um ein Kreuz ranken. Wenn dann die Teilnehmer nacheinander ein Teelicht zum Altar trugen, angezündet am großen Licht der Altarkerze, und dabei laut den Namen lieber Angehöriger nannten, für die sie beten wollten, entstand eine Berührung, die eben nur das Wort schenken kann, nicht die Stille; nur die konkrete Handlung, nicht die Bewegungslosigkeit. Wort und Handlung erhielten ihre ungewohnte Kraft aber gerade aus der Stille und Ruhe, die ihnen vorausgegangen waren.
Wenn das Christentun dem Zen etwas mehr Herz und Gottesbezug zu vermitteln vermag, so gibt umgekehrt Zen dem Christentum etwas, was in unserer „abendländischen Kultur“ oft schmerzlich fehlt: mystische Praxis. Anleitung zu einem Übungsweg, der unmittelbare Gotteserfahrung wenn auch nicht erzwingt, so doch erleichtert. Zwar gibt es eine Tradition christlicher Mystik, die aber ist eigentlich ein Minderheitenprogramm, großen Namen wie Teresa von Avila oder Thomas Merton vorbehalten. Für die Masse der Suchenden wird ein solcher Weg bei uns selten aufgezeigt. Man muss sich den Weg zu solchen Erfahrungen eher in Eigenregie bahnen. Das Seminarangebot in St. Ottilien ist somit bestens geeignet, Menschen „zurückzuholen“, die der christlichen und religiösen Welt nur noch locker verbunden sind; die zwar nicht grundsätzlich gegen Religion eingestellt sind, deren Suchbewegung aber mangels wirklich berührender Ansprache ins Stocken geraten ist.
Ein Regenbogen zeigte sich nicht zum Abschluss unseres Seminars. Aber die Sonne war mit Macht durchgebrochen, nachdem der Frühling so lange im Wartestand gewesen war. Die blühenden Bäume schienen zu explodieren und zu leuchten, und meine Frau und ich konnten auf dem Weg zum Auto unsere Jacken und Pullover abstreifen. In uns war seltsame Freude und strömende Ruhe. Dieses Gefühl lässt sich natürlich nicht „für immer“ konservieren; Es scheint mir aber seither, dass es mir leichter fällt, in meiner Arbeit manchmal innezuhalten und einzutauchen in diese ungemeine Stille.