Lieber Sigmar Gabriel…

 In Egon W. Kreutzer, FEATURED, Politik (Inland)

Addiert man den kaltschnäuzigen Neoliberalismus Deutschlands zum kaltschnäuzigen Neoliberalismus Frankreichs, Spaniens, Österreichs und aller anderen EU-Staaten, was ergäbe das in der Summe? Einen internationalisierten, flächendeckend den Kontinent peinigenden Neoliberalismus, sollte man meinen. Sigmar Gabriel ist da anderer Meinung: „Mehr europäische Zusammenarbeit“, so meinte er, werde den Kapitalismus zähmen. Theoretisch wäre das möglich, aber nicht mit Politikern wie dem TTIP-Enthusiasten Gabriel. Autor Egon W. Kreutzer liest dem Unsozialdemokraten die Leviten. (www.egon-w-kreutzer.de)

Lieber Sigmar Gabriel,

Soeben habe ich im Online-Spiegel gelesen, welche Anregungen Sie Ihrer Partei, der SPD, für die Weihnachtsfeiertage mit auf den Weg gegeben haben.

Da ist die zum Nachdenken anregende Frage, ob die Sehnsucht nach einer Leitkultur eventuell auch in der eigenen Wählerschaft den Wunsch nach Ordnung ausdrücken könnte.

Da ist die Erkenntnis, dass die Zielrichtung der SPD in der Vergangenheit oft an den Bedürfnissen und Sorgen der Bevölkerung vorbeigegangen sei.

Beides würde ich spontan unterschreiben, und zwar nicht, weil mir Ihre Worte die Augen geöffnet hätten, sondern weil es dem entspricht, was ich seit mindestens einem Jahrzehnt selbst feststelle und in meinen Veröffentlichungen anspreche.

Doch diesen hoffnungsvollen Erkenntnissen folgt als Therapie ein Gedanke, der nicht mit den vorangegangenen Einsichten in Einklang gebracht werden kann:

Nur mit mehr internationaler Zusammenarbeit, mehr europäischer Zusammenarbeit, ließe sich das zentrale Versprechen der Sozialdemokratie einlösen, den Kapitalismus zu zähmen und „Marktwirtschaften“ zu erzeugen, die sozial und auf Solidarität ausgerichtet seien.

Dies ist eine vollkommen unbegründet in den Raum gestellte Behauptung, der noch dazu sämtliche bisher mit der Globalisierung und der EU gemachten Erfahrungen absolut widersprechen.

Nun kommen Sie bitte nicht mit der Ausflucht, internationale Zusammenarbeit sei ja nicht gleichbedeutend mit Globalisierung. Waren Sie nicht einer der glühenden Verfechter von TTIP?

Was gibt es denn, außer der „Globalisierung“ noch an internationaler Zusammenarbeit? Die Bundeswehr in internationale Kampfverbände integrieren? Rüstungsziele einhalten – und irgendwann gegen Russland marschieren? Oder international den CO2-Ausstoß auf 2 Grad reduzieren? Ja, die Formulierung ist blödsinnig, aber den Anstieg der Welttemperatur bis zum Ende des Jahrhunderts auf 2 Grad begrenzen zu wollen, ist nicht minder blödsinnig. Natürlich kann man international gegen den Hunger und gegen Armut und gegen unzureichenden Zugang zu sauberem Wasser antreten… Nur, glaubhaft ist das alles nicht, solange unsere Verbündeten und wir Kriege vom Zaum brechen, funktionierende Staaten, nur weil uns nicht gefällt, dass sie eigene Interessen verfolgen, in failed States verwandeln und uns damit den Zugang zu Rohstoffen sichern und die Truppen des Welt-Aggressors USA immer näher an die russische Grenze schieben.

Und hinter alledem stehen doch wieder nur die wirtschaftlichen Interessen des international agierenden Kapitals, hinter dem steht der nackte Raubtierkapitalismus, dem es darum geht, das, was die Menschen sich geschaffen haben, immer schneller wieder zu zerstören, um sowohl von der Zerstörung als auch von der Wiederherstellung zu profitiern.

Das gilt gleichermaßen für den zivilen Bereich. Ob es um den Atomausstieg oder das Glühbirnenverbot, um die Vorschriften zur Dämmung oder die Leistungsbegrenzung von Staubsaugern geht – es geht darum, das Geschäft anzukurbeln und auch politisch zur erzwungenen Obsoleszenz beizutragen. Nur: Damit es sich auch lohnt, muss der Markt groß genug sein, müssen möglichst alle mitmachen – und möglichst alle ihren Diesel und ihren Benziner aufgeben, um dann festzustellen, dass der Strom eben nicht aus der Steckdose kommt, weil gar nicht genug eingespeist werden kann.

Internationale Zusammenarbeit, das heißt doch nur, die Grenzen öffnen. Für das Kapital, für Waren und Dienstleistungen, es heißt, da produzieren, wo die Kosten niedrig sind, weil der Lebenstandard niedrig ist, und da verkaufen, wo noch besser verdient wird und wo es noch Kredit gibt.

Wo, bitteschön, findet hier ein Kampf gegen den Kapitalismus statt, und wie, bitteschön, soll dieser Kampf gegen den Kapitalismus aussehen, den die SPD in internationaler und europäischer Zusammenarbeit führen soll?

Ich hätte das missverstanden?
Mit internationaler Zusammenarbeit meinen sie nicht die Staaten, sondern die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien?

Abgesehen davon, dass ihr Vordenker Schulz dies nicht meint, wenn er die Vereinigten Staaten 2025 errichtet haben will, frage ich Sie, wo es noch nennenswerte Reste sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien gibt, die noch nicht von neoliberalen, kapitalhörigen Parteien an den Rand gedrängt wurden?

Nein, lieber Sigmar Gabriel. Mit dem Kampf gegen den Kapitalismus kann man nicht warten, bis sich die sozialistische Internationale einig geworden ist und das Vertrauen der Völker gefunden hat.

Der Kampf gegen den Kapitalismus kann nur da geführt werden, wo ein starker Nationalstaat die Interessen seiner Bevölkerung ernsthaft vertritt und sie durch Gesetze und Regelungen schützt, statt durch Deregulierung eine schiefe Ebene zu schaffen, die den allgemeinen sozialen Abstieg erzwingt.

Alleine der Anspruch, mitten in Europa einen großen, funktionierenden Niedriglohnsektor zu schaffen, war – die von einem Sozialdemokraten angeführte – Unterwerfung unter den internationalen Kapitalismus, und ich kann mich nicht erinnern, dass die Kommission oder der Rat oder auch nur das Parlament der EU angetreten sind, um davor zu bewahren. Werfen Sie einen Blick nach Griechenland! Wo ist da der gemeinsame Kampf der europäischen Gemeinschaft gegen den Kapitalismus?

Also machen Sie sich doch nicht lächerlich. Reden Sie nicht davon, dass der Kapitalismus durch Internationalisierung und Europäisierung bezwungen werden könnte. Das Gegenteil ist der Fall!

Es ist auch nicht so, dass die von Ihnen als eventuell sinnvoll erwähnte Leitkultur auf den Bäumen der Globalisierung wächst, die Heimat, die sie ebenfalls erwähnten, schon gar nicht.

Und nirgends finde ich jemanden, der die SPD nicht mehr wählt, weil die Sozialdemokraten sich zu wenig um internationale und europäische Zusammenarbeit gekümmert hätten. Hier die Ziele und Wünsche der Wähler zu vermuten, wird die Rutschpartie zur 5+X-Prozent-Partei nur beschleunigen.

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