Links – Mitte – Rechts

 In FEATURED, Politik

Perspektivität und politische Orientierung Immer wieder einmal hören wir, die alte Unterscheidung zwischen Links und Rechts sei nicht mehr geeignet, unsere politische Realität abzubilden. Das klingt mitunter nach politischer Beliebkeit oder nach relativierender Verharmlosung von Rechtsradikalismus. Wir haben auf “Hinter den Schlagzeilen” deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir nicht alle politischen Richtungen gleich gut (oder schlecht) finden. Dennoch ist es sinnvoll, bestimmte politische Positionierungen noch einmal von Grund auf zu durchdenken und eher schematische, traditionelle Zuordnungen in Frage zu stellen. Um welche Werte geht es Menschen wirklich? Wo in der politischen Landschaft sind sie zu verorten? Sollte man Kompromisse schließen oder sich auf eines der Extreme versteifen? Welche Positionen weisen in die Zukunft, wo muss man ggf. aber auch auf Realitäten der Gegenwart Rücksicht nehmen? Der Autor durchleuchtet politische Standortbestimmungen aus integraler Perspektive. (Michael Habecker)

 

Bei der politischen Verortung spielen nach wie vor in Diskussionen, aber auch bei Parteinamen, die Begriffe „links“ und „rechts“ eine wesentliche Rolle, die ihre Entstehung einer Sitzordnung der französischen Nationalversammlung verdanken. Allerdings sind sie durch einen jahrhundertelangen Gebrauch unscharf geworden und für eine konkrete Diskussion somit praktisch unbrauchbar. Mit „links“ lässt sich in Verbindung bringen (und wird u.a. assoziiert): Sozialismus, Kommunismus, Gerechtigkeit, Umverteilung, anti-liberal, solidarisch, sozial, linksextrem, progressiv …, mit „rechts“ können (und werden) Begriffe wie konservativ, national, nationalistisch, faschistisch, rechtsextrem, bewahrend, Kontinuität, Beständigkeit … in Zusammenhang gebracht. Und die politische Mitte, von der gesagt wird dass von dort aus die Wahlen gewonnen werden (wofür es allerdings, insbesondere in Krisenzeiten, auch Gegenbeispiele gibt), wo ist die eigentlich – irgendwo dazwischen?

Im Folgenden soll ein anderer Vorschlag von politischer Orientierung unterbreitet werden, der sich auf der Perspektivität menschlicher Wahrnehmung gründet, – individuell-innerlich, zwischenmenschlich, äußerlich – und dem Entwicklungsgedanken.

Liberalität/Individualität/Freiheit

Jeder Mensch fühlt/erlebt sich (auch) subjektiv als Individuum („Ich“), mit einer ganz eigenen Innenwelt von Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen, Visionen, Ängsten, Kreativität, Freude, Kummer, Bestrebungen, Aversionen … und einem Impuls sich ausdrücken, in Gedanken, Worten und Taten. Jede und jeder kann das mit ein wenig innerem Zugang in sich spüren, auch jetzt in diesem Augenblick. Weil es diese Grundperspektive von Subjektivität gibt, gibt es Liberalität bzw. Menschen, die sich für die innere und äußere Freiheit des Menschen einsetzen, und diese Sichtweise wird nicht verschwinden. Ob ein Konservativer sich für die individuelle Freiheit am Eigentum einsetzt, ein Grüner für den Schutz der persönlichen Privatsphäre kämpft oder ein Linker sich für Befreiung des Einzelnen von entfremdender und ausbeuterischer Arbeit ausspricht – sie alle eint Liberalität (ohne dass es in diesem Beispiel dafür eine eigene „liberale“ Partei bräuchte). Jeder Mensch ist damit – auch – frei.

Sozial/Gerechtigkeit/Verbundenheit

Jeder Mensch fühlt/erlebt sich von Geburt an (auch) inter-subjektiv als Mitglied von Gemeinschaften („Wir“), mit einer zwischenmenschlichen Erlebniswelt von Miteinander, Gegeneinander, Sympathie, Antipathie, … Ob Ursprungsfamilie, eigene Familie, Freunde, Beziehungen, Verwandte, Lehrer, Gemeinde, Nachbarschaft, „Fußballsommermärchen“ … wir alle sind eingebunden in unzählige soziale Kontexte. Aus dieser Erfahrung heraus entsteht soziale Politik, und auch diese wird es immer geben so lange es Menschen gibt, mit einem entsprechenden „Flügel“ in den meisten politischen Parteien und einem Engagement für (mehr) Gerechtigkeit und Solidarität. Jeder Mensch ist als ein soziales Wesen auch sozial. (Wie weit dieser Kreis von Sozialität jedoch reicht, ob er begrenzt ist auf den eigenen Familienkreis, die eigene Glaubensgemeinschaft, die Nation oder sich über die gesamte Menschheit erstreckt, ist eine andere Frage, und zwar eine von Entwicklung, s. u.)

Eingebundenheit in Systeme und Nachhaltigkeit

Jedem Menschen der in Lage ist, eine systemische Außenperspektive einzunehmen, wird dabei deutlich, wie sehr er/sie Teil von Systemen sowohl ökologischer wie auch kultureller Art ist und wie sehr das eigene Überleben (und das Überleben anderer) von der Aufrechterhaltung dieser Systeme abhängig ist. Das betrifft das ökologische System, es betrifft aber auch unsere kulturellen Systeme, die wir für unsere Versorgung und Entsorgung geschaffen haben (Wasser, Nahrung, Energie, Geld, Information, Wirtschaft, Infrastruktur, Müllentsorgung). Ein Zusammenbruch auch nur eines dieser Systeme hat verheerende Folgen für eine große Anzahl von Menschen, bis hin zur gesamten Menschheit. Daher ist neben der Ich-Perspektive von Freiheit und der Wir-Perspektive von Solidarität auch die Es-Perspektive auf Systeme und deren Nachhaltigkeit von entscheidender, auch politischer Bedeutung, und wird daher von vielen politisch aktiven Menschen mit Nachdruck vertreten.

Zum Entwicklungsgedanken

Aus einer die Jahrtausende überblickenden Perspektive lässt sich eine Bewegung erkennen von auf Blutsverwandtschaft basierenden kleinen Stämmen zu einer die Stämme vereinigenden Staatsidee der alten Reiche (Ägypten, Mesopotamien, Mittelamerika …) weiter zu der vereinigenden Idee von Nationalstaaten hin zu Staatengemeinschaften wie der europäischen Gemeinschaft. Darüber hinaus gibt es Ansätze zu einer Weltgemeinschaft, wie die Vereinten Nationen. Diese evolutionäre Wegstrecke war keine beschauliche lineare Reise sondern eine Achterbahnfahrt mit Durchbrüchen und Zusammenbrücken und Aufstiegen und Abstürzen, als eine Dialektik von Würde und Katastrophe.

Dabei möchte ich zwei Entwicklungsmerkmale hervorheben. Ein Merkmal ist das von Differenzierung und Integration. Die Evolution (oder Schöpfung) scheint beides gleichermaßen zu lieben, Einheit und Vielfalt, und daher ist Entwicklung technisch gesprochen eine buchstäblich unendliche Geschichte von Differenzierung/Vielfalt und Integration/Einheit ohne Ende. Es braucht offenbar beides für eine gesunde Entwicklung. Politisch gesprochen, und dafür gibt es ausreichend historische Beispiele, endet eine Einheit ohne Vielfalt im Totalitarismus (mit einem inneren Bürgerkrieg als einem Ausdruck des Strebens nach Vielfalt und Unterschiedlichkeit), und eine Vielfalt ohne Einheit endet in einer zunehmenden Entfremdung der Vielen voneinander, bis hin zum Krieg (als einem extremen und fehlgeleiteten Ausdruck des Strebens nach Einheit).

Das zweite evolutionäre Merkmal ist das von „Transzendieren und Bewahren“. Die Evolution verwirft nicht Bestehendes sondern baut darauf auf. Sie geht darüber hinaus und bewahrt es gleichzeitig. Das drückt sich politisch darin aus, dass es überall und in vielen Parteien nebeneinander konservative und progressive Bestrebungen gibt. Das ist gut so, weil wir beides für eine gesunde Entwicklung brauchen. Eine Zelle kommt nicht auf die Idee zu sagen „ich bin über Atome und Moleküle hinaus, ich verwerfe sie!“ Oder stellen wir uns einen Satz vor der sagt: ich habe Laute, Silben und Worte transzendiert (was stimmt), also negiere ich diese (womit sich der Satz selbst vernichtet). Der (politische) Mensch ist daher gut beraten, beides auf dem Weg zu beachten, das Fortschrittliche und das Bewahrende, das Progressive und das Konservative, das Mögliche und das bereits Existierende. Tut er das nicht, sind das Ergebnis entweder „Kulturrevolutionen“ bei denen alles Bestehende vernichtet wird, oder starre Faschismen bei denen jede Neuerung gnadenlos unterdrückt wird.

Eine neue Art der Politikbetrachtung

Aus dem eben Ausgeführten lässt sich eine neue Art der Betrachtung von Politik ableiten.

Eine gesunde Mitte würde als das Mindeste eine Integration von Freiheit, Solidarität und Nachhaltigkeit anstreben, und zwar nicht aus ideologischen Gründen sondern aus Würdigung dieser unterschiedlichen Perspektiven des Menschseins und unseres In-der-Welt-seins. Zusätzlich würde dieser mittlere politische Weg sowohl Vielfalt als auch Einheit im Auge behalten, ebenso wie das Neue, Fortschrittliche und das Bestehende und bereits Existierende. Er würde, an einem Beispiel, Internationalität und Nationalität nicht gegeneinander setzen sondern beides würdigen, eine natürliche nationale Identität sowie eine internationale Ausrichtung.

Was ist an einer nationalen Identität „natürlich“? Kein Mensch wird als Weltbürger geboren, sondern entwickelt sich über eine Reihe von Zwischenstufen und Identitäten erst dazu, welche die Entwicklungspsychologie erforscht. Zuerst differenziert der Säugling sich von der physischen Umwelt und entwickelt eine eigene körperliche Identität. Danach differenziert er sich emotional von den nächsten Bezugspersonen und entwickelt eine psychologische Identität. Dann entdeckt sich das Kind als soziales Wesen und identifiziert sich mit seiner Familie und später mit der Kultur und Nation in der es aufwächst – als soziale Identitäten. Das ist ein natürlicher Entwicklungsweg, und bei jedem dieser Schritte kann etwas schiefgehen. Gelingt der Schritt zur nächsten Stufe (Transzendenz) nicht vollständig, dann bleibt eine Fixierung daran. Gelingt die Integration der bisherigen Identitäten nicht vollständig, dann bleibt eine Aversion ihnen gegenüber. Aus einem gesunden Selbstwert kann ein ungesunder Narzissmus werden und aus einer gesunden nationalen Identität ein ungesunder Nationalismus, doch das wäre ein eigenes Thema. Wenn alles gut geht, gelangen wir durch verschiedene Identitäten hindurch zu einer Verbundenheit mit allen Menschen und Wesen, und dazu braucht es alle Entwicklungszwischenstufen. Sie bleiben in uns, wir brauchen sie weiterhin, als einen integralen Bestandteil unserer Gesamtidentität und unseres Seins, auch wenn wir nicht mehr ausschließlich mit ihnen differenziert sind. Das Wort „inter-national“ versinnbildlicht dies sehr gut. Ohne Nationalität keine Internationalität. Ersteres ist grundlegender, Letzteres weiter entwickelt.

Eine derartige Politik der Mitte vermeidet, mit anderen Worten, Extreme und ist um Integration bemüht, bei der die Vielfalt der Perspektiven gewürdigt wird, erhalten bleibt und nicht in einem Einheitsbrei verschwindet.

Dieser Mitte gegenüber stehen Politiken der Extreme, die jeweils nur einen oder zwei der oben erwähnte Aspekte hervorheben, ohne Rücksicht auf alle anderen Aspekte – d. h. Politiken die zu irgend einer Art von „-ismus“ führen.

Liberalität alleine wird zum (Neo)Liberalismus und Hyperindividualismus, welcher letztendlich immer in einer Art Faustrecht endet, wo der Stärkste sich – a-sozial – gegen alle anderen durchsetzt.

Ein Sozial-ismus als ein Hyperkollektivismus nimmt keine Rücksicht auf individuelle Freiheiten sondern setzt kollektiv durch was ein Politbüro oder ein ähnliches Gremium für alle als richtig erachtet. (Da ein „Wir“, anders als ein „Ich“, keine eigene Intentionalität hat, gibt es Menschen die sich – mehr oder weniger legitimiert – zum Sprecher eines Wir machen, und von deren Geistesverfassung es dann abhängt, welche Politik für diese Gemeinschaft gemacht wird.)

Ein System-ismus schließlich erklärt die Aufrechterhaltung eines Systems (Ökologie, Finanzen …) zum zentralen politischen Ziel und ordnet alles andere (Freiheit, Solidarität) dem unter. (Auch hier gibt es keine eigene Intentionalität, Gaia oder das Finanzsystem als ein Beispiel haben keine eigene Stimme, sondern Einzelne oder eine Gruppe von Menschen – demokratisch legitimiert oder auch nicht – geben dem System eine Stimme und entscheiden was das System „alternativlos braucht“ – Beispiel Finanzsystem/Bankenrettung.)

Analog wird eine nur national orientierte Politik zum Nationalismus und eine nur international orientierte Politik setzt sich über das Bedürfnis der Menschen nach nationaler Identität hinweg. (Dies war in der Vergangenheit offenbar in Europa tendenziell der Fall, viele Menschen drücken in ihrem Wahlverhalten nationale Sehnsüchte aus).

Eine integrierende Politik der Mitte ist kein Kalkül wo lediglich Variable in eine Gleichung einzusetzen sind, sondern ein intensiver Prozess der Gewichtung unterschiedlicher Perspektiven. Auf dem Weg zur Umsetzung wäre es schon ein guter Anfang, wenn beispielsweise ein „Liberaler“ die „linken“ Bemühungen um Gerechtigkeit und die „grünen“ Bemühungen um Nachhaltigkeit auch bei anderer Prioritätensetzung grundsätzlich wertschätzt und würdigt – und jeweils umgekehrt.

Die Wähler in Deutschland haben bei der letzten Bundestagswahl durch die Bevorzugung kleinerer Parteien eine Gelegenheit geschaffen, dass diejenigen, die sich vorher meilenweit voneinander differenziert haben, nun zu einer Integration kommen müssen, wenn es eine neue Regierung geben soll. Dass diese in ihrem Selbstverständnis demokratischen Parteien sich voneinander differenzieren und aufeinander losgehen können wissen wir – können sie sich auch integrieren zu einer Regierung, die das Land ja braucht?

Hier noch ein weiteres, globales Beispiel zur Dynamik Differenzierung/Integration: In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich durch Differenzierungsbewegungen, (die entweder als „Befreiungsbewegungen“ oder als „Separatismus“ bezeichnet werden, je nach Perspektive) die Anzahl der Staaten der Welt erhöht. Der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion, die Teilung der ehemaligen Tschechoslowakei, der Zerfall des ehemaligen Jugoslawien, die Teilung des Sudan und die Gründung von Eritrea in Afrika. Es sieht so aus, dass nach den totalitär-„vereinigenden“ Tendenzen des 20. Jahrhundert nun die Kräfte der Differenzierung wieder überwiegen. Dem zugrunde liegt, dass die Zahl der Ethnien der Welt die Zahl der Nationalstaaten um ein Vielfaches übersteigt. Dazu schreibt der dtv-Atlas Politk (2011, S. 219): „In den weltweit rund 190 Staaten leben Schätzungen zufolge zwischen etwa 3000 und 8000 Ethnien d.h. (meist regional lokalisierbare) Volksgruppen mit einer durch Sprache, Religion, Geschichte, Sitten und Gebräuche etc. begründeten Kollektividentität.“

Ethnien wollen Eigenständigkeit und berufen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Nationalstaaten wollen Integration und berufen sich auf ihre „territoriale Integrität“. Wer hat recht? Beide, weil beide Perspektiven bzw. evolutionäre Strömungen wichtig sind, Differenzierung und Integration. Wie jedoch im Einzelfall zu entscheiden ist, ist Gegenstand eines politischen Prozesses mit der Frage, was am wenigsten Leid bei den Beteiligten und Betroffenen verursacht, und am meisten Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit – und damit letztendlich auch Frieden – hervorbringt.

 

 

 

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