Links und konservativ – geht das?

 In FEATURED, Kultur, Roland Rottenfußer, Wirtschaft

Nicht vor vermeintlichen “Flüchtlingsschwemmen”, vor “Überfremdung”, “Terrorgefahr” oder “linker Gewalt” müssen wir bewahrt werden – es ist die unsere Seelen überfordernde, übereilte und profitgetriebene “Schwemme” technischer Innovationen, bei der Vorsicht geboten ist. Nicht alles Neue ist schlecht, und nicht alles Alte ist bewahrenswert – wir müssen uns aber die Freiheit erkämpfen, weiterhin wählen zu dürfen. Nicht der Zwang zum Download immer neuer Apps ist sinnvoller Fortschritt, dieser müsste sich vielmehr auf dem sozialen Sektor in Gestalt eines fortschreitenden menschlichen Umgangs miteinander vollziehen. Wenn jemand diese Haltung “konservativ” nennt, meinetwegen. Ich finde sie schlicht vernünftig. Roland Rottenfußer

 

Computer- und Kommunikationsspielzeug ist, wie heute schon feststellbar, nicht nur eines von vielen skurrilen Interessengebieten, denen man frönen, denen man sich aber auch entziehen kann. Die Vorantreiber derartiger Technologien versuchen diese den Uninteressierten aggressiv aufzuzwingen, sie für alle Menschen verbindlich zu machen und Verweigerer abzustrafen, indem sie sie von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließen. Jeder der sich dem Neuen anschließt, trägt als Innovations-Opportunist und unbezahlter Werbeträger der Innovations-Anbieter dazu bei, die noch Unabhängigen an den Rand zu drängen.

Technische Hinterherhinkende gehören dementsprechend zu den Witzfiguren unserer Zeit. Sie haben die Ostfriesen und Blondinen als Lachnummern der Saison abgelöst. „Dieses Internet – ich glaube nicht, dass sich das durchsetzen wird“ sagt der tumbe Schlagersänger Bruce Berger in Simon Verhoevens Film „Männerherzen“. Ein Brüller im Kino. Es gibt ganze Karikaturenbände mit „Computerwitzen“, in denen ein Technik-Analphabet eine lebende Maus an seinen Computer anzuschließen versucht o.ä. Wer – wie vor 11 Jahren ja auch – ganz gut ohne Smartphone leben kann, gilt als eine Art Technik-Amish – analog zu jener US-amerikanischen Sekte, deren Mitglieder ohne Strom leben und mit der Pferdekutsche umherfahren.

Sind derartige Überlegungen „konservativ“? Dem Begriff haftet der Makel an, nach “rechts” zu tendieren. Bilder des behäbigen Helmut Kohl, von Heino, Trachtenjanker und “Grün ist die Heide” spuken bei diesem Wort durch unsere Köpfe. Wenn nicht Schlimmeres. Obwohl gerade auch Linke vom neoliberalen Modernisten gern als “Besitzstandswahrer” beschimpft werden – also als Menschen, die bewahren möchten, was sich ihrer Meinung nach bewährt hat und was im Begriff ist, durch profitgetriebenen Reformwahn  zerstört zu werden. Und auch ökologisch engagierte Menschen möchten bewahren: ob sie das zu Bewahrende nun religiös aufgeladen als “Schöpfung” oder schlicht als “Natur” und “Umwelt” bezeichnen.

Ich selbst stehe fremdenfeindlichen und deutschtümelnden Weltanschauungen fern. Mein Begriff von „Heimat“ ist viel umfassender. Arbeitnehmern wird heute teilweise nicht einmal ein eigenes Zimmer gegönnt mit einer Wand drum herum, die sie mit Bildern schmücken können, die sie lieben. Sie müssen bereit sein, sich heute hier, morgen dort einzuloggen und wie Nomaden die beruflichen Menschlichkeitswüsten zu durchwandern. Die moderne Welt, das sind Großraumbüros oder Großraumabteile voll piepsender Handys und plappernder Wichtigtuer.

Wie konnte es so weit kommen? George Orwell erzählt von einem System, in dem es keine Solidarität mehr gibt außer zum Großen Bruder. Der Große Bruder von heute, das sind die Machtkartelle des Turbokapitalismus: Großkonzerne, Banken, willfährige Medien, unterstützende Technologie. Entwurzelte Menschen sind leichter manipulierbar, deshalb versuchen die technokratischen “Eliten” alle bewahrenden Kräfte zu ironisieren. Ich selbst will den Status Quo nicht „einfrieren“. Entwicklung ist unvermeidlich und oft auch gut. Aber das Tempo der Veränderung muss sich den Menschen und ihren Bedürfnissen anpassen, nicht umgekehrt. Heute haben wir es geradezu mit einem Innovationsterror zu tun.

Die Menschheit hat es in allen Epochen versäumt, den Fortschritt einem “Glückstest” zu unterwerfen – der Frage also, ob eine Veränderung die ihr unterworfenen Menschen tatsächlich zufriedener macht. Diesen Vorwurf erhebt auch der Bestseller-Autor Yuval Noah Harari in “Eine kurze Geschichte der Menschheit”. Selbst die frühesten “Kulturrevolutionen” – etwa der Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur sesshaften Agrargesellschaft – stehen bei ihm auf dem Prüfstand: “Obwohl sich Geschichtswissenschaftler mit fast jedem erdenklichen Thema beschäftigen – von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft über Geschlechter und Sexualität bis zu Krankheiten, Essen und Kleidung –, haben sie sich nie gefragt, welchen Einfluss das alles auf das Glück der Menschen hat. Das ist die größte Lücke in der Geschichtsschreibung.”

 

Es ist nicht unbedingt konservativ, es ist schlicht vernüftig und menschlich, die Zufriedenheit des Einzelnen und der Gemeinschaft als Ziel wirtschaftlichen Handelns anzuerkennen. Dazu braucht es die Freiheit, einen Lebensstil zu verwirklichen, der es der Seele erlaubt, zu atmen. Für viele Menschen bedeutet das: ein genügsames Leben ohne Hetze, erfüllende menschliche Beziehungen, Naturbezug und eine gesunde Balance von Leben und Arbeiten.

Leider gelten zufriedene Menschen aber heute als Feinde einer florierenden Wirtschaft. Sie weigern sich, den Herstellern von technischem Schnickschnack als Zielgruppe zur Verfügung zu stehen. Die Industrie geht deshalb immer mehr dazu über, den Konsumanreiz durch Konsumzwang zu ersetzen. Ist der Drucker z.B. kaputt, behauptet der Hersteller, dass sich die Reparatur nicht lohne. Für den Preis bekommt man schon einen Neuen. Wird ein neuer Fernseher gekauft, muss ein HDMI-Kabel her, weil das Scart-Kabel nicht mehr kompatibel ist. Es herrscht der Zwang zum permanenten Update in immer kürzeren Rhythmen.

Ich interessiere mich für Natur, Musik und Literatur; andere Menschen interessieren sich für Fußball, für Physik oder über Technik – daran ist nichts Falsches. Jedes dieser Interessengebiete hat seine Berechtigung. Das Problem ist nicht, dass es Computerbastler gibt, sondern dass sie unsere Epoche in ungesunder Weise dominieren – wie es sonst nur Politiker, Juristen, Banker und Militärs tun. Die ältere Dame, die verzweifelt vor dem Fahrkartenautomaten steht, keine Hilfe vom (nicht vorhandenen) Bahnpersonal bekommt und schließlich ganz auf Bahnfahrten verzichtet – diese Menschen werden von einer schnöseligen, profitgetriebenen Technokratie als irrelevant aussortiert.

Anfang des 20. Jahrhunderts war der Soldat das prägende Leitbild unserer Kultur. Wie in Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“ wurden Fabrikarbeiter mit der Frage „Hab’n se jediehnt“ begrüßt.  Heute ist der Computer-Nerd dieses Leitbild. Ob wir wollen/können oder nicht – wir müssen, um im modernen Alltag überleben zu können, zumindest partiell so werden wir „die.“ Eine Zwangsbekehrung zur Religion der Smartphone-Enthusiasten findet derzeit statt. In der Folge verbrauchen wir viel Zeit und Energie, um mit Hilfe von Technologien Probleme zu lösen, die ohne sie gar nicht entstanden wären.

Gespräche unter Techik-Freaks klingen heute schon so, als würde man Außerirdischen in einem Science Fiction-Film zuhören, die mit dem mobilen Emitter die Deflektor-Phalanx rekalibrieren. Natur verbindet, Technik trennt. Das Erlebnis, am Waldrand ein rosa Büschel aus Lichtnelken zu bewundern oder ein Eichhörnchen beim Erklimmen eines Baums zu beobachten, teilen wir mit unseren Vorfahren. Heute verspotten mich Jugendliche, weil ich statt mit What’s App noch per Email kommuniziere, und für meine Eltern sind selbst Emails ein Rätsel.

Es gibt in einer Gesellschaft normalerweise ein Gleichgewicht von progressiven und konservativen Kräften. Die einen treiben die Evolution voran, indem sie Visionen einer besseren Welt entwerfen. Die anderen prüfen, was ihnen angeboten wird und lehnen Teile des Neuen als untauglich ab. Ein ungesundes Übergewicht der konservativen Kräfte kann auch problematisch sein: „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren.“

Heute erleben wir aber die gegenteilige Übertreibung: die permanente, erzwungene, sich beschleunigende Innovation. Der Grund für diese Entwicklung? Der Kommerz! Er hat das Gleichgewicht zwischen Verändern und Bewahren zerstört, zugunsten einer Diktatur des Fortschritts. Wertbeständigkeit rechnet sich einfach nicht. Kleider, die zehn Jahre halten, oder Drucker, die 20 Jahre störungsfrei funktionieren, stören die Vermarktungsabsichten der Konzerne. Ein Gedichtband von Rilke, der die Seele über Jahre erfüllt, macht den Kauf unzähliger Modemagazine unnötig. Fortschritt ist ein Tarnbegriff, der die wahre Antriebskraft des Ökonomismus maskiert: den Profit.

Sozialisten, Umweltschützer und Konservative (im guten Sinn des Wortes) haben viel gemeinsam: die Vision eines guten Lebens, Fairness gegenüber allen Mitgeschöpfen, Gerechtigkeit und eine natürlichen Ordnung, die ungesunde Extreme meidet. Wir müssen uns die Freiheit wiedererkämpfen, prüfen zu dürfen, ob eine Innovation das Glücksniveau in der Gesellschaft eher erhöht oder veringert. Neue technische Geräte sind Vorschläge, Angebote für die Menschen, sie dürfen nie „imperativ“ auftreten. Das Sekundäre sollte dienen, nicht herrschen.

Fortschritt bedeutet nicht, die Menschen zu zwingen, TAN-Nummern in Handys zu tippen, es meint eine tatsächliche Verbesserung der Lebensumstände vieler Menschen. Es wäre also schon ein Fortschritt, wenn wir anfingen, zumindest in technischer Hinsicht wieder konservativer zu werden

 

 

Anzeigen von 3 Kommentaren
  • Freiherr
    Antworten
    ” die Freiheit wiedererkämpfen ! ” –

    das ist es worauf es ankommt !!

    Bedeutet aber den Verzicht auf Mechanismen der Unfreiheit – den Verzicht auf Alles was nach der Microwelle ( und eigentlich schon die ) auf uns hereinbrach.

    …und auch die hatte ich schon verweigert… also auch das Videogerät !

    Das Internet hatte ich zugelassen, ein langer Kampf und nachgegeben, schon lange bereut.

    Die Transformation zu einem Transhumanisten hatte da schon begonnen.

    Aber – jederzeit könnte ich auch davon wieder loslassen – die Mehrheit nicht mehr.

    Es ist kein Fortschritt wenn man sich diesen Technologien unterwirft, das Gegenteil, das Entfernen von Humanität sogar.

    Wenn ich auf einem meiner Lieblingsplätze am Waldrand sitze und in die Täler schaue, dann gibt es da absolut nichts mehr was meine Zufriedenheit noch besser machen könnte…

    naja – mein Bier und mein Tabak, man möge es mir verzeihen –

    aber doch kein Smartphone oder sonstiger blanker Unsinn.

    Und kommt ein anderer Wanderer vorbei, dann setzt er sich zu mir und wir reden…

    Was da mit diesen Technologien vernichtet wird, ist diesen ferngesteuerten Leuten nicht mehr bewusst.

    Und ja – die amish-peope habe ich kennengelernt, damals in Pennsylvania – ich hatte den Fehler gemacht sie zu fotografieren, mich entschuldigt aber, wusste nicht dass das ein “nogo” für sie ist.

    Die Welt erkunden, zu erforschen, mit Händen und Füssen und allen Sinnen – dieses Glück hatte ich als Kind noch und keine Minute davon möchte ich vermissen –

    und ja, die Freiheit ist direkt damit verbunden !

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Cetzer
    Antworten
    Guter Artikel!

    Mir kommen viele Fortschritts-Blüten so vor, wie die Angsttriebe sterbender Bäume: Eigentlich sinnlos, aber es wächst noch etwas, an dem verdienen kann.

    Zur Erinnerung: Es kann und wird kein ewiges Wachstum geben, keinen ewigen, übermenschlichen Fortschritt. Was es schon längst gibt, ist Rückschritt, mal schleichend, mal schockierend, aber unaufhaltsam. Auch die Pferdefüße des Fortschritts treten immer öfter zu.

    Vieles am sogenannten Fortschritt läuft wie in der Werbung: Konsumieren Sie jetzt! Zahlen Sie später! So wie die Kohle des Ruhrgebiets schon lange verfeuert wurde, aber die Ewigkeitslasten des Bergbaus es für immer erfordern werden, dass große, energiehungrige Pumpen viel Wasser absaugen, damit sich das Ruhrgebiet nicht in einen riesigen See verwandelt. Auch die Rechnung für die Endlagerung (hoch-)radioaktiven Abfalls wird immer länger; Gut, dass die Zinsen so niedrig sind!

     

  • Juergen W
    Antworten
    Ein grossartiger Artikel, der mich “alten weissen Mann” sehr berührt.

    Ja, ich nutze Musik-Software aller Art für Produktion und Notendruck – super.

    Nein, ich besitze kein Smartphone und ja, ich hasse Emails! Dann und wann SMS, aber so wenig wie möglich. Habe das alte Handy eh nie dabei.

    Internet tatsächlich nur noch, um die alternativen Medien zu besuchen.

    Der Autor benutzt das Wort “Innovationsterror” und ja, besser kann man den ganzen Quatsch einfach nicht ausdrücken. Bravo!

    In meinem geliebten Elternhaus gab es tatsächlich noch einen leidenschaftlichen verbalen Kampf zwischen Tradition und Moderne, also Alt und Jung. Mir scheint, dass der Moderne, sprich: dem Konsum, viel zu viel geopfert wurde, vor allem Respekt! Das ist sehr, sehr schade, denn das Mit- und Gegeneinander tut und tat eigentlich allen ganz gut. Auch der harte Konflikt. Gerade der.

    Der Zenit des Fortschritts ist, m.M.n. schon oft überschritten worden. Ganz klar. Mein Beispiel ist da immer der Schuh: Der zwie- oder rahmengenähte Schuh hält lebenslang und ist vermutlich schon vor 100ten von Jahren handwerklich perfektioniert worden. Da gibt es einfach nichts mehr zu verbessern.

    Kurz: mir geht der Konformismus, also die pure Unterordnung in das gewünschte kapitalistische System, ganz gewaltig auf den Geist. Mein Vater, dieser wunderbare, ewig fluchende Dickschädel, schräge Humorist, Musikant und aufmerksame Querkopf würde es mir nie verzeihen, wenn ich mich dieser sterilen “schönen, neuen Welt” widerstandslos ergebe. Meine Mutter würde jetzt vermutlich nur noch beten: Für den Anstand, für den Gemeinsinn, für den Erhalt des kulturellen Erbes dörflicher Strukturen. Da geht furchtbar viel verloren.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen