«Liturgie von links»

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Dorothee Sölle

Dorothee Sölle

“Jedermann sei untertan der Obrigkeit” – ja, gerade die evangelische Kirche hat sich meist brav an ihren Paulus gehalten. Liturgie von rechts sozusagen. Es gab aber immer auch eine andere Kirche, ein anderes Christentum. Dorothee Sölle hat mit ihrem Klassiker “Mystik und Widerstand” dessen Spur in der Geistesgeschichte nachgezeichnet. Weniger bekannt sind heute Sölles direkte politische Aktivitäten, etwa die “Politischen Nachtgebete”, die zwischen 1968 und 1972 stattfanden und viel positive Resonanz, aber auch Anfeindungen auf sich zogen. Armut und Reichtum, Frieden und Gewalt gehörten zu den Themen – der Gottesdienst als parteiliche Einmischung in die Tagespolitik vor dem Hintergrund einer verinnerlichten christlichen Ethik des Mitgefühls. Ludwig Schumann stellt eine Veröffentlichung zum Thema vor und denkt die angerissenen Themen für die heutige Zeit weiter: bis hin zur Flüchlingsfrage und zur Welle der Amokläufe. (Ludwig Schumann)

„Es kommt heutzutage sehr selten vor, dass man bei einem Gottesdienst die Kirche wegen Überfüllung schließen muss. Beim letzten ‚Politischen Nachtgebet’ mussten wir dies tun“, berichtet der Pfarrer der Antoniterkirche in Köln. Und auch die drei Autoren des unlängst erschienen Buches „Liturgie von links“ machen aus ihrer Verwunderung darüber, dass Menschen in großer Zahl zusammenfinden, ohne dass sie mit Musik eingefangen werden, ohne dass die heute üblichen Event-Regeln Beachtung finden, um eineinhalb Stunden Texte zu hören und zu diskutieren. 1968 bis 1972 fanden die „Politischen Nachtgebete“ in der Kölner Antoniterkirche statt, ins Leben gerufen vom enfant terrible der Kirche und der politischen Klasse der Bundesrepublik Deutschland, der evangelischen Pastorin Dorothee Sölle.

Da wurde seinerzeit öffentlich darüber nachgedacht, ob man solcherart Gottesdienste nicht verbieten sollte, ob das überhaupt Gottesdienste seien, oder ob das Ganze nicht eher unter politische Agitation zu rechnen sei.

Das ist der erste Lernerfolg dieses Buches: Freiheit gibt es nicht per se, Freiheit, insbesondere die Freiheit des Wortes, will immer wieder neu erstritten werden. Sie unterliegt in jeder Gesellschaft dem Zwang der Einengung, dem Wunsch der Kirchenoberen oder der Politiker nach Regulierung. Das freie Wort hat etwas Subversives. Damit können auch die nicht umgehen, die das Wort „Freiheit“ als fundamentalen Wert der demokratischen Gesellschaft auf der Fahne vor sich hertragen.

Letztlich gehörten die „Politischen Nachtgebete“ in die 68er-Szene. Die Gesellschaft war hochgradig sensibel, weil es um Veränderung ging, ähnlich der 89er-Gesellschaft im kleineren Deutschland. Und Sölle samt ihrem Mann, dem katholischen Expriester Fulbert Steffensky, gelang es in dieser Zeit, über die „Nachtgebete“ mit über 1000 Teilnehmern pro Gottesdienst in der Kirche mit ihren Worten, die nicht nur der Wahrheit „nachstöberten“, sondern die Konsequenzen dieser Wahrheit offen legten und zur Nachfolge aufriefen, der Zeit eine Sprache zu geben, die auch außerhalb der Kirche gehört wurde. Sie predigte, dass die Menschen sich in ihren Worten wiederfanden. Dabei nahm sie kein Blatt vor den Mund.

1983, auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver, referierte sie: „Ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Erde kommt; einem Land mit einer blutigen, nach Gas riechenden Vergangenheit, die einige von uns Deutschen noch nicht vergessen konnten… Dieser Schmerz über mein Land, diese Reibung an meiner Gesellschaft kommt nicht aus Willkür oder weil ich sonst nichts Besseres zu tun hätte, es wächst vielmehr aus dem Glauben an das Leben der Welt, das mir in dem armen Mann aus Nazareth begegnet ist, der weder Reichtum noch Waffen besaß.“ Weil sie der Amtskirche dann auch noch „Militarismus“ und „Apartheitstheologie gegenüber der Dritten Welt“ vorwarf, verwundert es nicht, dass sich die Evangelische Kirche in Deutschland öffentlich auch von diesem Auftritt der ungeliebten Pastorin distanzierte.

Die drei Autoren des Buches arbeiten auch präzise den Anlass der „Politischen Nachtgebete“ heraus: Den letzten Anstoß dazu, sozusagen auf der Suche nach einer Gegenrede zu dem, was in der Welt geschieht, gab der Vietnamkrieg. Er politisierte die Gesellschaft in einem vorher so nicht gekannten Ausmaß. In den „Nachtgebeten“ rang man um die Sprache der Entgegnung. Steffensky verwies darauf, dass die Kirche den ganzen Menschen erreichen muss, dass der Mensch im Ganzen antworten muss, dass es also bei der Predigt nicht nur um das Seelenheil, um ein jenseitiges, ein späteres Heil gehen könne, sondern dass es auch um „sein individuelles und sein gesellschaftliches, sein leibliches und sein geistiges“ Wohl ginge.

Das ist der zweite Lernerfolg, den das Buch vermittelt: Das Konzept muss Einmischung beinhalten, Einmischung aus der Kirche heraus in die gesellschaftliche Realität. Im Ergebnis der Vietnamdiskussionen versandten die „Nachtbeter“ Briefe an die Bundestagsabgeordneten, die das Thema „Vietnamkrieg“ in den Bundestag hieven sollten. Sie schrieben an Bundeskanzler, Bundesaußenminister, Bundesverteidigungsminister etc. Sie verteilten Flugblätter vor den Gottesdiensten an deren Besucher. Das reichte schon für eine Beobachtung des Verfassungsschutzes.

2000 Menschen gingen zum Schweigemarsch am Karfreitag 1968 durch Kölns Innenstadt zum Heumarkt mit. Damit trug man das biblische Wort in eube Öffentlichkeit, die darauf wenig vorbereitet war. 1972 gingen die „Politischen Nachtgebete“ über in die Bewegung „Christen für den Sozialismus“, einer Bewegung, die im Chile der Allende-Zeit entstanden war. Es ging darum, die Welt in Richtung sozialer Gerechtigkeit zu verändern. Die „Politischen Nachtgebete“ wurden in ihrer Regelmäßigkeit eingestellt, werden aber in loser Folge bis heute gefeiert.

Dorothee Sölle schrieb in ihren Erinnerungen: „Sobald unsere Gruppe zu arbeiten begann, traten für fast alle Mitglieder unerwartete Schwierigkeiten mit ihrer Umgebung auf. Nachbarn hörten auf zu grüßen, Gespräche verstummten, Freundschaften lösten sich auf, Geschäftsbeziehungen gingen zurück. Manche wurden beschimpft und vom Trottoir gedrängt, als sie Flugblätter verteilten. … Meine Kinder, die den Telefonhörer zu Hause abnahmen, bekamen zu hören: Sag deiner Mutter, sie ist eine Sau, eine Kommunistensau!“

Der Leser erfährt auch, dass der Kölner Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Müller-Armack nach dem Besuch des Gottesdienstes des Mitbegründers der „Politischen Nachtgebete“, Pfarrer Frieder Stichler, ihn beim Kirchenpräses Beckmann anzeigte, dass im Gottesdienst von Stichler „eine Auflösung der Theologie in Politik und Ethik betrieben“ werde. Es ist unglaublich, welche Bereitschaft zur Denunziation in der deutschen Gesellschaft schon damals vorhanden war.

Ich bin ein langsamer Leser und habe Sie jetzt mal an einem Lese-Vergnügen teilnehmen lassen, das mir die Autoren Anselm Weger, Markus Herzberg und Annette Scholl bereitet haben. „Liturgie von links“, heißt das im Grever Verlag Köln erschienene Büchlein. Aus diesem Buch stammen auch die verwendeten Zitate.

Gestatten Sie mir noch diesen Nachtrag:

Der dritte Lernerfolg, den ich dem Buch verdanke: Wenn die Kirche eine Kirche für Jedermann sein will und aus diesem Grund konkrete Rede verweigert, verweigert sie sich dem Auftrag dessen, auf dessen Wirken sie sich beruft. Sie wird saft- und kraftlos, schlimmer, sie wird zum unwesentlichen Appendix und fällt am Ende aus der Gesellschaft. Zweimal in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war Kirche wesentlich: 1968 als Begleiter der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und 1989 als Begleiter der friedlichen Restauration in der DDR.

In der Flüchtlingsfrage, die von ähnlicher Brisanz ist, die ein Volk uneins machte, ja, die Völker innerhalb der EU uneins macht, hört man bis auf ein leises Geplätscher nichts. Die Angst der Kirchen, dass sie bei einem energischen Widerspruch zur offiziellen Flüchtlingspolitik sie ihre verbliebenen Mitglieder verliere, lässt sie eher schüchtern reagieren. Im Gegenteil, man überlässt, so sieht es zumindest aus, die „Rettung des christlichen Abendlandes“ den Pegida-Nachläufern, von Einzelbeispielen abgesehen, die es natürlich auch gibt, die aber zu wenig öffentliche Wirkung entfalten. Über die unrühmliche Rolle, die dabei eine Presse spielt, die mit menschenunwürdigen Begriffen wie „Flüchtlingskrise“ jongliert und damit, beabsichtigt oder nicht, die Minderwertigkeit des „ankommenden Menschenmaterials“ (wenn schon, muss man auch in der Diktion dieser Denkart bleiben) deutlich macht und die Bereitschaft zum Pogrom anstachelt, zu reden, ist leider nicht der Platz in diesem Artikel.

Der vierte Lernerfolg: Die Autoren haben das noch einmal sehr schön anhand des gesellschaftlichen Umfeldes des „Politischen Nachtgebetes“ herausgearbeitet, wie groß seit je die Bereitschaft in der Gesellschaft ist, durch Denunziation aus dem Angebot eines neuen Nachdenkens auszusteigen, durch anonyme Drohungen Einschüchterung zu versuchen. Es wird deutlich, dass das keine neuen Errungenschaft sind, der Shitstorm damals kam durch das Telefon, aber er kam. Politisch Missliebige wurden misstrauisch beäugt, in ihrer Karriere behindert oder wirtschaftlich unterminiert. Es gab das alles auch damals, auch in der Bundesrepublik.

Der fünfte Lernerfolg soll nun auch noch gesagt werden: Sölle sprach nicht mehr von einem allmächtigen Gott. Das ging für sie nach Auschwitz nicht mehr. Für sie war deutlich: Er ist angewiesen auf die Hände seiner Menschen. Aus der „Gottesliebe“ bezog sie ihre Kraft und ihre Geradlinigkeit. Diese Geradlinigkeit entsprang auch ihrer Vision von Solidarität. Eine Gesellschaft, die allein Wert auf Individualität legt, ohne gleichzeitig den Fokus auf die Rolle des Individuums innerhalb des Kollektivs zu legen, die keine Räume schafft, in der das Individuum die Erfahrung machen kann, wie es mit seinen Gaben und Möglichkeiten sich in einem Kollektiv verankern kann, schafft auf Dauer die Verantwortung des Einzelnen für die anderen ab. München ist dann die Spitze des Eisbergs, nicht mehr und nicht weniger.

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