Ludwig Schumann: Psalm 23 – das Zornlied

 In Ludwig Schumann, Poesie

“Der Herr ist mein Hirte” – diesen Psalm mussten/durften viele auswendig lernen

Der ehemalige Landpfarrer Ludwig Schumann legt diesem kraftvollen, bilderreichen Gedicht den berühmten 23. Psalm zugrunde. “Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichs mangeln”, “Dein Stecken und Stab trösten mich” oder “Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde” – diese Sätze haben sich tief eingeprägt. Der Dichter variiert und dekonstruiert sie hier im Angesicht einer weit weniger idyllischen Realität. Es entsteht geradezu ein Schnelldurchlauf durch jüngere gesamtdeutsche Geschichte: Der Untergang der DDR, die Überanpassung ehemaliger 68er, Krieg am Hindukusch, die Geldmacherei der Finanzindustrie, Gewalt gegen Demonstranten, die Toten im Mittelmeer und der Glaubwürdigkeitsverlust der Religionen – alles findet Platz in diesen Zeilen, die auch noch viel Raum für eigene Interpretation lassen. Klar wird: die kapitalistisch-bellizistische Megamaschine ist das glatte Gegenteil des vom Psalmendichter beschworenen Guten Hirten.

Der Herr ist mein Hirte, klagte die Freiheit.

Niemand deckt mir im Angesicht meiner Feinde den Tisch, den runden.

Sie haben ihn im August 1991 aufgekündigt, als der Sowjetstern im Wodka ersoff.

Seinen Stecken und Stab brauchten sie nicht mehr.

Als der Chor der Gutmenschenverächter in den Spiegel sah,
verwunderte er sich über die mangelnde Tapferkeit der Schwestern und Brüder in der sowjetisch besetzten Zone gegenüber dem ideologischen Feind.

Nicht fassen konnte er die Duldsamkeit hinter der Mauer und deren Schwester, das Selbstmitleid.

Nicht fassen konnte er seine Blindheit gegenüber allem, was auf der Kehrseite
des Traums von der gerechten Gesellschaft als deren Zerrbild heranwuchs.

Frisch gewaschen und gebügelt gaben die Altachtundsechziger
ihre alternativen Klamotten in der Kleiderkammer ab
verbrannten ihre Mao-Fibeln
und legten sich Armani-Anzüge zu, ehe sie in den Beichtstühlen der Talkshowrunden
sich lauthals von ihren Irrtümern reinigten.

Ausgeträumt wurde der kommunistische Traum nun im neoliberalen.

Zügellos verkam die Freiheit zum Flittchen der vaterlandslosen Gesellen.

Willig nagelten sie sich im neoliberalistischen Einheitschor
Die Freiheit der Ärmeren weltweit auf ihre eigenen Rücken
Und schlugen sich in vorauseilendem Gehorsam die Überwachungschips
selbst ins Knie.

Kein Wort ist zu hören.

Kein Ton kreist in den Himmeln.

Kein lautes Gebet mahnt Dringliches an.

Kein Seelenschrei klingt über das Land.

Um Gottes Willen, beschwören sie sich in gegenseitiger demütiger Verbundenheit,
lasst uns keine Pflastersteine mehr in die Hand nehmen.

Joschka soll sie künftig heißen, die Maßeinheit für die Anpassung.

Willig wollen sie Stecken und Stab nehmen, so nur die Bundeswehr ihn ausgebe
und die Kriegskanzlerin die Richtung weist, in der der Feind zu vermuten ist.

Die Heimat wird sie brav verabschieden, wenn unsere Marine auf ihren Befehl, gesegnet vom Parlament, aufbricht, um im Mare Nubium die Heimat zu verteidigen.

Das Wort vom Hindukusch im Tornister, rückt der Chor der Gutmenschenverächter
in der Uniform des Bundesgrenzschutzes aus, den wenigen Aufständigen in Davos, Genua oder Heiligendamm in ihrer Dreistigkeit Einhalt zu gebieten. Keine Gewalt heißt der Glaubenssatz, den man den festgenommenen Demonstranten in die Köpfe drischt.

Keine Gewalt tönt es aus den Lagerlautsprechern der Sonderproduktionszonen.

Keine Gewalt tropft es von den Decken auf die blutigen Finger der Näherinnen aus der Volksrepublik China, aus den Lautsprechern in Thailand oder anderswo.

Keine Gewalt heißt es da und keine Gewalt wird den Eltern abverlangt,
die zusehen sollen, wie ihr eigen Fleisch und Blut in Hunger verreckt,
den die Weltbank anstiftet, wenn ihre Banker krawattengestärkt und klimaveranlagt
dem Rand der Welt die Bedingungen der Existenz diktieren.

Sie haben den Frieden aufgekündigt.

Sie haben die Pflugscharen in Dividendenschwerter geschmiedet.

Sie decken den Tisch nicht, weder im Angesicht der Feinde noch im eigenen.

Keine Gewalt stöhnen sie, während sie sich an den virtuellen Geldströmen berauschen,
die in Echtzeit um den Globus rauschen.

Wer wollte da noch tradierten Werten nachhängen?

Eitle Träumer nur werden sich den Luxus leisten können, Geld durch eigne Arbeit zu verdienen.

Ewiggestrige jonglieren heute noch als Mühselige und Beladene mit knappen Vier-Prozent-Renditen. Schade um die Kost, die sie fressen, um die Luft, die sie atmen.

Im Namen der Freiheit der Wenigen sollte man ihnen Schutzzonen zubilligen
wie sie einst die Herero in der fast wasserlosen Omaheke-Wüste ihrem Schicksal überließen.

Wann, sagen sie, ist der Vorzug der Freiheit spürbarer als im unstillbaren Durst nach ihr?

Was, fragen sie, sollen wir machen, wir Kinder der Informationsgesellschaft? Was sollen wir tun mit den achtzig Prozent, die wir nicht bilden konnten? Wer soll sie durchfüttern?

Sollen wir ihn wirklich hinter uns herziehen müssen, diesen Rattenschwanz an Armut?

Kein Stecken und Stab trösten die Mauertoten an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, knapp gerechnet vierhundert im Jahr.

Kein Stecken und Stab trösten die Palästinenser jenseits der israelischen Mauer.

Kein Stecken und Stab trösten die ihre Angehörigen auf dem Mittelmeer verloren.

Kein Stecken und Stab und kein Thema ist das für die politische Bildung im Lande.

Sie haben der Welt den Frieden aufgekündigt und sich weltweit Sklaven genommen.

Sie ergehen sich in Zynismen über die Armut und kein Teufel ist weit und breit,
der die Bonisammler zur Hölle fahren lässt.

Sie haben den Frieden aufgekündigt und die Freiheit allianzversichert,
dass sie sich ja nie wieder rühre.

Sie hat ihren Dienst getan. Wir hielten sie hoch für uns.

Sie haben sich ihrer bemächtigt.

Hinter den selbst erschaffenen Gefängnismauern der Kirchen, Moscheen und Synagogen,
der Tempel und in den Hainen der Gottfrohen beten die Geistlichen aller Couleur.

Wenn dann die Gottableser kommen, die Energien zu berechnen, dann hofft man,
dass sie auch in diesem Jahr wieder die Risse im Glauben nicht entdecken mögen.

Kein Schrei soll zu hören sein. Eher drehe man der Taube, auf deren Flügeln die Revolution kommen will, den Hals um und steckt sie sich, Schnabel voran, in den Schlund.

Kein Schrei ist zu hören, kein Laut. Ein Knistern vielleicht.

Leise werden sich die Risse über´s Land legen, werden es aufreißen und verschlingen,
was an Unbrauchbarem im Lande gefunden wird.

Sie werden sie einsaugen, wortlos. Nicht einmal ein Augenaufschlag wird da zu sehen sein.

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