Ausnahmsweise will ich heute etwas sehr Persönliches schreiben, das sich auf Erlebtes mit unserem Sohn bezieht. Dies tue ich ausdrücklich nicht, um ihn zu heroisieren, woraus schnell bei ihm ein ungesunder „Ego-Kult“ entstehen könnte; und auch nicht, um uns, seine Mutter und mich, in einen Mittelpunkt zu rücken, als wären wir „ideale Eltern“ und würden beanspruchen, Beispiele für andere zu sein. Denn, ja, auch in unserem Zusammenleben gibt es Krisensituationen; und manchmal wird es sogar etwas lauter. Dennoch kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ein großer wechselseitiger Respekt und ein großes Vertrauen bestehen.
Weshalb nun diese Reflektion? Die Erfahrung, in unserem gemeinsamen Alltag einen Sohn und eine Tochter zu begleiten, bedingt, dass vieles sich wesentlich davon unterscheidet, was der Nachwuchs hierzulande üblicherweise erlebt: Beginnt nicht bereits mit der „normalen“ Schwangerschaft und der Geburt eine subtile Bevormundung des Menschen? Bedingt die Enteignung durch normalisierte Übertragung und Überantwortung auf dien Institutionen nicht, dass er sich ihnen zunehmend unterwerfen muss?
Zum wiederholten Erstaunen unserer Mitmenschen sind wir diesen Weg nicht gegangen: Der bangen Frage nach der bitte frühzeitig zu wählenden „Entbindungsklinik“ konnten wir begegnen mit der klaren Antwort: daheim! Ja, unser Sohn und unsere Tochter durften zuhause das Licht der Welt erblicken. Auf die nicht minder bange Frage, ob wir bereits einen Kindergartenplatz hätten, konnten wir ebenso antworten, dass unsere Tochter und unser Sohn erstens mit uns leben möchten; und sie zweitens im Leben soviel Interessantes fänden, auch soziale Kontakte hegten, dass es für sie gar unvorstellbar wäre, in eine Kinderaufbewahrungsanstalt „geschickt“ zu werden. An einigen Beobachtungen, die mich erfreuten, gar beglückten; und an anderen, die mich eher traurig stimmten, möchte ich gern schildern, was diese ganz grundlegende Entscheidung bedeutet und bedingt.
Mit meinem Ansinnen, als kritisch nachdenkender Philosoph und Vater das Verhältnis von jungen Menschen zu unserer Welt, zur Modernität, zuvörderst zu den „Normen der Normalität“ zu beleuchten, hege ich die Hoffnung, das Dargestellte werde nicht als arrogantes, besserwisserisches Belehren verstanden, sondern schlicht und einfach als Einladung an die Lesenden interpretiert werden, selbst auch kritisch über die Folgen ihrer jeweiligen Entscheidungen nachzudenken, die sie zumeist nur deshalb fällen, weil angeblich alle es so machen…
„Spielplatz“: welch seltsame Vorstellung!
Erste Station ist ein Ort, der als Spielplatz bezeichnet wird, da mitten im Sand viele Geräte, Wippen, Schaukeln, Rutschen sind – alles, was sich Fachleute ausgedacht haben, weil es als für unseren geliebten Nachwuchs gut und förderlich gilt. Hier sind fünf oder sechs Töchter und Söhne mit ihren Müttern — und, seltener, mit ihren Vätern; sie rennen und buddeln und schaukeln. Es ist verhältnismäßig ruhig. Plötzlich taucht eine Gruppe von vielleicht zwanzig Drei- bis Fünfjährigen auf, in Reih und Glied, in ihrer gelben Weste, auf welcher der Name des Kindergartens steht. Nach dem Ankommen müssen sie erst auf die Anweisungen der Betreuerinnen hören, danach ihre Rucksäcke und Taschen ablegen; und dann geht’s los: Der ganze Spielplatz verwandelt sich zu einem Ort der Unruhe, es wird geschrien, es wird um dies oder um jenes geschlagen — und die Ermahnungen der Betreuenden scheinen diese vibrierende Unruhe noch zu befeuern.
Wen wundert’s?
Ist es keine seltsame Idee, Drei- bis Fünfjährige zu einer Horde zusammenzupferchen, die deshalb so viele Stunden miteinander verbringen müssen, weil ihre Eltern — ob naiv oder wohlmeinend? — sie in diese Einrichtung „schicken“, während sie arbeiten, um angeblich das Geld zum Überleben verdienen zu können?
Einige, die wild umher gerannt, geklettert sind oder sich mit Sand beworfen haben, kehren nun zu ihrem Rucksack zurück, entnehmen ihm die obligatorische Flasche mit süßem Zeug und beißen in die Plätzchen oder Schokoriegel oder was auch immer: Das Zuckerhaltige wird ihrer Ruhe gewiss nicht dienlich sein…
Auf diesem Spielplatz gibt es eine sogenannte „Tunnelrutsche“, zu der zu gelangen erfordert, erst eine Strickleiter zu besteigen; dann durch einen lang aufsteigenden „Seil-Gang“ zu gehen. Gedacht für Menschen ab 6? Hier möchte ich eine Anekdote zu unserer zweijährigen Tochter erzählen: Denn selbstverständlich steigt sie ganz eigenständig diese Seiltreppe hoch und wandert durch diesen Gang, um durch den Tunnel jubelnd zu rutschen. Kürzlich fragte mich eine Mutter voll des Staunens, wie alt das Mädchen sei — und war ganz baff, dass sie dies so schaffe. Weshalb erzähle ich dies? Weil ich immerzu besorgte Mütter und/oder Väter oder Großeltern oder andere besorgte Erwachsene sehe, die ihrem Nachwuchs „helfen“, indem sie ihm die Füße halten, die Hände führen, den Po stützen… Merken sie nicht, wie kontraproduktiv ihre „Hilfe“ ist? Dass ihr Wohlmeinen die Selbständigkeit ihrer geliebten Tochter/ihres geliebten Sohnes nur untergräbt, weil deren Selbstvertrauen in die angeborene Kompetenz sich dadurch gar nicht entfalten kann?
Ich vergleiche ihre „Hilfe“ mit einer Krücke, die oftmals die Mobilität eines Menschen mehr einschränkt, als dass sie ihr dient… Die von mir postulierte Kompetenz wurzelt in meiner Überzeugung, dass Wollen und Können dasselbe sind: Wenn der junge Mensch nicht durch Zwangsbeglückung bevormundet wird, vermag er, das zu tun, was er will; und wenn er es will, kann er dies auch, selbst dann, wenn dies ab und zu mit Stürzen, Schmerzen, Tränen verbunden ist.
Diese Erfahrung mit staunenden Erwachsenen wiederholte sich bei anderer Gelegenheit an der Schaukel: Ich sehe da Mütter und/oder Väter — oder Omas/Opas… – ihren Nachwuchs zart „anschaukeln“ — und diese dann sich wundern, mit welchem Schwung unsere Tochter hin- und herschaukelt und hierbei zufrieden und beglückt lacht und jauchzt. Von der Schaukel ist sie einmal in den Sand gefallen, da wusste sie, dass es wichtig ist, sich fest zu halten. Auch diese Erfahrung des Fallens war für uns alle lehrreich: Es gab Tränen des Schrecks, doch nach wenigen Minuten der Umarmung wollte sie gleich wieder auf die Schaukel… Uns war erneut bewusst, wie sehr Können und Wollen zusammenhängen!
Übrigens: Ist nicht die bloße Idee eines Spielplatzes mehr als seltsam? Dass unsere Städte zunehmend unwirtlich geworden sind, wie bereits Alexander Mitscherlich es formulierte, bedingt doch nicht, dass es als Reaktion hierauf der speziellen Orte bedürfte — wo doch bitte sehr die ganze Welt für jeden Menschen, egal wie jung auch immer, ein Ort und eine Gelegenheit des lebendigen Spielens sein dürfte…
Test: „Wer viel misst, misst auch viel Mist“
Zweite Station: In manchen deutschen Bundesländern werden Vierjährige, die keinen Kindergarten „besuchen“, verpflichtet, sich einem sogenannten Sprachtest zu unterwerfen. Es soll sichergestellt werden, dass keine „Sprachdefizite“ die spätere gute Einschulung behindern. Einem solchen Test durfte ich beiwohnen. Vorab: Ich war entsetzt: Denn mit Sprache hat der Test so viel oder so wenig zu tun wie die Vorstellung, das große Schiff im Meer könnte plötzlich fliegen, um sein Ziel schneller zu erreichen. In Wahrheit ein Test zur Prüfung der Wohlerzogenheit: eine Vorahnung, was den jungen Menschen erwartet, wenn die Institution Schule ganz im Sinne der zivilisatorischen Anpassung ach wie erfolgreich wirkt.
Ich denke, jeder gesunde Mensch würde, ja müsste sich solch entwürdigender Prozedur entziehen… doch da es um Menschen geht, denen Würde, Selbstbestimmtheit, Kompetenz und so weiter ohnehin abgesprochen werden, um sie zu sogenannten „Kindern“ zu beleidigen, kann das pädagogische Alibi für diese strukturelle Gewalt herhalten. Protest hiergegen? Verfahren gar gegen die verfassungswidrige staatliche Übergriffigkeit? Fehlanzeige! Im Gegenteil: Hierzulande scheinen mehr Mütter und Väter weitere „pädagogische Förderung“ zu fordern — und folglich noch mehr Testungen, auf dass die „Normen der Normalität“ — wider besseres Wissen — gewahrt bleiben… Hier von „struktureller Gewalt“ zu sprechen, scheint mir sehr angebracht, gerade deshalb, weil diese „normalisiert“ worden ist. Mir unverständlich…
Schaufel statt Schaukel
Dritte Station an einem anderen Tag und einem anderen Ort: In Begleitung ihrer Mutter und ihres Vaters kommen Sohn und Tochter an einem schön gelegenen Spielplatz am Rande eines Waldes vorbei. Obschon an diesem Nachmittag die Sonne scheint, ist der Spielplatz verwaist. Am Rande des Spielplatzes, an der Kreuzung zweier Waldwege, vor einem großen Baumstamm, da wo Regenwasser einen kleinen Teich bildet, da beginnt mein etwa fünfjähriger Sohn mit einer echten, großen Schaufel, deren Stiel fast doppelt so groß ist wie er, ein Loch zu buddeln; und mit einer echten Maurertrüffel verbreitert er sein Loch und befestigt die Seitenwände. Offensichtlich hat unser Sohn beobachtet, wie diese Schaufel fachmännisch zu handhaben ist, denn er geht ganz professionell damit um.
Neben dem Loch wächst der Haufen mit der ausgebuddelten Erde. Dann tritt der etwa fünfjährige Bub in das Loch und befestigt mit seinen Stiefeln den Boden: mit welcher Sorgfalt, Ausdauer und Kompetenz geht er vor! Ich gestehe, dass mich dieser Anblick fasziniert hat — und ich mich zwischendurch fragte: Was wäre, wenn unser Sohn seine Zeit in einer Einrichtung verbringen müsste, die ihn — gewiss wohl*meinend*, aber nicht wohl*tuend* — verkindischen würde?
Kennen Sie eine Kinderaufbewahrungsanstalt, die echtes Werkzeug zur Verfügung stellt, um echte Löcher buddeln zu können? Ausgeschlossen, denn der Würdigung, der Kompetenz des handelnden Menschen steht die angebliche Verantwortung der Erziehenden gegenüber, die zur angeblichen Unfallvermeidung nur Plastikzeug anbieten.
Ist dieses „Zeug“ keine Einladung zur Verstümmelung des ungeeigneten Instrumentariums?
Ein Nachtrag: Nachdem unser Sohn „sein“ Loch und, daneben, den Haufen Erde anschaute und über sein Werk zufrieden schien, wandte er sich anderem zu. Würde er nun auf dem Spielplatz schaukeln oder rutschen? Nein, er widmete sich den Ästen, die eine Art Brücke über das am Spielplatz vorbei plätschernde Bächlein bilden. Die Konzentration auf die neue Aufgabe zeigt, wie unnötig ein Spielplatz für aktive, kreative junge Menschen ist, wenn in einer interessanten Welt tolle Entdeckungen und magische Erfahrungen möglich sind… Ach ja, dies noch: Nachdem unser Sohn sein Loch verlassen hatte, hat seine Mutter das Loch wieder gefüllt, damit niemand, zu Fuß oder auf dem Fahrrad, etwa im Dunkeln der Nacht, hierbei zu Schaden komme.
„Alle sagten, es geht nicht; dann kam einer, der wusste es nicht — und hat’s gemacht“
Vierte Station: Kürzlich war ich in einem europäischen Land, das für deutsche ideologische Vorstellungen womöglich als rückschrittlich gelten könnte, weil es dort keinen „Schulgebäudeanwesenheitszwang“ gibt. Mir fiel auf, wo überall junge Menschen zu sehen waren, die ganz konzentriert sich ihren Aufgaben widmeten. Ich sah sie auf der Straße und an öffentlichen Plätzen; in Büchereien und in universitären Hörsälen; in Wäldern oder auf unterschiedlichen Bauernhöfen, hoch oben auf den Traktoren sitzend oder mit der Schubkarre aus dem Stall den Mist ausfahrend; im Schwimmbad oder an den Stränden… Wie engagiert zeigen sich diese Menschen, die schlicht und einfach leben und hierbei das entdecken, erringen, praktizieren, was nicht allein ihrem Alter gemäß ist, sondern was vor allem ihren Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen ebenso wie kulturellen und sozialen Erfordernissen folgt.
Von Verkindischung, aber auch von Überforderung keine Spur! Es ist offensichtlich, dass hier die gesamte Gemeinschaft darin involviert ist, dem Nachwuchs optimale Chancen zu bieten und zu lassen. Leider komme ich an dieser Stelle nicht umhin, einen — hinkenden? — Vergleich anzustellen: Wie kontrastiert der feurige Blick, die Energie, die Kompetenz, die ich bei jenen jungen Menschen sah — offensichtlich Ausdruck des ihnen entgegengebrachten Vertrauens — mit dem zumeist „leeren Blick“, den ich bei so vielen Schülerinnen und Schülern hierzulande beobachte? Ihre Existenz besteht zuvörderst aus einem öden, fremdbestimmten Schulprogramm. Bedarf dieser traurige Kontrast eines weiteren Kommentars?
Wundersame Begegnungen
Fünfte und sechste Station, zurück in Deutschland, um von zwei Begebenheiten zu berichten. An einem Vormittag kommen mein Sohn und ich bei einem Spaziergang durch die Stadt an einer Baustelle vorbei, an der ein Saugbagger zugange ist. Keine Rede davon weiterzugehen: Es fasziniert uns beide, wie dieser Saugbagger ein immer tieferes Loch aussaugt. Nach einiger Zeit fällt es den Bauarbeitern auf, dass ein Junge sie und ihr Wirken ganz aufmerksam beobachtet; da kommt der Chef, der die Fernsteuerung bedient, auf den etwa vierjährigen Jungen zu, erläutert ihm, wie seine Fernsteuerung funktioniert: Ansteckende Begeisterung. Plötzlich zieht der Bauarbeiter die Fernsteuerung von seinem Bauch und übergibt sie dem Jungen, der nun saugen soll. Da er zuvor alles genauestens verfolgt hat, weiss er, worum’s geht und wie’s läuft. Doch dann — Gipfel meiner Überraschung! — kommt ein anderer Bauarbeiter und bringt dem Jungen einen Helm: als Hörschutz. Das Weitere lässt sich gut vorstellen. Es war nicht nur eine lebenswichtige Erfahrung für meinen Sohn; sondern auch für die Bauarbeiter, die sich in ihrem Wirken und Werken gewürdigt fühlten.
Die zweite Anekdote – ich kann mich kürzer fassen – spielt sich wiederum an einer großen Baustelle ab: Durch seine wiederholten und interessierten Besuche ist es den Bauarbeitern aufgefallen, dass ein Junge immer wieder da steht. Mit der Zeit hat sich mein Sohn sogar mit dem Oberpolier „angefreundet“ — dies mündete dahin, dass der Chef der Baustelle ihn auf seinen kleinen Frontlader, später auf seinen Bagger einlud. Wann hätte hierzulande ein junger Mensch von vier-fünf Jahren, der seine Zeit in einer „Kinderbetreuungsstätte“ totschlagen müsste, so Großartiges erleben können? Dass solche Erlebnisse nachhaltig wirken, zumal auf dem Gefühl beruhend, dem Nachwuchs werde Vertrauen geschenkt, versteht sich wohl von selbst…
Doch möchte ich von einem weiteren Erlebnis kurz berichten: In der Nachbarschaft wird Estrich verarbeitet — unser Sohn nimmt seine Schaufel und arbeitet im Sand, dann einen großen Besen und wischt den Bürgersteig. Ein Arbeiter sieht dies, nimmt aus seinem Geldbeutel einen zehn-Euro-Schein und übergibt ihn ihm. Vor wenigen Tagen bekam er bereits fünf Euro dafür, dass er — ganz freiwillig — einem Mann half, leichte Regalbretter in den Wagen zu tragen. Es geht nicht um „Geld-Geilheit“, sondern um die spontane Reaktion, die ein Fünfjähriger weckt, der sich freiwillig und freudig da oder dort ernsthaft einbringt. Würde dies „Kita-Kindern“ widerfahren? Nein, gewiss nicht…
„Ohne Schule wird aus dir nix!“: das Wiederholen der Lüge macht sie nicht wahrer…
Siebte Station: Im Rahmen meiner publizistischen Tätigkeit wurde ich zu einem Vortrag für die „höheren Jahrgänge“ eines „vornehmen“ Gymnasiums eingeladen. In die große Aula strömten dutzende von 14-, 15- oder 16-jährigen, die zufrieden schienen, dass mein Vortrag ihnen zwei bis drei Unterrichtsstunden ersparte. Während ich meinen Vortrag zu einem die Anwesenden unmittelbar treffenden und betreffenden Thema halte, beobachte ich „mein“ Publikum, das unruhig, gelangweilt dasitzt. In mir wächst das Gefühl, an ihnen vorbeizureden: Kein Interesse? Was würde sie begeistern? Wofür würden sie brennen? In meiner Ratlosigkeit und Enttäuschung beende ich verfrüht meine Ausführungen und lade zum Dialog ein: großes Schweigen. Dann meldet sich eine, die mich fragt, weshalb ich so viele Fremdwörter gebrauche.
Staunen meinerseits, achte ich doch pingelig darauf, eben nur deutsche Begriffe zu verwenden. Ach so, ja! Ist für Jugendliche offenbar die deutsche Sprache in all ihrer Vielfalt bereits eine Fremdsprache geworden? Nicht nur ist dieser Verlust an kultureller Identität an sich tragisch; der Einwand kam von einer Gymnasiastin, die vielleicht acht oder neun Jahre beschult worden ist: Wie Schulbehörden und Gerichte immer wieder formulieren, sei die Schule erforderlich, um junge Menschen in unsere Kultur und Tradition einzuführen, die ihnen Halt und Verankerungen geben sollen. Die Anmerkung dieser Gymnasiastin scheint mir die schallende Ohrfeige für das offensichtlich gescheiterte „Experiment Schule“ zu sein… Selbstverständlich bin ich nicht davor gefeit, dass mich jemand wegen meines wertkonservativen Achtens auf Sprache bezichtigt, einer nationalistischen „Boden-Ideologie“ zu huldigen – mit der ich wahrlich nichts zu tun habe!
Dann meldet sich ein Schüler und geht auf meine vorgetragenen Ausführungen ein, bestätigt ihre Inhalte und geht sogar da und dort einen radikalen Schritt weiter in Richtung Ausbruch und Wandel. Ich bin beeindruckt — und höchst beglückt. Nach Beendigung der Veranstaltung, nachdem die Schülerschaft brav zu ihrem gewohnt gelangweilten Alltag zurückgekehrt ist, erkundige ich mich, wer dieser Junge ist. Die befragte Lehrerin und der Lehrer halten sich seltsam bedeckt. Nach Schulschluss treffe ich nochmals auf „höhere Jahrgänge“, die dem Vortrag beiwohnten, und nutze die Gelegenheit, um mich nach diesem Jungen zu erkundigen. „Ach, Sie meinen den Bekloppten?“ „Ja, mit seinen seltsamen Ansichten eckt dieser Typ überall an!“
Soweit sind wir also:
An unseren Schulen werden Menschen, die sich ein eigenes, sogar kritisches Urteilsvermögen nicht haben abgewöhnen lassen, für verrückt erklärt und an den Rand geschoben.
Etwas verwirrt über solch subtile Diskriminierung stelle ich mir die Frage, in welcher Weise der postulierte Anspruch einer Schule als Ort des demokratischen Bewusstseins, des unbedingten Respekts vor der Selbstbestimmtheit und Würde und Kompetenz eines jeden Menschen, mit den herrschenden „Normen der Normalität“ vereinbar sein soll: Glauben die Vertreter und Verfechter und Verteidiger dieses obligatorischen Schulsystems wirklich an das, was sie behaupten und postulieren?
Unsere „Zuvielisation“ in der Sackgasse: eine Chance?
Ist den meisten Menschen inzwischen nicht klar und deutlich geworden, dass ein „Weiter-so“ unmöglich ist? Ein Nachdenken darüber, wohin der erforderliche Wandel gehen könnte, steht mir gewiss nicht zu. Obwohl dieser Wandel auch in einen dramatischen Untergang münden könnte, möchte ich, da von Natur her zuversichtlich, davon ausgehen, dass die Menschheit eine — selbst wenn derzeit noch nicht vorstellbare oder sichtbare — Erlösung finden wird. Doch stellt sich mir vor dem Hintergrund einer tiefen Sorge die kritische Frage: Wer könnten die Akteure dieses Wandels sein? Ist in den letzten Jahrzehnten kein so tiefdringendes manipulatives System verankert worden, dass Natürliches, Lebendiges, Menschliches zur absoluten Ausnahme gemacht wurden? Dieses System von subtiler Manipulation beginnt mit der Enteignung von Schwangerschaft und Geburt, indem den betroffenen Frauen schreckliche Ängste eingejagt wurden und nach wie vor werden — wo stattdessen Vertrauen in die natürliche Kompetenz Not-wendend wäre! Diese systemische Enteignung wird folgerichtig fortgeführt:
Wie sieht es mit dem Stillen aus? Wie gesund ist das Verhältnis des Babys zu Mutter und Vater? Zwingt die zivilisatorische „Bequemlichkeitsideologie“ zur Nutzung von (Wegwerf-)Windeln? Wie sieht es mit Impfungen aus? Dem folgen — ganz „logisch“? — die Fremdbetreuung, die bei der „Tagesmutter“ oder im Kindergarten beginnt und später — mit dem Alibi des gesetzlichen „Schulgebäudeanwesenheitszwangs“ — zig Jahre in der Schule fortgeführt wird: Ist es nicht naheliegend, dass jener Mensch, der die ersten Jahre seines Lebens unter solchen Bedingungen verbracht hat, höchst wahrscheinlich danach trachten wird, sich wohlerzogen zu fügen, um in den Genuss der versprochenen Gratifikationen zu gelangen? Der so gepriesene Erfolg bedeutet Vorwärtskommen, sprich: Aufstieg in der Arbeit, sprich: Geld und daher Konsum und Prestige… Nein, es darf nicht sein, dass just dieser Erfolg durch den Wandel infragegestellt würde.
Dennoch könnten zwei Momente oder Faktoren nicht ignoriert werden, die, obwohl auf Anhieb dramatisch erscheinend, Anlass zur Zuversicht bieten. Zum einen gelingt der zivilisatorische Anspruch der wohlerzogenen Unterwerfung nicht bei allen Menschen; einige erkennen, zu welchem Zeitpunkt ihres Lebens auch immer, die Lüge, mit welcher dieses System unentwegt operiert, doch sie weigern sich, dieser allgemeinen Lüge ihren Glauben zu schenken. Bisher wurden solche Menschen marginalisiert und stigmatisiert, doch könnte ihr Selbstbewusstsein auch bewirken, dass sie aus ihrer Haltung Innovatives und Prospektives schaffen, welches dem Sterilen, Morbiden oder Sterbenden der „Zuvielisation“ entgegensteht. Wenn es gelingt, diese Menschen einer — sowohl gesellschaftlichen wie staatlichen — Kriminalisierung zu entziehen, werden sie alsbald zu Leuchttürmen eines anderen Lebens – und in ihrer Kompetenz und ihrem Selbstvertrauen können sie eine ansteckende Wirkung haben. Meines Erachtens könnte der bekannte Spruch sie kennzeichnen: „Alle sagten, es geht nicht; dann kam einer, der wusste dies nicht und machte es…“
Zum anderen gibt es immer mehr Menschen, die zumindest eine Unzufriedenheit, eine Enttäuschung erfahren. Diese wird oft als „Krise“ umschrieben. Sie drückt sich etwa im Leben, in der Partnerschaft, im Beruf aus; oder in Gestalt von Unfällen; oder in Albträumen; oder als sogenannte Krankheit, die in Wirklichkeit eine gesunde Reaktion des rebellierenden Organismus gegen ungesunde, pathogene Faktoren darstellt. Worauf ich damit hinweisen möchte:
Jeder Mensch ist und bleibt sein Leben lang ein Subjekt, das mehr oder minder gut in die Rolle des Objekts gedrängt wird; doch in seinem Kern ist und bleibt er ein Subjekt, das in einer entsprechenden Situation aus der künstlichen Rolle des Objekts ausbrechen und sich zur Wahrheit seines Wesens bekennen könnte.
Vielleicht darf ich hier ein dramatisches Beispiel anführen, das ich selbstverständlich nicht verallgemeinern will. Mir sind etliche Menschen bekannt, die an einem Krebs „erkrankten“; sie nahmen jedoch das Symptom zum Anlass, einige Grundfragen zu stellen und eine radikale „Klärung“ und einen Ausbruch aus der normalisierten Lüge anzustreben; hierbei wurden sie gut begleitet durch Menschen, die sich nicht am Symptom orientierten, um dieses zu bekämpfen, sondern die für eine gesunde Einstellung und für entsprechende Mittel sorgten. Oh Wunder: Alle Spuren von Krebs waren verschwunden, weil der Organismus wieder atmen, sich völlig regenerieren und genesen konnte.
Mit dieser Schilderung möchte ich weder die angebliche Krankheit verharmlosen noch die angeblich Betroffenen anklagen; vielmehr geht es darum, „Krebs“ in einem systemischen Kontext zu analysieren, um andere als die üblichen, leider zumeist dramatischen — oder tödlichen? — Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Frage, die sich mir stellt, könnte vielleicht so lauten: Sollte diese „zivilisatorische Krankheit“ ebenso wie andere damit zusammenhängen, dass Menschen in ihrer Subjekthaftigkeit angegriffen, be-leid-igt, bevormundet, „zwangsbeglückt“ oder „vergewohltätigt“ worden sind? Wäre es da nicht naheliegend zu erkennen, wie wesentlich es ist, jedem Menschen mit dem selbstverständlichen Respekt vor seiner Selbstbestimmtheit, vor seiner Würde, vor seiner Kompetenz, vor seinen sozialen und solidaren Fähigkeiten und Bedürfnissen zu begegnen: von Anfang an? Waren diese nicht die Vorzeichen einer freiheitlich demokratischen Lebensform? Sollten diese nicht unserem kulturellen Selbstverständnis entspringen und entsprechen?
Die sich mir stellende Grundfrage dürfte sein: Warum bedarf es dieses „Umwegs“ im Leben der Menschen? Dass die Verfremdung oder Enteignung ein für das zivilisatorische System profitables Geschäftsmodell ist, muss doch nicht zwangsläufig bedingen, dass Menschen ihr Leben, ihre Menschlichkeit, ihre ethischen Ideale auf dem Altar der Wohlerzogenheit opfern. Ich könnte diese Selbstkasteiung noch nachvollziehen, wenn sie wirkliche, substanzielle Vorteile brächte. Ist die Mutter, die ihre brüllende Tochter oder ihren rebellierenden Sohn der Tagesmutter übergibt, um im Supermarkt als Kassiererin Geld zu verdienen, wirklich glücklich? Ist der Vater glücklich, der morgens um 6 Uhr das Haus verlässt und gegen 19 Uhr zurückkehrt, sodass er kaum etwas vom Leben seines Nachwuchses mitkriegt? Gefällt es den Eltern, dass sie über die Schule hinaus auch noch für die kindertherapeutischen und die Nachhilfestunden und weitere schulbedingten Probleme sorgen müssen – alles Probleme, die mit einer bestimmten Ideologie zusammenhängen? Es deutet alles darauf hin, dass der einmal eingeschlagene „Um-Weg“ den nächsten „Um-Weg“ bedingt, der größer sein wird; und dieser wiederum weitere, noch größere „Um-Wege“ mit sich bringt… Doch wofür?
Darf die Frage auch mal anders herum gedacht gestellt werden? Was kann jenen Menschen widerfahren, die anders als gemäß den von der Gesellschaft geforderten „Normen der Normalität“ aufwachsen? Ist es nicht geradezu ein positives Merkmal der Besonderheit, dass ihre „Nicht-Normalität“ ein Zeichen ihres natürlichen Genies, ihrer angeborenen Kompetenz, ihres nicht-gebrochenen Selbstbewusstseins ist? Weshalb muss der Mensch erst zu einem anonymen Massentier degradiert werden, bevor er sich darauf besinnen kann, dass er als Mensch ein Subjekt ist und deshalb so gesehen und behandelt werden will und darf? Also, wieder: Wofür der Umweg?
Auf geradem Wege zum gedeihlichen Leben?
Mit der Schilderung einiger Erlebnisse ging es mir nicht darum, irgend jemanden zu heroisieren oder ein Beispiel darzustellen, dem es nun zu folgen gilt; vielmehr ist es mir ein Bedürfnis gewesen, darauf hinzuweisen, welche „Wunder“ geschehen können, wenn andere Wege des Lebens gegangen — richtiger: gelassen werden: „Wunder“ für die frühen Erlebnisse des betroffenen Menschen und „Wunder“ in den Begegnungen mit anderen Menschen, also in der ansteckenden Wirkung, die der Dynamik des Seins innewohnt. Das „Wundersame“ hierbei dürfte sein: Jeder Mensch ist jederzeit ein Träger und Präger solcher Wunder! In dem Maße, wie wir aufhören, das Leben, den Menschen – da insbesondere den als „Kind“ diffamierten jungen Menschen — beherrschen, führen zu wollen, kann sich das Lebendige entfalten und gedeihen.
Es würde mich beglücken, wenn meine Ausführungen als Einladung zu einer (selbst-)kritischen Reflektion verstanden wären: Auf dass wir den jungen Generationen nicht ihr potentielles Leben „versaubeuteln“, indem wir sie den angeblich herrschenden „Normen der Normalität“ unterwerfen und ihnen als uneinlösbare! Hypothek die Sackgasse unserer zivilisatorischen Existenz aufbürden. Wenn wir unseren Nachwuchs lieben, sollte dies uns dringend und drängend dazu bewegen, ihnen „die Luft zum freien Atmen“ zu lassen und die Chance zu schenken, dass sie — gemäß der menschlichen Natur! — kreativ, innovativ und aktiv sind. War womöglich dies gemeint, wenn es im 2. Korinther-Brief sinngemäß heißt: „Das Alte ist vergangen, siehe da, es ist alles neu geworden“?