Masken der Macht
Überall können wir die destruktive Wirkung von Macht beobachten, dennoch erhebt sich kaum einmal eine Stimme, die die Macht selbst in Frage stellt. Immer wird die Fiktion aufrecht erhalten, es müsse bloß der „Richtige“ ans Ruder kommen, dem wir uns dann freudig unterwerfen können. Machtgier wird sich ihrer selbst nicht gern bewusst. Daher tritt Macht selten völlig unmaskiert auf, beruft sich gern auf „Verantwortung“ oder das „gemeinsame Wohl“. Andere um des eigenen Lustgewinns willen zu unterwerfen und zu demütigen, steht in einem schlechten Ruf. Wer dieses krankhafte Bedürfnis verspürt, gesteht es nicht gern offen ein – nicht einmal sich selbst gegenüber. Macht über die Seelen ist im Vergleich zur Macht über die Körper (etwa durch militärische und polizeiliche Gewalt) die mildere, die weniger hässliche Variante. Wer Schuldgefühle in die Herzen der Menschen zu pflanzen vermag, der muss niemandem Handschellen anlegen; er fesselt ihn gleichsam mit unsichtbaren Seilen. Roland Rottenfußer„Was ihr Recht nennt, nenn ich Macht“, sang Konstantin Wecker. Rechtssysteme sind oft eine Maske der Macht. Und ebenso verhält es sich mit moralischen Normen. Macht definiert, was Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld ist. Propagandamacht verankert unauslöschlich in unseren Köpfen, dass das Gesetz gut, der Gesetzesverstoß jedoch böse ist. Im Wettstreit zwischen verschiedenen Wertvorstellungen hat stets diejenige bessere Chancen, sich durchzusetzen, die die Macht auf ihrer Seite weiß. Den „Wilderer“, der ein Reh schießt, um seiner hungernden Familie ein Essen zu beschaffen, und den Jäger, der dasselbe tut, um den Bauch seines Grundherrn noch weiter anschwellen zu lassen, unterscheidet ihre unterschiedliche Nähe bzw. Entfernung zur Macht.
Wir können uns Machtausübung als lustvoll vorstellen. Wäre es anders, könnte die Geschichte des menschlichen Strebens nach Dominanz kaum angemessen gedeutet werden. Es muss eine Art giftiger Befriedigung verschaffen, sich einen fremden Willen zu unterwerfen. Zudem ist Machtausübung eine Energiequelle. Macht stärkt den Mächtigen und schwächt den der Macht Unterworfenen. Wir können das leicht überprüfen, indem wir uns an die unterschiedlichen Gefühle erinnern, die die wir haben, wenn in einem Konflikt siegen oder unterliegen. Machtlust steigert sich im selben Maß, wie eine Machtposition gegen Widerstände errungen wurde. Wie der Sieger beim Kartenspiel den Einsatz aller Unterlegenen für sich beanspruchen darf, verleibt sich der Gewinner in einem Machtkampf gleichsam die in den Kampf investierte Energie der Verlierer ein.
Neben Geld ist Macht der wichtigste „Krankheitsgewinn“, den Menschen aus einem nach meiner Ansicht tatsächlich kranken Justizsystem ziehen können. In dem spirituellen Bestseller „Die Prophezeiungen von Celestine“ gibt es eine Szene, während der der Sieger dem Verlierer in einem verbalen Gefecht buchstäblich die Lebensenergie absaugt. Ich glaube, hinter diesem drastischen Bild steckt eine (zumindest symbolische) Wahrheit. Der Energiegewinn ist für den Sieger umso größer, je mehr beide (einem Kartenspiel vergleichbar) vorher an Energie investiert haben. Der Sieger trinkt gleichsam das Blut des Besiegten, um sich seine Kraft einzuverleiben.
Macht erweitert die Persönlichkeit des Mächtigen um den Unterworfenen. Ersterer muss sich seiner Einsamkeit dann nicht mehr stellen, weil er mit seinen Untergebenen in einer Art symbiotischen Einheit lebt. Alle sind „in einem Boot“, aber der Mächtige kann den Kurs des gemeinsamen Bootes allein bestimmen. Seine „Mannschaft“ repräsentiert gleichsam sein erweitertes Ich. Einen Exerzierplatz mit tausenden aufmarschierten Soldaten oder gar ein ganzes Land befehligen zu können, erweitert das Ego eines emotional defizitären Menschen ins Unermessliche. Gerade beim Exerzierplatz zeigt sich zugleich die nekrophile Tendenz der Macht. Sie degradiert Unterworfene zu toten Objekten. In diesem Sinn prägte der Gründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola den furchtbaren Begriff „Kadavergehorsam“. Der Gehorsam gegenüber der Kirche, dem Papst und dem Orden sollte so absolut sein, dass man den Gehorsamen ohne jede Spur von Eigenwillen herumzerren konnte – wie einen Leichnam, der seinem Träger ja auch keinen Widerstand entgegensetzen kann.
Macht erleichtert es dem Mächtigen, ein grandioses Selbstbild aufrecht zu erhalten. Da Machtlose es meist scheuen, einen Mächtigen offen mit seinen Fehlern zu konfrontieren, gelingt es diesem oft, gleichsam den Spiegel zuzuhängen, der sein hässliches Gesicht zeigen könnte. Macht scheut meist die Wahrheit, der Mächtige ist deshalb ebenso schwach wie er – aus anderem Blickwinkel – stark ist. Stark ist er darin, die Wahrheit über sich selbst abzuwehren, indem er andere seinem Willen unterwirft; schwach ist er, weil er es nicht schafft, diese Wahrheit zu ertragen und andere Wahrheiten neben der seinen gelten zu lassen. Macht sucht stets die größtmöglicher Kontrolle. Wer nach Macht strebt, ist oft zu schwach sich einer Situation zu stellen, die er nicht kontrollieren kann.
All dies zeigt, dass kranke, stark defizitäre Menschen Macht mit größerer Wahrscheinlichkeit anstreben als gesunde, dem Leben zugewandte Personen. Freilich ist unsere Gesellschaft derart hierarchisch organisiert, dass auch einem psychisch gesunden Menschen aufgrund seiner Fähigkeiten oder aufgrund von Glück eine Machtposition „zufallen“ kann. So er diese nicht krampfhaft und völlig skrupellos angestrebt hat und sie nach bestem Wissen auf menschliche und kooperative Weise gestaltet, kann er all den Fallstricken entgehen, die ich zu skizzieren versucht habe.
Was haben diese Überlegungen nun mit unserem Thema „Schuld“ zu tun? Machtgier wird sich ihrer selbst nicht gern bewusst. Daher tritt Macht selten völlig unmaskiert auf, beruft sich gern auf „Verantwortung“ oder das „gemeinsame Wohl“. Andere um des eigenen Lustgewinns willen zu unterwerfen und zu demütigen, steht in einem schlechten Ruf. Wer dieses krankhafte Bedürfnis verspürt, gesteht es nicht gern offen ein – nicht einmal sich selbst gegenüber. Macht über die Seelen ist im Vergleich zur Macht über die Körper (etwa durch militärische und polizeiliche Gewalt) die mildere, die weniger hässliche Variante. Wer Schuldgefühle in die Herzen der Menschen zu pflanzen vermag, der muss niemandem Handschellen anlegen; er fesselt ihn gleichsam mit unsichtbaren Seilen. Wer mit Schuldgefühlen regiert, muss den Menschen, über den er Macht ausübt, nicht schlagen; er bringt ihn dazu, sich selbst mittels seiner Gedanken zu geißeln – oft mit unvorstellbarer psychischer Grausamkeit.
Ungerechte Schuldvorwürfe sind diejenige Form von Gewalt, mit der der Gewalttätige am besten leben und vor sich selbst bestehen kann. Jemandem Schuldgefühle einzuimpfen, ist eine besonders wirksame Art, Macht über die Seelen auszuüben. Daher ist sie in der Menschheitsgeschichte – und auch in ungezählten privaten Beziehungen – immer wieder erprobt worden. Es ist eine Form der Tyrannei, die zugleich wirksam jeden Widerstand gegen sich im Keim erstickt. Der ideale Staatsbürger ist eigentlich der Gefängnisinsasse, weil dieser seine Entrechtung klaglos hinnimmt, in der Annahme, nicht seine Peiniger, sondern er selbst sei für seine Misshandlung verantwortlich.
Ich spreche hier einen extremen seelischen Schattenbereich an. Viele werden vielleicht finden, dass ich übertreibe. In der Tat wäre es auch ungerecht, jedem Lehrer, Meister oder Chef Grausamkeit oder krankhafte Machtgier zu unterstellen. Diese tritt nur selten in Reinform auf; allerdings sind Spuren davon auch in der Alltagskommunikation oft zu beobachten. Auch „normale“ Menschen sind nicht frei davon. Wenn es um die Lust am Schuldigsprechen geht, müssen wir auch die Grausamkeit dieses Vorgangs ins Auge fassen. Friedrich Nietzsche hat diesen Punkt in seinem Buch „Genealogie der Moral“ sehr schlüssig dargestellt. Er nimmt an, dass eine raubtierhafte, natürliche Grausamkeit in der Seele aller Menschen latent vorhanden ist. Diese Grausamkeit ist zwar durch die Zivilisation gebändigt worden, bricht aber unter der dünnen Hülle der Kultur hervor, sobald Vorwände auftauchen, die es dem Menschen erlauben, andere mit guten Gewissen zu misshandeln.
Gesucht wird also eine Argumentationsstrategie, die es dem Misshandelnden erlaubt, sein schlechtes Gewissen auf den Misshandelten zu übertragen. Ein häufiger Vorwand für Grausamkeit mit gutem Gewissen ist die Annahme, dass es sich bei dem Opfer um einen (tatsächlich oder vermeintlich) Schuldigen handelt, der „es nicht besser verdient hat“. Diesen darf man dann nach Belieben beschimpfen, bespucken, berauben, demütigen und einsperren. Da die Grausamkeit nie ganz verschwindet, vom Menschen aber als uneingestandener Schatten nicht freimütig ausgelebt werden kann, stellt die Existenz von „Schuldigen“, ein willkommenes Ventil dar. Es wird immer solche Sündenböcke geben, die der anständige Mensch „als ein Unter-sich verachten“ darf (Nietzsche), denen er sich also moralisch überlegen fühlen kann. Dort wo sich Grausamkeit nicht körperlich Bahn bricht, will sich zumindest das menschliche Grundbedürfnis nach Verachtung an einem „Verachtenswerten“ ausagieren dürfen, so Nietzsche. Ein sehr pessimistisches Menschenbild liegt dieser Philosophie zugrunde. Eine Spur von ihrer Wahrheit können wir jedoch sicherlich in unserer Gesellschaft wie auch im Alltag entdecken.
Was bliebe von Schuld bewirtschaftenden Institutionen übrig, wenn sie nicht mehr sagen könnten „Du bist schuld!“? Ein reizvolles Gedankenspiel. Wenn der Staats- und Justizvollzugsapparat nicht irgendwann bereit ist, sich selbst aufzulösen und für überflüssig zu erklären, wird Strafbedarf auf geheimnisvolle Weise immer vorhanden sein. Man denke an eigens eingerichtete „Kommissionen“ und „Sonderstäbe“ zur Terrorbekämpfung. Diese müssen ihre Existenzberechtigung immer wieder belegen, indem sie Handlungsbedarf behaupten und die Bedrohungslage möglichst drastisch beschreiben. Man möchte ja nicht, dass Budgets gekürzt und Planstellen gestrichen werden. Der größte anzunehmende Unfall für Sicherheitsbehörden wäre das völlige Versiegen jeglicher krimineller Energie im Volk.
„Wenn Osama Bin Laden sich nicht selbst zur größten Bedrohung der westlichen Welt gemacht hätte, hätte man ihn erfinden müssen“, schreibt der amerikanische Polit-Bestsellerautor Morgan Spurlock aufgrund der vor 10 Jahren bestehenden Bedrohungslage. Man stelle sich eine Welt vor, in der tausende von Richtern, Staatsanwälten, Verteidigern, Polizisten, Vollstreckungsbeamten, Gefängnisdirektoren, Gefängnisverpflegungs-Unternehmern, Herstellern von Sträflingskleidung usw. arbeitslos den Hartz-IV-Behörden zur Last fielen. Eine ökonomische und menschliche Katastrophe! Es muss also Verbrecher geben. Es muss Schuldige geben – definitiv und für immer.
Bearbeiteter Auszug aus dem Buch von Roland Rottenfußer und Monika Herz: „Schuld-Entrümpelung. Wie wir uns von einer erdrückenden Last befreien“, Goldmann Verlag, 254 Seite, € 9,99
Hehe, dann gäb’s mehr Jobcenter als Wohnraum, weil die alle systemrelevant untergebracht werden müßten. Demnach würde halb Deutschland in Sträflingskleidung herumlaufen und sich von Gefängnisverpflegung ernähren, durch Tafeln vollstreckt und von Polizei gesichert. Richter und sonstige Pfleger des Staatsrechts schreddern dann wohl Existenzen gleich in die Mülltonne – Grundsicherungsantrag abgelehnt. Bewerben sie sich als Schütze Arsch beim Kriegsministerium zu weiterer Verwendung. Widerspruch abgelehnt. Justitia zwangsverrentet.
In den USA sind viele Millionen Arbeitsplätze entweder in Gefängnisse oder in den Geheimdiensten, Militär, Rüstungssektor… das macht den Sytem- und Strukturwandel so schwer vorstell. und durchsetzbar.