Merkels größtes Versagen
Der Markt war der Kanzlerin wichtiger als bezahlbare Wohnungen für die Menschen. Es gibt kaum ein Thema, das Menschen so existenziell betrifft wie die Frage nach dem Dach über dem Kopf. An kaum einem anderen Thema lässt sich zeigen, wie brüchig der soziale Zusammenhalt in Deutschland, einem der weltweit reichsten Länder, geworden ist. Und bei kaum einem Thema lässt sich so leicht belegen, was die Regierungen der Kanzlerin Angela Merkel dagegen unternommen haben: so gut wie nichts. Ein Auszug aus Stephan Hebels neuem Buch „Merkel — Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft“, das gerade im Westend Verlag erschienen ist. Stephan Hebel
Wohnen — die Erkenntnis hat sich herumgesprochen — droht für Millionen Menschen in Deutschland zum Luxusgut zu werden. Vorausgesetzt, sie besitzen weder ein eigenes Häuschen noch das nötige Kleingeld, um die astronomischen Mieten bezahlen zu können.
In allgemeinen Zahlen sieht die Entwicklung zunächst nicht besonders dramatisch aus: Von 2005, als Angela Merkel die Wahl gewann, bis zum Jahr 2017 ist die durchschnittliche Mietbelastung (inklusive Nebenkosten) um etwa 15,9 Prozent gestiegen. Sie bleibt damit sogar hinter der sonstigen Preisentwicklung von 18,5 Prozent zurück (1). Auch gemessen am Einkommen, so zum Beispiel das Institut der Deutschen Wirtschaft, seien die Mieten in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht überproportional gestiegen (2).
Das sind allerdings Rechnungen, für die sich selbst das sprichwörtliche Milchmädchen schämen würde. Denn die „wirtschaftsnahen“ IW-Forscher lassen die Verteilung der Belastungen einfach außer Acht.
Beim untersten Fünftel auf der Einkommensskala stieg der Anteil der Wohnkosten am Gesamteinkommen zwischen 1993 und 2013 von 27 auf 39 Prozent. Beim obersten Fünftel waren es schon 1993 nur 16 Prozent, 20 Jahre später nur noch 14 Prozent (3). Und der Sozialverband Deutschland weist in einer Studie darauf hin, „dass bestimmte Haushalte besonders anfällig für eine hohe Mietbelastungsquote sind. Dies sind Einpersonenhaushalte, Alleinerziehende und Haushalte mit wenig Einkommen, insbesondere armutsgefährdete Haushalte“ (4). Bei Letzteren hat eine EU-Studie schon 2015 eine Belastung von 47 Prozent des Einkommens ermittelt — und besser geworden ist es seitdem sicher nicht (5).
Vollends deutlich wird die Dramatik, wenn man die einzige Zahl heranzieht, die Wohnungssuchende interessiert: Bei neuen Verträgen ist die durchschnittliche Netto-Kaltmiete für Wohnungen zwischen 40 und 130 Quadratmeter allein in den Jahren 2013 bis 2017 von 6,82 auf 7,99 Euro gestiegen (6).
Das sind innerhalb von nur fünf Jahren über 17 Prozent — wohlgemerkt im Durchschnitt, also unter Einbeziehung aller Regionen. Dass es in vielen städtischen Gebieten noch deutlich schlimmer aussieht, liegt auf der Hand. Die Folge, so das „Verbändebündnis Wohnungsbau“ im Frühjahr 2018:
„Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen können am bisherigen Wohnstandort kaum umziehen, weil die angebotenen Wohnungen kaum bezahlbar sind“ (7).
Was haben die Regierungen unter Angela Merkel gegen diese Entwicklung getan? Zunächst haben sie tatenlos zugesehen, wie die Zahl der Sozialwohnungen, die früher das wichtigste Mittel gegen die Wohnungsnot der weniger Begüterten waren, Jahr für Jahr schrumpfte — allein in der Ära Merkel von 2,1 Millionen (2006) auf 1,223 Millionen im Jahr 2017 (8). Schon unter der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 war der soziale Wohnungsbau praktisch zum Erliegen gekommen.
Da immer mehr Wohnungen aus der zeitlich befristeten Preisbindung fielen, war die logische Folge eine Reduzierung des Sozialwohnungsbestands. Viele Kommunen verkauften ihren Immobilienbestand ganz oder in Teilen an private, profitorientierte Gesellschaften (9).
Die Förderung des gemeinnützigen Wohnens war noch unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl, 1990, eingestellt worden (10). In der Ära Merkel beschränkte sich der Bund zunächst auf die Zahlung eines Zuschusses an die Länder in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr, dafür waren sie aber auch seit 2006 allein für den Wohnungsbau zuständig. So stellte der Politikwissenschaftler Björn Egner im Jahr 2014 kurz und bündig fest:
„Seit Beginn der Kanzlerschaft von Angela Merkel 2005 waren bislang keine großen mietrechtlichen Weichenstellungen zu verzeichnen“ (11).
Erst im Rahmen der immer lauter werdenden öffentlichen Debatte über die neue Wohnungsnot und angesichts der stark gestiegenen Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 wurde dieser Zuschuss auf eine Milliarde und dann auf 1,5 Milliarden Euro erhöht (12).
Es folgte die weitgehend wirkungslose „Mietpreisbremse“, und im September 2018 schließlich präsentierte die Kanzlerin nach einem „Wohngipfel“ mit den Bundesländern sowie den Verbänden der Wohnungswirtschaft ein „historisch einmaliges Paket“ im Umfang von 13 Milliarden Euro für vier Jahre (13, 14). Fünf Milliarden waren für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen — 2018 und 2019 je 1,5 Milliarden, für 2020 und 2021 zusammen „mindestens zwei Milliarden“ Euro.
Mit 2,7 Milliarden Euro wurde das neue „Baukindergeld“ veranschlagt, das allerdings viele Experten für eine Fehlkonstruktion halten, weil es nur diejenigen begünstigt, die sich ohnehin einen Immobilienerwerb leisten können, und weil die erhöhte Liquidität der Käuferinnen und Käufer sich in noch höheren Preisen niederschlagen könnte. Außerdem enthält das Paket eine steuerliche Sonderabschreibung für Bauherren, eine verbilligte Abgabe bundeseigener Grundstücke, Neubauten für Bundesbedienstete und ohnehin geplante Ausgaben wie die Städtebauförderung (15).
Das alles klingt äußerst voluminös, ist aber letztlich völlig unzureichend, und zwar nicht nur, weil die Milliarden für das Baukindergeld und Steuergeschenke an Bauherren kaum für günstigen Wohnraum sorgen werden. Das bereits erwähnte Gutachten des „Verbändebündnisses Wohnungsbau“ ging davon aus, dass pro Jahr mindestens 400.000 Wohnungen gebaut werden müssten, 140.000 mehr als im Schnitt der Jahre 2015 und 2016, davon 80.000 Sozialwohnungen und 60.000 anderweitig geförderte Unterkünfte. Allerdings ist insgesamt „davon auszugehen, dass der gegenwärtige Wohnungsbau quantitativ und qualitativ nicht zum Wohnungsbedarf passt“.
Und die Korrespondentin des Deutschlandfunks resümierte, „dass Union und SPD ihr selbst gestecktes Ziel von insgesamt 1,5 Millionen neuen Wohnungen bis 2021, die im Koalitionsvertrag versprochen wurden, wahrscheinlich nicht halten werden“ (16).
Von ehrgeizigeren Zielen ganz zu schweigen: Die Fraktion der Linken im Bundestag legte im Herbst 2018 ihr eigenes Konzept für ein Wohnungsbauprogramm vor, das zwar ebenfalls „nur“ knapp 400.000 Wohneinheiten pro Jahr vorsah, dabei aber gezielt auf öffentlich geförderte Wohnungen sowie Wohnungen „im kommunalen, genossenschaftlichen oder gemeinwohlorientierten Eigentum“ abzielt (17). Die Linke rechnet für den Bund — die Länder müssten sich wie immer zusätzlich an der Finanzierung beteiligen — mit Kosten von 10 Milliarden Euro pro Jahr. Das wären nicht einmal drei Prozent der 356 Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt 2019 umfasst.
Der „Sozialverband Deutschland“ ging noch einen Schritt weiter, indem er die eigentlich logische Konsequenz aus der öffentlichen Verantwortung für die Daseinsvorsorge, also auch für das Wohnen, benannte:
„Innerhalb der außerparlamentarischen Mieteninitiativen fordern die dort Mitwirkenden sogar noch weiter gehende Maßnahmen, wie (…) Enteignung und Vergesellschaftung (…) Ein solches Marktregulierungsprogramm setzt allerdings einen starken politischen Willen und Durchsetzungskraft beim Gesetzgeber voraus.“
Beides hat es unter Angela Merkel nicht gegeben, und beides wird es auch in der Zeit nach ihr nicht geben. Nicht solange CDU und CSU regieren. Sie sind nicht einmal willens oder in der Lage, dem Markt, der angeblich alles am besten regelt, durch den Bau einer ausreichenden Zahl von Sozialwohnungen und durch die Wiederbelebung der Gemeinnützigkeit Grenzen zu setzen.
Wie am Anfang gesagt: Kaum ein politisches Thema betrifft so viele Menschen auf so existenzielle Art und Weise, und bei kaum einem Thema hat der Zusammenhalt der Gesellschaft so stark unter der Marktideologie der angeblich so ideologiefreien Kanzlerin gelitten.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Statistisches Bundesamt: »Verbraucherpreisindizes für Deutschland, Jahresbericht«, 16.1.2018, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Preise/Verbraucherpreise/VerbraucherpreisindexJahresbericht.html;jsessionid=3AA2FE93006D78ADA24F6B5E52B6C845.InternetLive1, abgerufen am 21.11.2018. Die prozentualen Steigerungen ergeben sich aus dem Vergleich der Indizes: Mietbelastung (Spalte 3) von 94,4 auf 109,4 Punkte, Verbraucherpreise ohne Mieten (Spalte 2) von 91,9 auf 109,2 Punkte.
(2) Siehe Marco Fieber: »Das Miet-Paradox«, Huffington Post, 18.5.2018, https://www.huffingtonpost.de/entry/mietbelastung-deutschland-munchen-frankfurt-berlin-hamburg_de_5afd47d7e4b0a59b4e00cc79, abgerufen am 21.11.2018.
(3) Creditreform Wirtschaftsforschung, a.a.O., S. 45.
(4) Stephan Junker: »Wohnen Sie noch? Oder suchen Sie schon?« Sozialverband Deutschland, Berlin 2018, https://www.sovd.de/guteswohnen/, abgerufen am 20.11.2018, S. 11.
(5) Ebd. (Grafik).
(6) Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen, Drucksache 19/4367 vom 17.9.2018, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/043/1904367.pdf, abgerufen am 21.11.2018.
(7) Jonas Abraham, Timo Gniechwitz u.a.: »Das Baujahr 2018 im Fakten-Check, Februar 2018, https://www.bdb-bfh.de/meldungsdetails/neue-studie-das-baujahr-2018-im-fakten-check-98.html?file=files/redaktion/bilder/Studien/Das%20Baujahr%202018%20im%20Fakten-Check.pdf, abgerufen am 21.11.2018, S. 1.
(8) Siehe »Immer weniger Sozialwohnungen«, manager-magazin Online, 4.8.2018, http://www.manager-magazin.de/politik/deutschland/trotz-milliardenfoerderung-immer-weniger-sozialwohnungen-a-1221652.html, abgerufen am 21.11.2018.
(9) Siehe z.B. Nadine Oberhuber: »Billige Grundstücke, stupid!« Zeit Online, 3.8.2015, https://www.zeit.de/wirtschaft/2015-07/sozialer-wohnungsbau-grossstadt-mieten-kommunale-wohnungen/komplettansicht, abgerufen am 29.11.2018.
(10) Gemeinnützige Wohnungsunternehmen waren am Prinzip der Kostendeckung und nicht am Profit orientiert. Sie mussten Überschüsse weitgehend wieder in die Wohnungsversorgung investieren. Siehe Die Linke im Bundestag: »Gemeinnützigkeit statt Profitlogik«, 2. Auflage Juni 2017, abgerufen am 21.11.2018.
(11) Björn Egner: »Wohnungspolitik seit 1945«, Bundeszentrale für politische Bildung«, 5.5.2014, http://www.bpb.de/apuz/183442/wohnungspolitik-seit-1945?p=all#footnode12-12, abgerufen am 21.11.2018.
(12) Siehe Bundesinnenministerium: »Soziale Wohnraumförderung«, https://www.bmi.bund.de/DE/themen/bauen-wohnen/stadt-wohnen/wohnraumfoerderung/soziale-wohnraumfoerderung/soziale-wohnraumfoerderung-node.html, abgerufen am 21.11.2018.
(13) Siehe Deutscher Mieterbund: »Bezahlbaren Wohnraum schaffen«, Presseerklärung vom 13.11.2018, https://www.mieterbund.de/presse/pressemeldung-detailansicht/article/46904-bezahlbaren-wohnraum-schaffen.html, abgerufen am 21.11.2018.
(14) Bundesinnenministerium: Pressemitteilung vom 21.9.2018, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2018/09/wohngipfel.html, abgerufen am 21.11.2018.
(15) »Gemeinsame Wohnraumoffensive von Bund, Ländern und Kommunen«, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2018/ergebnisse-wohngipfel.pdf?__blob=publicationFile&v=5, abgerufen am 21.11.2018.
(16) Nadine Lindner: »Zu wenig und am Bedarf vorbei«, Deutschlandfunk, 1.3.2018, https://www.deutschlandfunk.de/wohnungsbau-zu-wenig-und-am-bedarf-vorbei.769.de.html?dram:article_id=412016, abgerufen am 21.11.2018.
(17) Fraktion Die Linke: Konzept für ein Öffentliches Wohnungsbauprogramm, Oktober 2018, https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/Positionspapiere/2018/181119_Konzept-O__ffentliches-Wohnungsbauprogramm.pdf, abgerufen am 21.11.2018.
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