Militär: Entwürdigung als System
Es ist heute für denkende Menschen offensichtlich, dass Kriege nicht um der Humanität willen, sondern um Macht, Märkte und den Zugriff auf Ressourcen geführt werden. Wäre dies anders, müsste die von den USA geführte Staatengemeinschaft in der halben Welt einmarschieren – auch in den USA selbst. Der Theologe und Kriegsgegner Eugen Drewermann schrieb: „Der Krieg ist in seinem ganzen Wesen die Zerstörung und die Aufhebung aller menschlichen Gesetze. Umso aberwitziger ist es, ihn zur Erreichung von vermeintlich humanen Zielen zu rechtfertigen oder zu instrumentalisieren. Man kann nicht durch einen See von Blut hindurch die Friedenstaube rufen.“ Humane Fortschritte sind im besten Fall ein Nebenprodukt der globalen Macht- und Ressourcenkriege, niemals deren Hauptzweck. Meistens waren sie von kurzer Dauer und wurden mit einem viel größeren Rückschritt, dem Rückfall in die finsterste Barbarei erkauft.
Wozu sind also Kriege da? „Nichts fürchten die Waffenhändler mehr als den Frieden“, heißt es in dem Antikriegsfilm „Lord of War“ mit Nicholas Cage. Sobald ein Ding zur Ware wird, unterliegt es den Gesetzen der Profitmaximierung. Zwei Völker, die einander in Angst und Hass gegenüberstehen, sind bessere Waffenkunden als zwei friedliebende Nationen, die sich respektieren. Die hoch gelobte „unsichtbare Hand des Marktes“ erweist sich auf dem Rüstungssektor als die Hand eines millionenfachen Massenmörders. Jean Jaurès, ein französischer Sozialist und Pazifist, der 1914 ermordet wurde, sagte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“
Einer der wichtigsten Einwände gegen das Militär ist aber das Militär selbst. 1926 verfasste eine internationale Gruppe prominenter Unterzeichner – unter ihnen Gandhi, Einstein und Bertrand Russel – ein gemeinsames Manifest gegen die Wehrpflicht. Darin steht: „Zwangsdienst bedeutet Entwürdigung der freien menschlichen Persönlichkeit. Das Kasernenleben, der militärische Drill, der blinde Gehorsam gegenüber noch so ungerechten und sinnlosen Befehlen, das ganze System der Ausbildung zum Töten untergraben die Achtung vor der Persönlichkeit, der Demokratie und dem menschlichen Tun.“ Eine ernsthafte Diskussion über den Sinn und Zweck militärischen Drills findet bis heute nicht statt. Dabei ist offensichtlich, dass die Toten des Luftangriffs von Kundus (Afghanistan) heute noch leben könnten, hätten Kampfflieger den Befehl verweigert. Der Vorfall im September 2009 erinnert an dunkelste Zeiten deutscher Geschichte, vermochte aber eine umfassende Debatte um Befehl und Gehorsam nicht auszulösen.
Mein Vater Josef Rottenfußer wurde 1943 im Alter von 17 Jahren zum Militär eingezogen. Man kann die Autobiografie meines Vaters nicht lesen, ohne im äußersten Maß abgestoßen zu sein – nicht nur von den Menschen verachtenden Taten der Nazis, sondern vom Militär insgesamt: vor der Praxis, Menschen zu demütigen, ihren Willen zu brechen, sie in willfährige Werkzeug zum Töten und Sterben zu verwandeln. „Der Umgang der Vorgesetzten mit uns Rekruten war willkürlich“, schrieb mein Vater. „Man ließ uns exerzieren, auf dem Boden robben und laufen. Ständig hieß es: ‚Hinlegen!’, Auf, Marsch, Marsch!’ Wenn man einem Vorgesetzten nicht sympathisch war, waren verschiedene Strafmethoden üblich: eine Extrarunde um den Kasernenhof laufen, Kniebeugen mit dem Gewehr in den ausgestreckten Armen oder Scheißhaus reinigen mit einer Zahnbürste. Jeder eigene Wille wurde vollständig gebrochen, so dass man den gemeinsten und brutalsten Vorgesetzen hilflos ausgeliefert war.“ Eine vage Erinnerung aus ferner, finsterer Vergangenheit? Keineswegs. So sehr die Nazi-Diktatur in ihrem Vernichtungswillen und ihrer tödlichen Effizienz einzigartig war – die systematische Erniedrigung als Praxis aller Militärausbildungen der Welt ist es nicht. Sie besteht heute wie damals fort. Egal, wie freiheitlich die Verfassung eines Landes ist, wer dem Militär unterworfen ist, lebt in einer Diktatur.
Freilich gibt es Abstufungen. Unter den Nato-Staaten dürfte die Türkei einen traurigen Spitzenplatz einnehmen, was die Entwürdigung der Soldaten anbetrifft. Dort war bzw. ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass Soldaten von ihren Vorgesetzten aus „disziplinarischen“ Gründen misshandelt werden. Pinar Selek sammelte in ihrem lesenswerten Buch „Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt“ die Interviewaussagen Dutzender ehemaliger Wehrdienstleistender und beleuchtet so einen „toten Winkel“ fast aller zivilisierter Gesellschaften, eine Parallelwelt von unfassbarer psychischer und oft auch körperlicher Grausamkeit. So gab ein ehemaliger Rekrut zu Protokoll: „Wir sind schon abgehauen, wenn wir den Kompaniechef auch nur von Weitem gesehen haben. Wenn der einen verprügelte, konnte man zehn Tage lang keinen Finger mehr rühren.“ Ein anderer: „Manchmal zog er einem die Unterhose herunter und kontrollierte, ob man sich den Schambereich rasiert hatte … Man musste gerade stehen, man fror. Es war egal, ob es regnete. Du musstest dort stehen bleiben. Ich habe mich immer sehr geschämt.“
Es beginnt mit der Zurichtung der Rekruten auf allen Feldern ihres Lebens: Aussehen, Verhalten, Lebensrhythmus – ein Vorgang, den Pinar Selek treffend so zusammenfasst: „Die eigene Form aufgeben – die vorgegebene Form annehmen.“ Ein ehemaliger Soldat berichtet: „Als ich die Sachen auszog, wurde ich zum Roboter, ab da musste ich machen, was sie mir befahlen. (…) Dass mein Zivilistenleben vorbei war, begriff ich, als man mir die Haare geschnitten hatte.“ Der Roboter-Vergleich deutet auf das beim Militär vorherrschende Paradigma des Maschinen-Menschen hin – Freunde der „Star-Trek“-Serien kenne es als „Borg-Kollektiv“: Du bist nichts, das Kollektiv ist alles.
Die vordringliche Erziehungsmethode ist die Unterwerfung unter Regeln. „Alles wird von Regeln bestimmt … Entschuldige, aber selbst wenn man auf die Toilette geht, steht dort: ‚Betätige die Spülung‘. Man stellt sich vor den Spiegel und da steht: ‚Ordne deine Kleidung.‘ Beim Essen musst du dein Barett absetzen. Vor dem Gebet auch … .“ Zum Bild des Maschinen-Menschen kommt hier also die Degradierung von Erwachsenen zu Kindern, die über das Ob und Wie selbst kleinster alltäglicher Verrichtungen nicht selbst bestimmen dürfen. Bei der Bundeswehr ist etwa der Befehl: „Selbstständig dem Straßenverlauf folgen“ üblich – wodurch sogar noch die Selbstständigkeit dem Bereich des Anbefohlenen zugeordnet wird. Auch kann es vorkommen, dass beim Bund „Winter befohlen“ wird – so als seien Schneeflocken außerstande, ohne Zutun eines Hauptfeldwebels zu Boden zu fallen.
Der Wehrdienst ist eine Kriegserklärung gegen die seelische Integrität von Millionen Männern und inzwischen vielerorts auch Frauen. Freilich muss man nach Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland eine größere Mitverantwortung der freiwilligen Soldaten dafür konstatieren, was ihnen beim Militär widerfährt. Allerdings ist diese Freiheit eine vorläufige, ein Privileg, das der Staat seinen Bürgern unter dem Vorbehalt gewährt, dass der „Auftrag“ der Bundeswehr nicht gefährdet ist (wozu auch Landesverteidigung am Hindukusch zählen kann). Kommen die Freiwilligen nicht in gewünschter Zahl, wird zunächst gelockt, geworben, werden Menschen gleichsam zum Gedemütigtwerden verführt. Hilft auch keine „Attraktivitäts-Initiative“ fürs Strammstehen, so könnte sich das Verteidigungsministerium rasch freiwilligkeitserwingende Maßnahmen einfallen lassen.
„Freiwillige“ Soldaten sind Verführte, die oft aus sozialen Notlagen heraus eine militärische Laufbahn einschlagen, denn ein festes Einkommen und Aufgehobensein in einer „Gemeinschaft“ von Demütigern und Gedemütigten können attraktiv erscheinen in einer Zeit, in der alle Sicherheiten bröckeln. Sind wir also nicht zu dankbar für die „Befreiung“, die Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg einer neuen Generation junger Männer und Frauen beschert hat. Humane Erwägungen standen dafür wohl zum wenigsten Pate. Schon gar nicht ein grundlegendes Missbehagen gegenüber dem Militärischen als Disziplinierungsinstrument der Knetmasse Mensch.
Bei kaum einem Kommentator, nicht einmal bei Wehrpflicht-Gegnern, habe ich jemals etwas wie Einsicht in die Tatsache gefunden, dass es lächerlich und erniedrigend ist, roboterhaft Befehle wie „Stillgestanden!“, „Die Augen links!“ oder „Rührt euch!“ auszuführen. Oder seine Unterhemden im Rahmen einer „Spindordnung“ in bestimmter vorgeschriebener Weise zu falten und sich dumm anreden lassen zu müssen, wenn man es nicht richtig macht. Wer diesen und ähnlichen Methoden der „Formalausbildung“ ausgesetzt war, verliert mitunter mit einem Schlag den Respekt vor seinem Staat – und, was schlimmer ist: den Respekt vor sich selbst. Auf den legen die staatlichen Organe aber auch gar keinen Wert, ihnen genügt Gehorsam und formales „Funktionieren“, so widerwillig es auch sein mag. Macht agiert sich ihrer Natur nach im Widerspruch zum Willen des ihr Unterworfenen aus. Sonst wäre es ja keine Macht, sondern Überzeugungsarbeit.
Was beim Militär geschieht, trifft sich in vieler Hinsicht verblüffend mit der Definition, die Erich Fromm in seinem Buch „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ vom Sadismus gibt. Fromm führt darin aus, „dass der Kern des Sadismus, der allen seinen Manifestationen gemeinsam ist, die Leidenschaft ist, absolute und uneingeschränkte Herrschaft über ein lebendes Wesen auszuüben, ob es sich nun um ein Tier, ein Kind, einen Mann oder eine Frau handelt. Jemand zu zwingen, Schmerz und Demütigung zu erdulden, ohne sich dagegen wehren zu können, ist eine der Manifestationen absoluter Herrschaft, wenn auch keineswegs die einzige. Wer ein anderes Wesen völlig beherrscht, macht dieses Wesen zu einem Ding, zu seinem Eigentum, während er selbst zum Gott dieses Wesens wird.“ Sadismus nach Fromm ist ein scheinbarer Ausweg aus der Einsamkeit des Menschen, ein irregeleiteter Versuch, die eigene beschränkte Existenz gleichsam um den Unterworfenen zu erweitern – mit der Folge, dass dieser seiner Würde beraubt und zur „Sache“ degradiert wird. „Das Erlebnis der Allmacht gegenüber diesem Wesen schafft die Illusion, die Grenzen der menschlichen Existenz zu überschreiten, besonders für jemand, dessen wirklichem Leben Schöpferkraft und Freude abgehen.“
Kasernen sind Straflager für (zunächst) Unschuldige, deren einziges Vergehen darin besteht, der falschen Altersgruppe und dem falschen Geschlecht anzugehören und in eine der vielen durchmilitarisierten Gesellschaften der Welt hineingeboren zu sein. Militär ist systematischer Entzug von Respekt. Durch das Erlebnis der Entwürdigung und der eigenen Machtlosigkeit dagegen glaubt der dem Militär Unterworfene nach einiger Zeit, er habe nichts Besseres verdient, duldet weiter und agiert angestaute Aggressionen an Dritten aus, die in der Hierarchie unter ihm stehen. Beim Militär ist die Dystopie eines Systems flächendeckender Kontrolle, die Michel Foucault in seinem herausragenden Buch „Überwachen und Strafen“ entwirft, im Hier und Jetzt realisiert: das „Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht bis in ihre letzte Verzweigung sicherstellt.“
Ein Schweizer Bekannter, der wie fast jeder männliche Schweizer beim Militär war, sagte mir gegenüber rundheraus, dort würden die Wehrpflichtigen „gebrochen“. Dabei handelt es sich nicht um Nordkorea oder die USA, sondern um eines der vermeintlich harmlosesten und liebenswertesten Länder der Erde. Weltweit scheint man größten Wert auf die Militarisierung der Lebensläufe junger Männer zu legen. Man „bricht“ möglichst flächendeckend, weil man über Gebrochene besser verfügen kann. In diesem Zusammenhang ist auch der Trend, Frauen zu den Waffen zu rufen, ein zweischneidiges Schwert: Emanzipation bedeutet in diesem Sinn, dass nunmehr auch Frauen das Erlebnis des Gebrochenwerdens zugänglich ist.
Militär und Militärausbildung sind das dunkle, peinliche „Geheimnis“ aller Staaten. Sie existieren im Schattenbereich der Demokratien und strafen jede Menschenrechtserklärung, jedes Politiker-Gerede von Freiheit Lügen. Denn eine Verfassung, die Ausnahmen von der Menschenwürde zulässt, hat sich bereits von Naturrechts-Gedanken verabschiedet. Eine solche Verfassung trägt den Keim zu ihrer Demontage schon in sich und öffnet ein Einfallstor für weitere Einschränkungen der Bürgerrechte. In den Kasernen und auf den Übungsplätzen der Armeen werden Menschen dahin gebracht, wie Automaten Tätigkeiten zu verrichten, gegen die sich ein intakter Charakter zu Recht sträuben würde. Dies geschieht überall, mitten unter uns, Tag für Tag. Und die meisten dulden es, weil sie das Gerede der Politiker von „nationaler Sicherheit“ glauben. Oder weil sie nicht genauer hinsehen wollen. Schändlich ist nicht die Tatsache, dass das eine oder andere kranke Gehirn sich ein System von Gewalt und Unterwerfung ausdenken und dieses kurzzeitig in einer Gesellschaft etablieren konnte; schändlich ist, dass das Militär als Instrument der Menschenzurichtung beinahe überall auf der Welt über Jahrhunderte herrschen konnte – beinahe unbemerkt und unangetastet selbst von kritischen Geister, die andere gesellschaftliche Missstände durchaus zu benennen wissen.
Dies mag an Jahrhunderte langer Gewöhnung an die Normalität des eigentlich Unfassbaren liegen. „Es ist schon in Ordnung, wenn jemand schikaniert“, um hier eine Zeile von Konstantin Wecker abzuwandeln. Dabei sind die seelischen Schäden durch dieses System gar nicht abzuschätzen. Wer einmal gebrochen wurde, weil ihm der Preis des Widerstands zu hoch erschien, der trägt lebenslänglich eine latente Scham mit sich herum. Die Scham, sich selbst als feige und unterwürfig erlebt zu haben, wo der natürliche Stolz offenen Widerstand geboten hätte. Um diesen Zwiespalt auszuhalten, kommt es oft zu einer ungesunden Identifikation mit den Tätern. Man kennt das Phänomen auch als „Stockholm-Syndrom“, ein Verhalten, das man bei Entführungsopfern festgestellt hat. Die Täter werden als Vaterfiguren idealisiert, zu denen man mitten im Leiden Zuflucht nehmen kann, obwohl gerade sie dieses Leid verursacht haben. Der Psychologe Arno Gruen spricht auch von „Identifikation mit dem Aggressor“.
Ein ähnliches Verhalten zeigt sich bei Staatsbürgern, die zu Untertanen regrediert sind. Woher kommt die Duldungsstarre der Völker, die unter der Knute eines neuen Feudalismus stöhnen? Vielleicht von dem lähmenden Schock, der entsteht, wenn man mit negativen, eigentlich unfassbaren Informationen über „seinen“ Staat überflutet wird. „Vater Staat“, den man ja eigentlich achten will und von dem man Schutz und Orientierung erhofft. Der Verdacht drängt sich auf, dass die in der Militärausbildung gezüchteten Eigenschaften – bedingungslose Unterordnung, Gehorsam und emotionale Verwahrlosung – „Tugenden“ sind, die auch im zivilen Leben als nützlich gelten.
Ich behaupte, dass Bürger durch den Militärdienst seit Jahrhunderten für ihre Rolle als „Leibeigene“ in unterschiedlich ausgeprägten Feudalsystemen zugerichtet werden. Offiziell sollte die Wehrpflicht, das Prinzip des „Bürgers in Uniform“, die Demokratie in die Armee bringen. Stattdessen breitete sich die Armee in der Demokratie aus, züchtete „Soldaten in Anzug und Blaumann“. Militärische Denk- und Verhaltensmuster durchdringen bis heute das Zivilleben – wenn auch in subtiler Form („dem Chef gehorcht man“). Der von Aktivisten beklagte fehlende Widerstand gegen die Zumutungen der Politik könnte eine seiner Ursachen in der Militarisierung der Denkstrukturen haben, die – zumindest bei Männern – im Grundwehrdienst eingeübt wurden. Das heißt auch, dass das Zurückdrängen militärischer Denk- und Reaktionsmuster strategische Bedeutung hat, wenn es darum geht, eine Kultur der Würde, des Mitgefühls und geistigen Autonomie zu entwickeln. Der gewaltlose Kampf um mehr Menschlichkeit muss immer auch ein Kampf gegen das Militär sein.