Mut zum Gefühl

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik

Befreien wir uns von der Kälte und Distanziertheit unserer Gesellschaft. Die erklärten Ziele von Gewaltlosigkeit und Toleranz finden bei Linken, Grünen und anderen alternativen Gruppen oft keine Entsprechung im Debattenstil. Woher kommt diese Gefühlskälte? Die Therapeutin Gabriele Baring sucht in der Geschichte der Deutschen, die von zwei Weltkriegen und Schuld geprägt ist, nach möglichen Ursachen dafür. Wenn wir als Menschheitsfamilie Frieden stiften möchten, besteht ein erster Schritt darin, Frieden in unserer eigenen Familie und dadurch auch in uns selbst zu finden, indem wir verdrängte Traumata aus der Vergangenheit endlich ans Tageslicht holen. Eine Einladung, sich der eigenen Familiengeschichte zuzuwenden. Für das eigene Wohl und vor allem für den Frieden. Eine Rezension zum Buch „Die geheimen Ängste der Deutschen“. Elisa Gratias

Ich nippte an meinem Kaffee, während Jens Wernicke an seinem Verdampfer zog. Der Qualm duftete angenehm nach Pfirsich. Die Sonne wärmte meine Haut. Der Herausgeber unseres Magazins und ich als Redakteurin der Mutmach-Redaktion — wir sahen uns erst zum dritten Mal persönlich. Wir kannten uns kaum, und gleichzeitig spürte ich eine angenehme Vertrautheit.

Während ich diese Zeilen schreibe, erinnere ich mich nicht mehr, worüber wir gerade sprachen. Die traumatisierte Gesellschaft, die politische Debattenkultur, unsere Redaktion … Ich weiß es nicht mehr. Nur eines habe ich noch genau vor Augen: Während wir so erzählten, liefen mir auf einmal die Tränen.

Jens sah mich kurz irritiert an und fragte: „Was ist denn jetzt los?“ Ich zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht.“ Wir schwiegen und er ließ mich einfach weinen. Es passiert mir seit ein paar Jahren ab und zu, dass aus irgendwelchen Tiefen eine gewisse Traurigkeit aufsteigt. Seitdem ich mir immer wieder Zeit nehme, innezuhalten, nichts zu tun und es zuzulassen. Doch am Kaffeetisch mit einem Menschen, den ich gerade erst kennenlernte, das überraschte mich. Noch mehr überraschte mich, dass er nicht versuchte, mich zu trösten, irgendeinen blöden Spruch zu klopfen oder irgendein Gespräch vom Zaun zu brechen. Es fühlte sich befreiend und verbindend an.

„Die geheimen Ängste der Deutschen“

Ein paar Tage später stöberte ich in meiner geliebten deutschen Buchhandlung in Palma herum und nahm ein knallrotes Buch aus dem Regal: „Die geheimen Ängste der Deutschen“. Auf dem Klappentext lese ich:

„Zukunftsangst und Weltuntergangsstimmung bestimmen das Lebensgefühl von uns Deutschen. Die Familientherapeutin Gabriele Baring kennt aus Gesprächen mit ihren Patienten die Nöte der Menschen — Furcht, Depression, Bindungsunfähigkeit und die Neigung zur Selbstzerstörung. (…) Die Gräuel der Weltkriege und ihre Folgen haben Familien auseinandergerissen. Verschwiegener Schmerz und unterdrückte Trauer lasten auf uns. Die kollektive Verdrängung betrifft den Einzelnen, die Familien und das gesellschaftliche Leben bis in die Spitzen der deutschen Politik (…).

Ein Aufruf zu einer neuen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit — damit es uns gelingt, uns selbst und unsere Nation wieder zu lieben.“

Ich kaufe das Buch. In der Schule habe ich das Fach Geschichte gehasst. Ich konnte damit nichts anfangen. Vor allem das jahrelange Durchkauen der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs.

Als ich während des Studiums nach Frankreich zog, fiel mir auf, dass alle anderen Austausch-Studenten aus Brasilien, Ecuador, Argentinien, Kanada, Mexiko, Großbritannien, Spanien, Italien und auch die Franzosen ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Herkunftsland hatten als ich. Sie waren stolz auf ihre nationale Zugehörigkeit, auch wenn sie sich über ihr Land beschwerten. Mich nervte es, dass immer wieder Hitler und die Nationalsozialisten zum Gesprächsthema wurden, wenn ich sagte, dass ich aus Deutschland sei. Als Kommilitonen mich für eine Russin hielten, freute ich mich. Bloß nicht deutsch aussehen. Wie langweilig. Ich dachte damals, das läge nur an mir. Dass es typisch Frau sei, immer so sein zu wollen, wie man eben nicht war: lockig statt glatthaarig, schwarz statt weiß und Brasilianerin statt Deutsche.

Zwei Jahre später belegte ich während eines Gastsemesters in Genf freiwillig einen Kurs über die Geschichte der großen Kriege zwischen Frankreich und Deutschland. Die französische Dozentin gab uns einen Comic über den ersten Weltkrieg. Zeitzeugenberichte wurden in Zeichnungen festgehalten, anonyme Soldaten erhielten ein Gesicht und ich fühlte mit diesen armen jungen Männern, die in den Gräben des ersten Weltkrieges der hässlichsten Fratze des menschlichen Abgrunds ausgeliefert waren.

Was mich an diesem Geschichtskurs außerdem faszinierte, war die Art der Professorin, die Deutschen nicht als Schuldige zu behandeln. In der Schule hatte man mir noch eingetrichtert, ich solle mich im Ausland auch jetzt im Nachhinein noch für unsere Geschichte entschuldigen, und nun stand da eine Französin und fragte stattdessen nach den Ursachen, warum die Deutschen für Hitler gestimmt hatten. Welchen Bedingungen diese Menschen ausgesetzt waren, dass sie sich so begeistert aufhetzen ließen.

Mir fiel damals irgendwie eine Last von den Schultern, obwohl ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht verstand. Ich fühlte mich einfach etwas leichter.

Die Geschichte holt uns ein

Mit dreißig erlitt ich in Paris eine Fehlgeburt. Ich fiel in ein tiefes Loch und ging auf Anraten einer Freundin zu einer Therapeutin. Mit ihrer Unterstützung stellte ich fest, dass mein seelischer Schmerz in Folge der Fehlgeburt eine gesunde Reaktion war, während mein sonstiges Gefühlsleben, das eher von innerer Leere und unerklärlicher Trübseligkeit geprägt war, eine verdrängte Depression vermuten ließ. Ihre Diagnose erleichterte mich, denn bis dahin glaubte ich, diese innere „Trostlosigkeit“ sei „normal“ und ich nur ein undankbares Weichei, weil ich mehr vom Leben erwartet hatte.

Ich wanderte spontan von Frankreich nach Mallorca aus, wo ich dank fehlender Kontakte keine sozialen Verpflichtungen hatte und somit keine Maske mehr brauchte. Den ganzen Tag mit mir und meiner Katze allein, lernte ich endlich zu weinen — welch eine Befreiung.

Und nun hielt ich das Buch von Gabriele Baring in den Händen und fühlte mich wie ein Detektiv, der unverhofft auf eine wichtige Spur gestoßen war.

Die traumatisierte Familie

Immer mehr Menschen sprechen von unserer traumatisierten Gesellschaft, von der Entfremdung im Kapitalismus, von Gewalt in Video-Spielen, von Problemen in unserem Schulsystem und so weiter.

Über unsere Kriegsvergangenheit als Privatpersonen, nicht als Nation, nicht als zufällige Landsleute von Hitler und seinen Anhängern, sondern als erlebte Erfahrungen von Menschen, mit denen wir verwandt sind, sprechen wir jedoch sehr selten. Über die Kälte, die in und zwischen uns oft herrscht. Über die Beziehung, die wir zu unseren Familien haben.

Daniele Ganser prägte das wunderschöne und heilsame Bild der Menschheitsfamilie. Doch was passiert, wenn wir schon unsere Blutsverwandten kaum beachten, wenn wir sie nicht ansehen, anhören, verstehen lernen — wie sollen wir dann je als riesige Menschheitsfamilie harmonisch zusammenleben können?

Sie wünschen sich Frieden? Sie sind Teil der Friedensbewegung? Sie möchten aktiv Ihren Beitrag zum Frieden leisten? Dann empfehle ich Ihnen das Buch von Gabriele Baring und die Auseinandersetzung mit Ihrer Familie. Fragen Sie Ihre Vorfahren — sofern sie noch leben — nach ihrem Erlebten, nehmen Sie Kontakt zu Verwandten auf und suchen Sie nach Ihren Wurzeln.

„Es ist tragisch, dass die vielen familiären Konflikte, die bis in die jüngste Generation hineinreichen, so selten unter dem geschichtlichen Aspekt reflektiert werden. Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung und Misshandlungen haben Traumata hinterlassen, die immerfort wieder aufleben und die Existenz bedrohen.“

Wärme für den Eisbären — Kälte für die Menschen

„Transgenerationelle Übertragungen von Traumata verdienen höchste Aufmerksamkeit. (…) Noch ist die systemische Aufarbeitung unserer Vergangenheit ein Randphänomen. In der Öffentlichkeit ist darüber wenig bekannt, und die Bereitschaft zur Verdrängung hält an. Aber manchmal brechen kollektive Emotionen auf, deren Ursache das verdrängte eigene Leid ist.

Ein auf den ersten Blick kurioses Beispiel dafür war die Reaktion auf das Leben und Sterben des Eisbären Knut. Das Schicksal des Tieres bewegte Millionen. Knuts Mutter verstieß ihren Nachwuchs. Da konnte eine Mutter ihrem Baby die ihm zustehende Liebe und Fürsorge nicht geben, und eine Welle des Mitgefühls überrollte Deutschland. Ein Tierpfleger ersetzte bekanntlich mit der Flasche die Mutterbrust, und schon flogen dem Bären die Herzen der Deutschen zu. Von Anfang an faszinierte mich diese allgemeine Anteilnahme. Woher kamen die großen Gefühle? Was ließ eine Nation aus der Fassung geraten, nur weil ein Zootier mit der Flasche aufgezogen wurde?

Viele, die Knut aus der Ferne ihre tiefe Zuneigung entgegenbrachten, gehörten den Generationen der Nachkriegskinder und der Kriegsenkel an. Sie kannten das Gefühl des Verlassenwerdens, das sie nun auf Knut projizierten. Durch ihn kamen sie in Kontakt mit ihren eigenen verdrängten Emotionen.“

Das Beispiel Knuts bringt mich zum Schmunzeln. Dieses Bild einer schrulligen Nation, die mit einem Tierbaby mitfühlt, regt liebevolle Zuneigung für meine Landsleute in mir. Ich erinnere mich jedoch leider eher daran, wie Knut als Beispiel für die „Volksverblödung“ herangezogen wurde.

Volksverblödung. Ein hartes Wort. Für eine harte Realität, mag der eine oder andere einwenden. Vielleicht. Gleichzeitig zeigt es auch die Kälte, mit der wir uns im Alltag, vor allem in politischen und gesellschaftlichen Debatten begegnen. Selbst in der Friedensbewegung ist die Sprache oft alles andere als friedlich:

„Unbefangene Beobachter können leicht feststellen, dass die erklärten Ziele von Gewaltlosigkeit und Toleranz bei Linken, Grünen und anderen alternativen Gruppen keine Entsprechung im Debattenstil finden. Schon die Frauenbewegung fiel durch eine zuweilen hasserfüllte Kampfhaltung auf. Die Angriffslust einiger ihrer Protagonistinnen glich eher einem Vernichtungsfeldzug gegen Männer als einer sanften Revolution. Das Adjektiv männlich wurde zum Synonym für Unterdrückung und Gewalt. Doch der Protest dagegen trug alle Züge jener Aggression, die man den Männern unterstellte. (…)

Wer zum Kampf aufruft, ist nicht am Austausch interessiert, am Ringen um Erkenntnisse. Diese Politiker und Politikerinnen streiten nicht für das Gute, sie kämpfen dafür. Selbstgefällig wähnen sie sich politisch auf der richtigen Seite. (…) Bei all den guten Rechthabern, den guten Ideologen, den guten Kämpfern spüre ich Energien, die aus der schlimmen Zeit der Diktaturen kommen und hier weiterleben. (…)

Mit gewalttätigen verbalen Angriffen werden andere Meinungen unterdrückt.“

Was die Autorin hier beschreibt, erinnert mich auch an Kommentare auf Facebook oder E-Mails von empörten Rubikon-Lesern, die Kampfansagen an unsere Redaktion schicken, weil ein Artikel oder ein Autor ihrem Weltbild widerspricht.

Diese E-Mails und die Arroganz mancher Leute, die ihre Meinungen und ihre Kenntnisse für die einzig richtigen halten, frustrieren mich jedes Mal. Nun kann ich diese Menschen in einem anderen Licht sehen. Sie sind unbewusst verstrickt. Natürlich war mir das auch vorher klar, doch es erschien mir zu abstrakt.

Die kalte Mutter

Die Autorin erinnerte mich an die möglichen Einzelschicksale dieser Menschen oder ihrer Vorfahren. Viele der heutigen Erwachsenen sind mit einer „kalten Mutter“ aufgewachsen. Viele dieser Menschen halten ihre Kindheit für normal, da sie selbst weder missbraucht wurden noch flüchten mussten. Doch wenn deren Eltern genau solche Dinge erlebt hatten und nie darüber sprachen, sondern es verdrängten und einsam vor sich hin schwiegen, dann waren all diese Erwachsenen einmal sehr einsame Kinder.

So wie ich erst dank meiner Fehlgeburt merkte, dass ich bis dahin von meinen Gefühlen völlig abgeschnitten war, scheinen viele Menschen, denen ich begegne, ihre Gefühlskälte für normal zu halten. Sie denken, was sie fühlen sollten, sie analysieren und sie suchen besessen nach dem Glück oder zumindest nach einem Kick — durch Erfolg, durch einen Traumkörper, viele Reisen, extreme Sportarten — doch im Gespräch wird schnell deutlich, dass eine Verbindung, authentische Gespräche, Sich-in-die-Augen-blicken oder gemeinsames Schweigen nicht möglich sind. Dass diese Menschen irgendwo tief hinter ihrem gesellschaftlichen Bild eingebuddelt oder, noch schlimmer, einzementiert sind.

Verletzte kleine Seelen. Wir sprechen heute viel von Erziehung und wissen, wie empfindlich die Kinderseele ist. Sie schlummert in jedem von uns noch immer.

„Depression ist oftmals auch nicht gelebte Trauer. Insofern ist das Trauerverbot (das für die Täter gilt) noch immer eine Quelle depressiver Lebensgefühle, denn Trauer wurde nur zugelassen, wenn sie sich auf die Opfer der Nazis bezog. (…)

Wenn uns bewusst ist, woher Wut, Aggression, Scham und Schuldgefühle rühren, können wir endlich unseren Frieden mit uns selbst machen. Auf die Trauer folgt Entlastung. Wir müssen dann nicht mehr Stellvertreterkämpfe führen, die in jeder Generation wieder aufbrechen.“

Fragen und Trauern für den Frieden

Ein weiterer Absatz aus dem Buch erinnert mich an die Reaktionen einiger Leser und Mitmenschen auf unsere Mutmach-Redaktion und unser Bestreben, alle Seiten unseres Lebens zu beleuchten, nicht nur die intellektuelle, sondern auch die gefühlvolle, nicht nur die katastrophale, sondern auch die Hoffnung spendende:

„Die persönliche Risikoeinschätzung folgt einem Muster, das gleichsam die Rechtfertigung von Ängsten sucht. (…) Zukunftsangst wird zu einem legitimen Gefühl. Wer dagegen für Mäßigung oder gar Optimismus plädiert, gilt leicht als fahrlässig verharmlosend. Die Mahner haben Konjunktur, die Apokalyptiker und Weltuntergangspropheten. Wer Zukunftsangst hat, darf sich größerer Wertschätzung erfreuen als Menschen, die eher rational und gelassen auf beschworene Katastrophen reagieren.“

Wie oft wurde mir für Artikel, die ein wenig Hoffnung und Lebensfreude enthielten, mangelndes Fachwissen oder Naivität unterstellt. Dabei weigere ich mich lediglich, trotz aller auch mich beängstigenden Tatsachen und Ereignisse auf der Weltbühne, die Hoffnung ganz aufzugeben.

Ich tröste mich selbst mit der Vorstellung, dass in der Menschheitsgeschichte so ziemlich jede Generation genügend Anlass hatte, zu glauben, sie sei die letzte. Gerade im zerbombten Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs hätte ich eine solche Prognose verstanden. Doch wenn der Horror Realität ist, scheinen die Menschen weniger ängstlich. Dann packen sie an, handeln, überleben, bauen ein Land wieder auf und vergraben ihren Schmerz, der sich wohl heute in unseren Ängsten äußert.

Statt uns mit den Menschen von damals verbunden zu fühlen, streiten wir über Propaganda und Verschwörungstheorien und -praktiken, warnen vor der Wiederholung der Geschichte, doch dabei appellieren wir immer an den Intellekt.

„Es geht um die Heilung einer Nation durch aktive Beschäftigung mit ausgegrenzten Schicksalen. Wer ausgrenzt, macht sich selbst zum Außenseiter. Zeitgeschichtliches Wissen ist für diese Klärung notwendig, Empathie für Einzelschicksale und die Bereitschaft, sich selbst im historischen Kontext zu verorten. (…) Die Voraussetzung dafür ist weniger Wissen als Fühlen.“

„In dem Maße, in dem Kriegskinder und Kriegsenkel, nein, alle Menschen über das eigene Schicksal sprechen, lernen sie, sich selbst und den vorangegangenen Generationen mehr Verständnis entgegenzubringen. Erst danach können sie unbewusste Wiederholungszwänge ablegen.“

Lernen wir, andere nicht zu verurteilen. Achten und hinterfragen wir unsere eigenen Reaktionen. Gerade, wenn uns etwas wütend macht, wenn wir so sicher sind, auf „der richtigen Seite“ zu stehen.

„Wir wollen die Guten sein, um jeden Preis. Das bringt uns leicht in Gefahr zu Tätern zu werden.“

„Wir brauchen dringend einen veränderten Blickwinkel bei der Betrachtung unserer Vorfahren. Heilsam ist es, eine Annäherung auf der Basis von Empathie zu versuchen.“

Befragen wir also unsere noch lebenden Vorfahren über ihre Geschichte. Lernen wir die Menschen kennen, die wir bisher vielleicht nur in ihrer Rolle oberflächlich beim Familiengeburtstag gesehen haben.

Ich hatte zwei Fehlgeburten und weiß mit fünfunddreißig Jahren noch immer nicht, ob ich überhaupt Mutter sein möchte, kann, darf? Dank diesem Buch verstehe ich nun besser, warum ich zögere. Familie ist in unserer Gesellschaft eine leere Worthülse. Ich sehne mich nach meiner Familie, aber ich wanderte in andere Länder aus. Woher kommt dieser Widerspruch? Wenn ich nur daran denke, wie ich mich fühle, wenn meine Freigänger-Katze einmal zwei Tage nicht auftaucht und ich fürchte, sie habe nun ein zweites Zuhause — wie groß ist meine unbewusste Sorge, mein eigenes Kind könnte so weit von mir wegziehen, wie ich von meiner Mutter?

Ich habe Glück und erlebe seit meiner Psychotherapie vor drei Jahren mit meinen Eltern, meinen Onkeln und Tanten immer vertrautere Gespräche. Wir sprechen über philosophische Sinnfragen, diskutieren über Politik und manchmal auch über Gefühle. Doch über den Schrecken, den beide Mütter meiner Eltern als Flüchtlinge im Kindesalter durchlebt hatten und was für Mütter sie dadurch geworden sind, darüber sprachen wir bisher ebenso wenig wie über die Erlebnisse ihrer Geschwister und Mütter.

Dabei ist es doch eine wundervolle Verbindung, ein Schicksal, das wir alle nun als Nachfahren gemeinsam mittragen können. Als Familie.

„Eine Renaissance der Familienkultur, die alle Facetten von Bindung, Liebe, Verlässlichkeit und Respekt einbezieht, würde unsere Gesellschaft verändern. Es würde ein Klima des Miteinanders geschaffen, das dem Zusammenleben eine warme, familiäre Komponente zurückgeben könnte. Wir alle sehnen uns danach. Wir alle leiden an der Kälte und Distanziertheit unserer Gesellschaft. Befreien wir uns von überkommenen familienfeindlichen Ressentiments und Ideologien. Reflektieren wir deren Ursachen. (…) (W)ir alle sollten nicht in der Vergangenheit leben, sondern von ihr geheilt werden.“

Als konkrete Hilfe bietet Gabriele Baring am Ende des Buches einen Fragenkatalog für die Leser, die sich ernsthaft mit ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigen möchten. Zwei der Fragen lauten: „Wurde jemand aus seiner Heimat vertrieben oder ist von dort geflohen?“ und „Ist jemand ausgewandert?“ Bisher deutete ich meine „Rastlosigkeit“ als Fernweh und Abenteuergeist, doch jetzt spüre ich einfach Sehnsucht nach Familie und Wurzeln. In meinem kleinen Umfeld, mit eigenen Kindern, mit meinen Eltern, Geschwistern, Tanten, Onkeln, Neffen und Nichten, mit meinen Großmüttern.

„In der Familie lernen wir, dass wir einander aushalten können, trotz aller Widersprüche, trotz allem Störenden, das uns gegen unsere Angehörigen aufbringt. Wenn wir auf diese Erfahrung verzichten, glätten wir unsere Biografien künstlich. (…) Dann blenden wir die Eigenartigen, Schrägen, die Komischen, die Anstrengenden und die mit Schuld beladenen aus, an denen wir die Bereitschaft zur Aussöhnung entwickeln könnten. Was wir bei ihnen ablehnen, können wir auch bei uns selbst nicht akzeptieren. Indem wir uns ihnen allen urteilslos nähern, können wir auch die schwierigen, problematischen Anteile in uns selbst bejahen. Wir hören auf, mit uns zu hadern und nach einer unerreichbaren Perfektion zu streben. Das ist eine der Grundlagen jeder Selbstliebe, die Folge der Bereitschaft zu umfassender familiärer Nächstenliebe.“

Bei meinem letzten Besuch befragte ich eine meiner Omas zu ihrer Flucht, zu ihrer Kindheit und dem Vater. Er kehrte nie aus dem Krieg zurück. Sie hatte mir nie von ihm erzählt. „Die letzte Kugel ist für mich“, habe er immer gesagt, erzählte Oma von ihrem Vater, der in der Ukraine als vermisst gemeldet und nie gefunden worden war. Sie hatte nie getrauert. Ich klebte an ihren Lippen und sagte: „Oma, das müssen wir aufschreiben. Was für eine Geschichte!“ „Ach“, wehrte sie ab, „das ging doch allen so.“

Keine Emotion.

Es ist an der Zeit, dass wir die Trauer um die namenlosen, verschollenen, missbrauchten und gefallenen Menschen nachholen, deren Blut durch unsere Adern fließt.

Ich weiß noch immer nicht genau, woher meine Tränen kamen, als ich mit Jens Wernicke Kaffee trank, doch ich fühle Erleichterung und Entlastung, eine Verbindung mit Menschen vergangener Zeiten und mehr Verständnis für die Macken meiner eigenen Familie und der gesamten heutigen Menschheitsfamilie.

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