Neugier, Liebe, Revolution

 In Politik (Inland)

RainerThielBuchDer HdS-Autor, Sozialist und attac-Aktivist Rainer Thiel wurde am 27. September 85 Jahre alt. Dazu auch von Seiten der Redaktion die herzlichsten Glückwünsche. Soeben ist auch seine Autobiografie „Neugier Liebe Revolution, Mein Leben 1930-2015“ erschienen. Die Bilanz eines bewegten und auch vieles bewegenden Lebens. Informationen zum Buch und Verlag unter diesem Link. Nach acht Jahrzehnten zieht Rainer Thiel in seinem Buch Bilanz. Als promovierter Philosoph und Mathematiker lernte er gesamtgesellschaftlich zu denken und steht zu seiner sozialistischen Überzeugung, obwohl er wiederholt seinen Ärger mit Leuten hatte, die das System verwalteten. Die einen machten ihn zum Agenten, andere verweigerten ihm grundlos die Zusammenarbeit. Thiel sieht die Welt dialektisch, also kritisch und veränderbar. Der Weg des geringsten Widerstandes war seine Sache nie. Ein freundlicher Revolutionär, der die Welt noch immer verändern will. Im folgenden ein Auszug aus seiner Autobiografie

Als Funktionär mittlerer Ebene nahm ich an vielen Konferenzen teil. Gemeinsam riefen wir „Go home Ami“ und „Deutsche an einen Tisch“. Wir verurteilten die Verträge, mit denen Adenauer den westdeutschen Separatstaat betonierte. Eingeleitet wurden die größeren Konferenzen mit der Wahl von Stalin ins Ehrenpräsidium. Ovationen. Stalin achtete ich als einen Baumeister des Sozialismus und als Marschall der Völker, die Hitler besiegt hatten. Doch der Kotau schien mir überflüssig. Schon oft war mir aufgefallen, dass Mit-Genossen dem Genuss – wie es Erich Loest später nannte – dem Genuss des Sich-Unterordnens frönten statt dem Dienst mit Kopf. Da kam es vor, dass ein Signett durchs Unterholz meiner Innenwelt huschte: Landsknechte. Ich wollte, dass es ein Gespenst nur sei und erinnerte mich, wie ich als Kind einem Manne, dessen Gesicht durch Kriegsverletzung entstellt war, nachgerufen hatte: „Du bist aber hässlich.“ Nun schämte ich mich meiner Empfindungen von einst und jetzt. Also verscheuchte ich das Gespenst im Unterholz.

Doch von Anfang an schien es mir in der FDJ Differenzen zwischen Zielen und Praxis zu geben. Das hatte begonnen, als die Partnerschaft zwischen Gymnasium und Maschinenfabrik abgelehnt wurde, bis ein Aufruf zu dergleichen Projekten von Honecker aus Berlin kam, ein Aufruf zum Wettbewerb um Punkte. Um Punkte! Wahrscheinlich hätte Honecker das ganze Projekt eines Jugendverbandes anders angehen müssen: Weniger mit Jubel-Orgien, mehr mit Umsicht. Selten klappte etwas in der FDJ, auch wenn es gut gemeint war. So wurden wir einst zu einer Beratung nach Erfurt gerufen. Dort angekommen stellte sich heraus, dass wir zur Beratung in entgegengesetzter Richtung nach Gera hätten fahren müssen.

Widersprüchlich war die Vorbereitung von Weltfestspielen der Jugend und Studenten im August 1951 in Berlin, der dritten Weltfestspiele überhaupt, zum ersten Mal in Deutschland. Dreißigtausend junge Leute aus aller Welt wollten kommen. Honecker als FDJ-Chef hatte totale Unterstützung der Regierung. Anderthalb Millionen junge Leute aus dem ganzen Land fuhren in drei Wellen nach Berlin, mit der Eisenbahn, teils auch in Güterwagen. Honeckern kam es zustatten, dass der Staat die Mittel gab, ein Fest zu feiern, so groß und schön wie noch nie in Europa. Nur hatte man kaum damit gerechnet, dass Tausende billig nach Berlin fuhren, um im Westen Bananen zu empfangen.

In Ostberlin dagegen war das Angebot an Veranstaltungen des Sports und der Folklore, der leichten Muse und der Hochkultur überwältigend. Chöre und Tanzgruppen aus Dutzenden Ländern! Thomaner-Chor aus Leipzig und Kreuzchor aus Dresden mit der Geburtstagskantate von Johann Sebastian Bach, deren Melodie auch dem Weihnachtsoratorium gehört. Die Chorfantasie von Beethoven erklang, mit dem neuen Text von Johannes R. Becher: „Seid gegrüßt, lasst euch empfangen von des Friedens Melodien! Unser Herz ist noch voll Bangen, Wolken dicht am Himmel ziehn. Aber neue Lieder tönen, und der Jugend Tanz und Spiel zeugt vom Wahren und vom Schönen, ordnet sich zu hohem Ziel.“ Später las ich den Text gedruckt: „Großes, das uns je gelungen, blüht in neuem Glanz empor. ´Friede, Friede ist errungen!´, jubelt laut der Menschheit Chor. Nehmt denn hin ihr lieben Freunde, froh die Gaben schöner Kunst. Wenn sich Geist und Macht vereinen winkt uns ewigen Friedens Gunst.“

Wem das zu klassisch war, der konnte zu den Sportveranstaltungen oder zur Schlagermusik gehen. Doch viele wollten in Westberlin Bananen empfangen und Schaufenster sehen. Abends kamen sie zurück ins Quartier, für das sie nichts zu zahlen brauchten.

Um die Ehre der FDJ zu retten, zogen am siebenten Tag des Festivals einige Hundert Aufrechte in ihren Blauhemden nach Westberlin. Der Polizei gegenüber beriefen sie sich darauf, dass der Westberliner Senat die Blauhemden nach Westberlin eingeladen hatte. Gewiss, doch sie durften nicht als Aufrechte erscheinen. Deshalb wurden sie von der West-Polizei mit Knüppeln zusammengeschlagen. Das war am fünfzehnten August.

Am sechzehnten August trafen wir aus Jena in Berlin ein. Morgens, wenn wir uns an unsrem Stützpunkt im Stadtbezirk Prenzlauer Berg treffen wollten, um Veranstaltungen zu besuchen, diese oder jene Veranstaltung in der großen Stadt, die fast allen unbekannt war, trafen sich von unsren tausend Jugendfreunden aus dem Kreis Jena immer nur drei Dutzend.

Bald sollte ich junge Bauarbeiter kennen lernen. Sie rühmten sich, dass sie die Weltfestspiele jeden Tag genutzt haben, um kostenlos nach Westberlin zu fahren.

Weder klassisch noch sportgemäß war aber – in Jena und Umgebung – schon die Verteilung der Teilnehmerkarten für das Festival in Berlin gewesen. Funktionäre, von denen es viele hauptamtliche gab, hatten auf den Dörfern die Karten beim Bäcker, beim Fleischer, beim Friseur einfach hingelegt. Auch wenn für jede Karte nur fünfzehn Mark zu zahlen waren – allein die Verpflegungsbeutel, die für jeden Teilnehmer vorgesehen waren, hatten das Doppelte gekostet, ganz zu schweigen von den Transportkapazitäten, den Unterkünften in Berlin, den Veranstaltungen und den Reisekosten unsrer Freunde aus der Dritten Welt. Doch aus den Dörfern um Jena hörte man nichts. Man wusste nicht, wer nach Berlin fahren wollte. Da wurden wir von der Universität auf die Dörfer geschickt. Mir fiel das Gebiet um das Städtchen Kahla zu. Ich fahre mit der Eisenbahn dorthin und suche das FDJ-Büro. An der Tür ein Schild „Wir sind in Berlin, Auskunft im Rathaus.“ Dort sagte man mir: „Du tust mir leid, zum Gebiet Kahla gehören vierzig Dörfer.“

Also schnell zurück nach Jena, Meldung erstatten. Am nächsten Morgen stellt das volkseigene Zeiss-Werk alle seine Autos zur Verfügung, damit Studenten in die Dörfer fahren. Der Staat bügelt aus, wo Honeckers FDJ versagt.

Jahrzehnte später lese ich „Zur Geschichte der Freien Deutschen Jugend im Kreis Jena-Stadtroda von 1945 bis 1949“, herausgegeben 1977. Probleme der Anfangsjahre sind nur erwähnt, wenn sie gelöst waren. Den Aktiven der Anfangsjahre gebührt Achtung. Doch dreißig Jahre später hätte man nachdenken müssen.

In Berlin wurde 1952 erwartet, dass wir in Jena einen hohen Funktionär aus der Hauptstadt wählen. Jenaer Funktionäre meinten, das sei eine hohe Ehre. Ich meinte, der Berliner könne ja in Jena sprechen: Gute Rede – sichre Wahl. Der Mann aus Honeckers Zentrale hatte aber gar nicht die Absicht, zu seiner Wahl zu erscheinen. Deshalb meinte ich: Sogar der große Stalin hat vor seinen Wählern im Moskauer Wahlbezirk gesprochen. In eigner Person. Man kenne doch die Broschüre mit Stalins Rede auf der Wählerversammlung in Moskau.

Wenn aber einem geachteten Politiker zugehört werden konnte, der uns etwas zu sagen hatte, hörte man nicht zu. Darüber ärgerte ich mich auf einem großen Jugendtreffen in Leipzig. Der hochbetagte Wilhelm Pieck, Staatsoberhaupt, als Schutzpatron der FDJ gepriesen und auch im Volke als netter alter Herr beliebt, sprach auf dem Karl-Marx-Platz. Seine Rede interessierte mich. Wie spricht er zur Jugend? Doch Zehntausende, die aus dem ganzen Land nach Leipzig geholt worden waren, interessierten sich nur für sich selber, ohne zuzuhören.

Mir ward unheimlich. Vor meinem Stellvertreter, der stets bejubelte, was von oben kam, öffne ich mich, unter vier Augen, denn ich weiß selber nicht, was zu tun sei. Ich sage nur, unter vier Augen, Honecker spricht seit Jahren vom stolzen Millionenverband, nun gar vom stolzen Zwei-Millionen-Verband, und immer wieder Stolz, Stolz, Stolz – wenn das so weitergeht, wird nichts als Strohfeuer bleiben. Unter vier Augen sage ich das auch der Vize-Vorsitzenden der Hochschulgruppe, die gerade die Jugendhochschule absolviert hatte. Ein paar Tage lang geschieht nichts.

Ende Juni 52 ist Klausur von dreißig Funktionären der Hochschulgruppe. Wir sind im Kurort Oberhof im Rathaus versammelt. Da sagt der Chef des Landesverbandes: „Uns ist zu Ohren gekommen, dass der Jugendfreund Rainer Thiel dem Genossen Erich Honecker vorwirft…. Vielleicht war das ehrlich gemeint“, sagt der Landesvorsitzende, aber „objektiv ist das Spaltung des Jugendverbandes“.

Das wurde von den nächsten Rednern aufgenommen. Der dritte meinte, Thiel betreibe RIAS-Propaganda. Den Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin hatte ich nie gehört, denn RIAS war unsrer ärgster Gegner, aber der Redner wollte es besser wissen. Der vierte Redner sagte, ich sei Agent, der fünfte sagte, er möchte wissen, was ich dafür bezahlt kriege.

Ich hatte mich kaum noch in der Kontrolle. Ich sage ärgerliche Worte und werde aus der FDJ ausgeschlossen, ergänzt durch die Forderung, mich auch vom Studium sowie aus der Partei auszuschließen und die Tagung sofort zu verlassen.

Da beginne ich zu glauben, etwas Schlimmes getan zu haben, auch wenn es nur unter vier Augen war. Am nächsten Tag besuche ich den Vorsitzenden der Partei an der Universität, Manfred Wagenhaus. Ich bot ihm an, in die Produktion zu gehen. Wo willst du denn hin? Ich sage – in die Maxhütte, da war ich schon mal. Nein, sagt der Vorsitzende, dort ist die Arbeiterklasse am fortgeschrittensten, geh dorthin, wo sie noch nicht fortgeschritten ist.

Also gehe ich in die Bau-Union Jena, sofort. Ich helfe, die Baugrube für ein Labor-Gebäude des VEB Jenapharm auszuheben. Zäher Lehm und harte Steine. Kollegen raten mir, zerrissene Hände mit Urin zu benässen. Doch ich besinne mich auf Erfahrung aus Sosa: Fass locker den Spaten, die Schaufel, die Hacke. Bald ist mir wieder Hornhaut gewachsen. Die neuen Kollegen waren vom ersten Tag an mit mir zufrieden. Nur glauben sie mir nicht, dass in zehn Jahren mit Baggern gemacht wird, was wir jetzt mit Hacke und Spaten verrichten.

In einer Frühstückspause wird über den Krieg geplaudert. Da freut sich ein Kollege: „Wenn mr den Krieg nich gehabt hättn, wärn mr nie nach Paris gekomm.“ Das war ehrlich. Doch Sarkasmus habe ich in der Stimme des Kollegen nicht gespürt. Gerade war ein Gedicht von Brecht bekannt geworden: „Und was bekam des Soldaten Weib aus der Lichterstadt Paris? Aus Paris bekam sie das seidene Kleid. Zu der Nachbarin Neid das seidene Kleid, das bekam sie aus Paris. …. Und was bekam des Soldaten Weib aus dem weiten Russenland? Aus Russland bekam sie den Witwenschleier. Zu der Totenfeier den Witwenschleier, das bekam sie aus dem Russenland.“

Nach Feierabend übe ich an einem Feldrain mit einem jungen Kollegen Gitarre. Wir möchten eine Band gründen. Drei Genossinnen halten zu mir, Studentinnen, proletarisch: Lilian, Rosi, Katrin. Mit einer vierten Genossin – Studentin, proletarisch – trampe ich in die Sächsische Schweiz, wo wir uns auch körperlich vereinigen. Achim Pohl, mein Partner in FDJ und Studentenbude, hält zu mir, auch Dieter Noll.

Nur ärgert mich: Gerade jetzt, wo ich mich aufs Studium konzentrieren will, begierig, mit Algebra und Philosophie eine Schlappe wettzumachen, gerade jetzt wird mir der Studienplatz entzogen. Nur eine Hoffnung bleibt: Nach den Semesterferien ist wieder Parteiversammlung. Die Genossen werden doch besonnener sein als FDJ-Funktionäre? Auch Genossen, die zu mir halten, hoffen das Beste. Zur Versammlung werden sie freilich nicht zugelassen, sie gehören anderen Fakultäten an.

Aus meiner Grundorganisation – Philosophen und Historiker – lädt mich ein älterer Genosse ein, Werner Eyermann. Er meint, wenn die Partei Fehler macht, dann haben wir sie gemeinsam gemacht. Nie sollte einer aus der Reihe treten. Richtig. Nur war ich gar nicht aus der Reihe getreten, ich hatte nur – unter vier Augen – Probleme benannt.

Ferner wird mir geraten, eine Broschüre von Kurt Hager über die Rayk- und Kostoff-Prozesse zu lesen, deren Todesurteile vollstreckt worden waren. Viele Worte über die Weltgeschichte in dieser Broschüre, nichts Neues, ich zweifle nicht an der Geschichte. Ich habe sie ja selbst vertreten, als Hilfsassistent und Funktionär. Nur die Behauptung, dass sich Widersprüche immer und immer nur zuspitzen, überzeugt mich nicht mehr. Zur Begründung der Gerichts-Urteile finde ich nichts, nullkomma nichts in der Broschüre aus dem Politbüro.

Ein paar Tage nach meinem Rausschmiss aus der FDJ hatte in Berlin die zweite Parteikonferenz der SED getagt. Beschlüsse, die ich mit Lust lese. Doch ich lese auch die Diskussionsrede einer Delegierten aus Jena, Sonja Lurz-Eichhofer aus der Parteileitung meiner Fakultät: „Die ersten Erfolge der Agentenbekämpfung haben wir. Es gelang uns, einen Fakultäts-Sekretär der FDJ zu entlarven. Er verleumdete unseren Genossen Erich Honecker. Wir haben ihm das Handwerk gelegt.“

Aus meiner Fakultät erzählt mir ein Genosse von einer Beratung in Berlin. Der Hauptredner vom Zentralrat Honeckers hatte gesagt: „Dass Thiel ein Agent war, hat er selber bestätigt. Er ist nach dem Westen abgehauen.“ In der Pause geht mein Freund zum Redner und sagt: „Das kann nicht sein, wir haben Thiel gestern in Jena gesehen. Der wird so etwas auch nie machen.“ Da sagt der hohe Funktionär: „Das ist mir nur so rausgerutscht.“

Spürt der Jugendverband, wie seine Probleme strahlen? Forsche Simple erwärmen sich an hohen Verbands-Chargen. Spitzen werden lustvoll zitiert. Herr, gib uns Führer.

Allotria kommt vor Schaden. Knapp ein Jahr später warnt Malenkow – Spitze der Sowjetunion – die SED: „Wenn wir jetzt nicht korrigieren, kommt eine Katastrophe.“ Zitiert nach Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte. © 1994, S. 203, über den 27. Mai und den 2. Juni 1953. (Vgl. auch ebenda Seite 174)

Endlich, nach der Sommerpause, Parteiversammlung. SIE hatte das letzte Wort. Alles konnte ins Lot kommen. Genossen konnten weiter gedacht haben. Versammlungsleiter Oswald Eichhofer eröffnet: „Erster Punkt – Ausschluss des Thiel“. DES Thiel! Einwurf des Altkommunisten Georg Klaus: „Da das Verfahren noch schwebt, haben wir es mit dem GENOSSEN Rainer Thiel zu tun.“ Ergänzung von mir: „Dass ich nie Rias höre, kann mein Wohngefährte bestätigen, Genosse Achim Pohl. Er wartet vor unsrem Versammlungsraum.“ Wird aber nicht hereingelassen.

Es steht auf der Kippe. Georg Klaus hatte bei den Nazis vor Hitlers Reichsgericht gestanden. Zuchthaus und KZ. Nach dem Krieg Kreis-Vorsitzender der KPD in Sonneberg und Adjudant des Ministerpräsidenten von Thüringen. Die jungen Genossen aber schweigen. Ein zweiter Altkommunist ist nicht dabei.

Klaus ist Professor für Logik und Philosophie, in der Versammlung der einzige Prof. Die Versammlung beschließt den Ausschluss des Thiel.

Minuten zuvor hatte Eichhofer dem Thiel auch noch vorgeworfen, am Jubiläums-Tag der Oktoberrevolution ein Glas Wein getrunken zu haben. Ja, das hatte Thiel, gemeinsam mit Genossen Achim Pohl und zwei Genossinnen. Nach den üblichen Feiern hatten wir noch eine besinnliche Stunde in der Studentenbude. Eine Genossin, deren Vater als Polizei-Offizier gut verdiente, hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht, und wir lasen uns gegenseitig vor, was uns bewegte: Stalins Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Gedichte, wohl auch das Gedicht von Bertold Brecht über die russischen Brüder im dritten Jahr des ersten Weltkriegs: „O Soldaten, die ihr endlich die Gewehre in die richtige Richtung gerichtet.“ Feier mit Dichters Wort wich ab vom Schema.

Thiel war auch dabei, wenn das Schema zelebriert wurde. Doch nun war er außerhalb des Üblichen! Das meinte Eichhofer, um Thiel zusätzlich eins draufzugeben: Er hat die Oktoberrevolution beleidigt! Ohne Widerrede stimmten die Genossen Philosophen und Historiker dem Partei-Ausschluss des Thiel zu.

Trotzdem hatte Thiel nicht allzu viel riskiert. Erst mal geht er nach Hause, wenn auch traurig, die Goethe-Allee hinab, am Paradiespark über die Saale. Morgen wird er am Holzmarkt die Straßenbahn besteigen, die zum Beuthenberg fährt, wo das mikrobiologische Institut gebaut wird. Mehr hatte Thiel nicht riskiert.

Vier Jahre später – und in Jena fangen Studenten an, gegen die SED aufzumucken. Siehe „Vergebliche Hoffnung auf einen politischen Frühling – Opposition und Repression an der Universität Jena 1956 – 1968“, erste Auflage 2006. Fünf Jahre nach dem Eklat in Jena kam es noch schlimmer, wie man heute zum Beispiel durch Erich Loest wissen kann.

Doch als man in Jena ein nachdenkliches SED-Mitglied zum Agenten stempelte, ohne dass sich Widerstand von SED-Mitgliedern regte, brauchte noch niemand Angst zu haben vor Nachdenklichkeit. Oder waren es die Genossen selber, die den Feindsender RIAS gehört hatten? Gemeinsam hätten sie noch weniger riskiert als ich. Oder waren sie von Hause aus träge und feig? Warum hatten wir bald den alten Jakob Walcher und Wolfgang Harich und Jochen Wenzel und Walter Janka und Erich Loest und später Rudolf Bahro und so manchen Genossen auf dem Gewissen? Auf andere Weise auch Ernst Bloch?

Fünf Jahre nach dem Eklat in Jena waren Honecker in Berlin und Paul Fröhlich in Leipzig noch mächtiger geworden. Über Honeckers Staatsstreich 1957 habe ich erst vierzig Jahre später berichten können in Kapitel dreizehn meines Buches „Marx und Moritz – Unbekannter Marx – Quer zum Ismus“.

Als ich schon nicht mehr in Jena war, fuhr mein Vater von Chemnitz nach Jena, um mit Georg Klaus, dem Alt-Kommunisten, zu sprechen. Vielleicht weiß der Professor Rat? Der wusste keinen Rat. Vater erzählte mir später von seinem Besuch bei Klaus: „Das ist aber ein feiner Mann.“ So sagt man in Sachsen, wenn man zuvor nicht sicher war, einen Fremden rühmen zu können.

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