Nicht der Mühe wert, Herr Piketty!

 In Georg Rammer, Kultur, Wirtschaft

PikettyKapitalThomas Piketty hat mit dem Mammut-Werk “Das Kapital im 21. Jahrhundert” viel Furore gemacht. Eigentlich sollte man sich freuen, wenn jemand messerscharf erkennt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht (ach ja?) und damit auch noch Erfolg hat. Georg Rammer ist dennoch nicht überzeugt, dass die Zeit für die Lektüre der über 900 Seiten gut investiert ist. Zu viel höhere Mathematik, zu wenig Anteilnahme am konkreten Schicksal der Betroffenen, wirft er dem Star-Autor vor.

Lieber Herr Piketty!

Sie haben sich ja wahnsinnig viel Arbeit gemacht! 912 Seiten! War das wirklich notwendig? Ich muss Ihnen leider sagen: Nein. Sie hätten es sich viel einfacher machen können. Angesichts der Begeisterung, die Sie mit Ihrem Wälzer ausgelöst haben, ist das sicher eine gewagte These. Aber oft ist ja so: Der Inhalt eines Werkes ist bescheiden, erstaunlich ist die Medienhype, die darum gemacht wird.

Nun, Sie offenbaren in Ihrem dicken Werk die wichtige Erkenntnis: Die Reichen werden immer reicher und die Armen haben nichts davon – im Gegenteil. Wissen Sie was? Ich, der ich ja gar kein Wissenschaftler bin, ich hätte Ihnen kiloweise Daten und rechtfertigende oder wütende Kommentare dazu liefern können: Ja, die Kluft wird immer größer, die Gier der Reichen kennt keine Grenzen und die Menschen am anderen Ende stürzen ins Elend.

Am anderen Ende? Das trifft es nicht: Die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung besitzt gerade mal 1,4% des gesamten Nettovermögens. Und die Reichsten, gerade mal 1%, besitzen mehr als 90% der Bevölkerung. Aber das ist doch nicht neu, Herr Piketty! Lesen Sie keine Zeitung? Haben Sie denn nichts von der Kampagne UmFairTeilen gehört? Oder von Blockupy? Inzwischen verkünden es sogar die Bastione bürgerlicher Leitmedien wie FAZ und Zeit und Spiegel: „Krasse Ungleichverteilung der Einkommen und des Vermögens ist gefährlich. Ein wahrer Billionen-Segen erfreut die Großerben.“ (Die Zeit)

Gestatten Sie mir eine Frage: Meinen Sie das ernst mit dem ganzen mathematischen Brimborium, mit dem Sie Ihr „Grundgesetz des Kapitalismus“ beweisen wollen? Anscheinend haben Sie es geschafft, damit sogar Nobelpreisträger wie den ehrenwerten Paul Krugman zu beeindrucken. In den „Blättern“ lobt er Ihr „opus magnum“, mit dem Sie „unseren Ökonomiediskurs verwandelt“ haben. Weil Sie nachweisen, dass „selbst heutzutage Kapital- und nicht Arbeitseinkommen an der Spitze der Einkommensverteilung vorherrschen.“ Wie bitte? Das soll neu sein? Auf einem mathematischen Gesetz beruhen?

Lieber Herr Piketty, so viel Naivität traue ich Ihnen nicht zu. Das ist doch keine Mathematik, das ist Kapitalismus! Ich glaube, der gehorcht nicht der Mathematik, sondern Ihr „Gesetz“ funktioniert, weil es Klassen und Herrschaft einer Elite gibt! Die machen eben die Gesetze so, dass Ihr „Gesetz“ hinten herauskommt. Sie haben doch sicher auch schon von Agenda 2010 und Troika und Austeritätspolitik gehört, oder? Na also. Und Herr Steinmeier erzählt noch heute den Arbeitgebern, dass es doch er und seine Partei waren, die mit ihren Steuergesetzen und der ganzen Deregulierung dafür gesorgt haben, dass es so ist wie es ist! Er ist immer noch ganz stolz darauf.

Gut, Sie können mir natürlich entgegenhalten, dass die Wirtschaftswissenschaft das alles nicht zur Kenntnis genommen hat. Da geb ich Ihnen recht. Seit Milton Friedman und seinen Boys aus Chicago und allen Nachfolgern auch bei uns in Deutschland wie Herr Sinn oder die Fünf Weisen gab und gibt es in der Tat nur noch die Weisheit des Marktes. Da hatte niemand mit einer abweichenden Meinung eine Chance, weder in der „Wissenschaft“ noch in der Politik. Aber auch das sollten Sie wissen, Herr Piketty, das sind eben keine Wissenschaftler, sondern Märchenerzähler, die von dem Wahnsystem sehr gut leben können. Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Neurotiker und einem Psychotiker? Der Neurotiker baut Luftschlösser, der Psychotiker wohnt darin – und der Psychiater kassiert die Miete. Das gilt offensichtlich auch für die Neoliberalen.

Das alles und noch viel mehr hätten Sie wissen können, lieber Herr Piketty, wenn Sie sich zum Beispiel mit der Zeitungsausträgerin unterhalten hätten, die bei mir im ersten Stock wohnt und nachts um halb vier aufstehen muss, vorsichtig, um die Kinder nicht zu wecken. Oder mit Millionen anderer Menschen mit ihren Niedriglöhnen und ihrer Wut auf die Steuerhinterzieher und Fondsmanager. Darf ich Ihnen einen Tipp geben? Gehen Sie mit offenen Augen durch die Welt. Und reden Sie mit den Leuten. Nur noch jeder 12. meint, dass es auf der Welt im Allgemeinen gerecht zugeht. Dagegen sagen vier von fünf BürgerInnen: Auf die Interessen des Volkes wird kaum Rücksicht genommen.

Hoffentlich sind Sie jetzt nicht enttäuscht, dass Sie die ganze Mühe umsonst auf sich genommen haben. Aber die geradezu hymnischen Ovationen (und die Einkünfte von dem Megabestseller) werden Sie sicher über die Enttäuschung hinwegtrösten. Ich meine, es ist nicht alles verloren; ab und an schimmert bei Ihnen auch die Erkenntnis durch, dass „keine Heuchelei zu groß ist, wenn die wirtschaftlichen und finanziellen Eliten ihre Interessen verteidigen müssen.“ Da kommen wir der Wahrheit schon etwas näher.

Hätten Sie nach einer kurzen Zusammenfassung der skandalösen Ungleichheit wenigstens einige Ideen skizziert, wie in dieser „kannibalischen Weltordnung“ (Jean Ziegler), in der „der Mensch als Konsumgut betrachtet wird“ (Papst Franziskus) und die Eliten „mit geballter Wucht einen Klassenkampf von oben inszenieren“ (Wilhelm Heitmeyer) die Herrschaft dieser Klasse gebrochen werden kann, ich hätte Sie für den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften vorgeschlagen. Wir wissen viel darüber, wie es in der Welt läuft. Der Milliardär Warren Buffet sagt es ganz offen: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.” Aber immer noch ist es nicht gelungen, das zu ändern.

Ihr
Georg Rammer

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