Nicht-Meldungen und Staatsräson
Das Bild der Realität wird durch Medien vermittelt – selektiv und manchmal retuschiert und mit Bildbearbeitungsprogrammen geschönt. Zur Selektion gehört auch, worüber nicht berichtet wird. Dass manche Ereignisse eine Meldung wert sind, andere nicht, ist oftmals nur schwer nachzuvollziehen. Da eine Nicht-Meldung naturgemäß nicht begründet wird – sonst wäre es ja eine Meldung –, entsteht zwangsläufig ein Manipulationsverdacht. Georg Rammer
Am 20.2. berichtete die Tageszeitung junge Welt über Recherchen der UN-Sonderberichterstatterin und Menschenrechtsbeauftragten Alena Douhan in Venezuela. Danach haben Sanktionen der USA und der EU gegen das Land „verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung“; sie erschwerten „den Zugang des Landes zu Nahrungsmitteln und Medikamenten“. Die humanitäre Krise in dem Land sei eine direkte Auswirkung der Sanktionen. Der einzige Weg zum Schutz der Menschenrechte sei „die Aufhebung der Sanktionen und die Wiederherstellung von normalen Beziehungen zwischen den Nationen“, sagte Duohan. Diese Stellungnahme war sonst nur der Welt eine Meldung wert. Sie verkehrte allerdings die Ergebnisse der UN-Beauftragten ins Gegenteil: „Europa wird mit UN-Hilfe von Venezuelas Diktator Nicolas Maduro an den Pranger gestellt.“
Laut einer Studie des UN-Welternährungsprogramms hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage in Syrien bedrohlich entwickelt und seit dem Abflauen der Kämpfe sogar verschlechtert. 60 Prozent der Bevölkerung leiden an Nahrungsmangel. Viele sind komplett auf UN-Hilfslieferungen angewiesen. Die wenigsten Medien (etwa taz am 23.2.) berichten darüber; nicht erwähnt wird, welche Rolle dabei der Caesar Act (Sanktionen der USA) und die völkerrechtswidrigen US-Militärbasen im Land spielen. Zielen die Mächte, die in Syrien mit Gewalt einen Regime-Change durchsetzen wollen, auf eine Spaltung des Landes, wie der russische Außenminister Lawrow behauptet? Hat all das die Bevölkerung nicht zu interessieren?
Auch in der Innenpolitik tun sich Informationslücken auf. Auf der Internetseite von Police-IT (Link NachDenkSeiten am 12.2.) entdeckt man eine Meldung über VeRA. Das ist die Abkürzung für „verfahrensübergreifende Recherche und Analyse“ und ist Teil des Programms Polizei 2020 „zur Kooperation der deutschen Polizei- und Sicherheitsbehörden“. Nichts erfährt man darüber in den großen Medien, obwohl doch schon die Zusammenarbeit der Polizei mit Geheimdiensten aller kritischen Aufmerksamkeit bedürfte. Nach Police-IT braut sich da Brisantes zusammen: „Mit der gleichzeitigen Einführung von Steuer-Id und dem Gesetz zur Registermodernisierung, das über 200 Datenbanken von Behörden und Institutionen gleichzeitig nutzbar machen soll, und der zeitgleichen Einführung von VeRA entsteht ein zentraler Beobachtungs- und Überwachungsmonitor über uns alle und werden Polizei- und die anderen (…) Sicherheitsbehörden zu Superbehörden mit Ausforschungsmöglichkeiten gemacht, von denen das Reichssicherheitshauptamt oder die Stasi nur träumen konnten.“ Warum erfahren wir anderswo nichts darüber?
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der eine weitere krasse Spaltung der Gesellschaft offenbart, bleibt in den meisten großen Medien eine Eintagsfliege. Auch nach dem Sozialbericht des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (in Zusammenarbeit mit drei Institutionen des Bundes), der die verfestigte Armut offenlegt, ging man rasch zur Tagesordnung über. Eine solche Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen in Verbindung mit der Verfestigung der Armut dürfte es zwar in einem sozialen Rechtsstaat nicht geben. Aber der Zustand ist politisch geschaffen und gewollt, und die konformen Medien haben offensichtlich nicht vor, den Skandal den Verantwortlichen anzulasten. Sie prangern zwar Bestechung und Bereicherung von Parlamentariern als „Einzelfälle“ an; wo solche Korruption hingegen System hat – Steuerpolitik, Lobbyismus, politischer Einfluss des Kapitals –, da halten sie sich diskret zurück.
Die Liste der systematisch vernachlässigten Themen der letzten Zeit ließe sich lange fortsetzen. Kaum Erwähnung fand etwa die Aufrüstung der EU-Grenzschutzagentur Frontex oder die Vernetzung rechtsextremer Elitesoldaten, Polizisten und Geheimdienstler; die chaotische politisch-wirtschaftliche Lage in der Ukraine, die (aktuell geleakte) Unterstützung des Putsches in Bolivien durch Großbritannien oder die Propagandalügen über den Krieg in Libyen. Dass 450 soziale Organisationen den Stopp des Freihandelsvertrages zwischen der EU und den Mercosur-Ländern fordern, war nur der taz und einigen Alternativ-Medien eine Meldung wert. Wir würden über solche Ereignisse gar nicht unterrichtet, gäbe es nicht unabhängige Medien und Nachrichtenportale. Auch Qualitätsberichte in meinungsprägenden Medien können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Leitungsebene regierungsnah und staatstragend ist.
Zu den staatstragenden Aufgaben gehört offensichtlich auch das Aufbauen von Feindbildern durch Mainstreammedien, die ohne journalistische Sorgfalt schwerwiegende Beschuldigungen gegen Staaten erheben, die sich dem herrschenden Konsens und den Interessen des Westens nicht unterordnen (vgl. dazu den aufschlussreichen Bericht des Konfliktforschers Leo Ensel auf infosperber.ch am 25.3.21: „West-Ost-Brückenbauer, abgedrängt an die Ränder – ein Lehrstück“.) Wie im Kalten Krieg übernehmen zum Beispiel die großen Medien eine Meldung der East StratCom Task Force des Auswärtigen Dienstes der EU (EAD): „Russland betreibt einem EU-Bericht zufolge eine systematische und umfassende Desinformationskampagne gegen Deutschland“ (DeutscheWelle 9.3.). Ziel der Kampagne sei es, Unsicherheit und Zwietracht zu säen. Fast wortgleich reproduzieren etwa Tagesspiegel, Focus, Handelsblatt, BNN, ZDF, Dlf, Zeit die Nachricht. Hat sich auch nur eine der Redaktionen die Mühe gemacht, die Anschuldigung zu überprüfen? Diese Arbeit bleibt ›alternativen‹ Medien überlassen. So zeigen etwa die NachDenkSeiten, dass die EU-Task Force zahlreiche nicht-russische Internetportale oder gar (nicht-staatliche) Blogger zur angeblichen russischen Kampagne zählt (vgl. auch die Analyse von Thomas Röper im Anti-Spiegel vom 9.3.).
Auf der anderen Seite gibt sich die Bundesregierung sehr wortkarg, wenn sie kritische Fragen zum Fall Nawalny beantworten soll (vgl. Telepolis, 19.2.). Sie beruft sich auf „berechtigte Geheimhaltungsinteressen“ und behauptet: „Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.“ Warum begnügen sich die großen Medien mit der Behauptung, Informationen würden das Staatswohl gefährden? Es ist unvorstellbar, dass alle JournalistInnen und RedakteurInnen dieses Konvolut aus Politiker-Statements, Geheimdienstmaterial und zusammengeschusterten Halbwahrheiten glauben. Von Tausenden, die das Insiderwissen über Propaganda und Manipulation haben, decken nur wenige mutige Dissidenten und Whistleblower das Falschspiel auf. JournalistInnen sind sicher auch Zwängen unterworfen, die ein ehemaliger Journalist des Medien-Imperiums von Rupert Murdoch so zusammenfasste: „Er (Murdoch) sagte uns nicht, was wir schreiben sollen. Wir wussten aber, was er von uns erwartet“ (taz, 16.7.2020).
So fand auch ein Interview mit dem investigativen Journalisten Max Blumenthal in deutschen Medien keine Resonanz: „Wie die Geheimdienste & Medien Russland untergraben“ (acTVismmunich auf YouTube, 11.3.). Er wertete geleakte Dokumente aus dem Umfeld des britischen Außenministeriums aus. Sie zeigen: Mit privaten Sicherheitsunternehmen, Propaganda-Organisationen und mithilfe der altehrwürdigen BBC und des Medienkonzerns Thomson Reuters wurde ein Netzwerk gegen Russland aufgebaut – für einen effektiven Informationskrieg und einen Regime-Change.
Welch krasser Gegensatz: Im Fall angeblicher russischer Desinformation übernehmen alle namhaften Medien ungeprüft die ›Fakten‹ der Task Force. Großes Schweigen bedeckt hingegen Meldungen über den westlichen Propagandakrieg gegen Russland und China. Ein Wechsel der Perspektiven kann Aufschluss geben über die Heuchelei des „Wertewestens“. Die taz titelt am 18.3.: „Brüssel will China bestrafen“ – wegen Unterdrückung der Uiguren. Wie würden hierzulande die Medien reagieren, wenn Peking Brüssel bestrafen wollte wegen der menschenverachtenden Politik der Flüchtlingsbekämpfung? Direkt daneben ein weiterer Artikel: „Großbritannien will im ›Indo-Pazifik‹ zukünftig stärker präsent sein“. Was wäre hier los, wenn es hieße: „Chinas Marine will in der Nordsee stärker präsent sein“?
Würden die großen Medien umfassend recherchieren, differenziert berichten und ihre Aufgabe als kritische Instanz gegenüber der Machtelite wahrnehmen: Deutschland wäre ein sozial gerechtes, friedliebendes Land.