«Nix ess für die Ewigkeit»

 In FEATURED, Kultur, Spiritualität

Wolfgang Niedecken und Bruder Thomas Quartier

Spirituelle Begegnung mit Wolfgang Niedecken. Vor 36 Jahren sangen BAP – hier vom Kölschen ins Hochdeutsche übersetzt: “Wenn das Beten sich lohnen würde, was meinst du wohl, was ich dann beten würde.” Ist Niedecken überhaupt ein geeigneter Gesprächspartner für spirituelle Themen? Bruder Thomas Quartier begnete einem nachdenklichen, immer forschenden und fragenden Agnostiker, der aus seiner inneren und äußeren Heimat Kraft schöpft. Und einem Mann mit klarem ethischen Kompass, wie seine Lieder, z.B. “Kristallnaach” bewiesen haben. (Thomas Quartier osb)

Das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit und Heimat hat deutsche Nachkriegsgenerationen geprägt. Man befreite sich von Zwängen der Eltern, Erzieher und nicht zuletzt des „lieben Gottes“. Wo die einen buchstäblich das Weite suchten, besannen andere sich auf ihre Wurzeln. Nichts wie weg aus beengenden Strukturen der Vergangenheit? Oder eine Neuentdeckung der Herkunft?

Wolfgang Niedecken, Jahrgang 1951 und seines Zeichens Gründer, Sänger und Geschichtenerzähler der Kölner Band BAP, verkörpert seit über vierzig Jahren Heimat und Fernweh, Verlangen und Zuversicht. Was wie ein Gegensatz erscheint, kommt in seiner Person zusammen. Er ist seine eigenen Wege gegangen, hat sich nicht angepasst, die Welt bereist und Millionen Platten verkauft. Dennoch ist er seiner Heimat treu geblieben. Er gehört zu Köln wie das Kölsch und der Dom.

Apropos Dom: Wie verhält es sich nach einer abenteuerlichen und zugleich heimatverbundenen Suche mit der Religion, die in der Vergangenheit im erzkatholischen Elternhaus so bestimmend war? Niedecken bezeichnet sich selber als „restkatholisch“. Geht es dabei um eine Art religiösen Lokalkolorit? Oder sind auch spirituelles Verlangen und Zuversicht mit dieser Selbstdefinition verbunden?

Seit meiner frühen Jugend höre ich, wie eigentlich jeder im Rheinland, die Songs von BAP. Mit sechzehn besuchte ich mein erstes Konzert, das war am 26.5.1989 in Xanten. Die Suche, die Wut und auch die typische Kölner Lebenshaltung waren mir in mancher Krise Reibungsfläche und Identifikationspunkt. Heute sind Verlangen und Zuversicht für mich die zentralen Motive meines Lebens: als katholischer Mönch im Benediktinerorden. Auch ich habe das Weite gesucht, aus einem kleinen Dorf am Niederrhein. Und ich habe erneut Wurzeln geschlagen, in der kleinen Abtei, in der ich heute lebe.

Das klingt völlig anders als die Geschichte jenes Helden meiner Jugend aus der Großstadt am Rhein. Aber unter der Oberfläche sind das Verhältnis zur Vergangenheit und die Suche nach einer stabilen Heimat eine Gemeinsamkeit. Eine Begegnung zwischen „Restkatholik“ und Mönch im Lichte von Endlichkeit und Ewigkeit ist eine Herausforderung, die ich gerne annehme, wie auch Wolfgang Niedecken. Und so mache ich mich am 4.10.2018 mit meinem langjährigen Weggefährten Robert, Sozialpädagoge und Vater meines fünfjährigen Patenkinds Hannah, auf den Weg nach Wuppertal, wo Niedeckens BAP im Rahmen der „Live und deutlich“ Tour in der ausverkauften Stadthalle auftreten.

Wie wird der Mann, der selber Missbrauchsopfer in einem katholischen Internat war, auf die Begegnung mit einem Mönch reagieren? Seine Frau Tina holt uns nachmittags vor der Halle ab: „Ich war bei Benediktinern in der Schule“, sagt sie freundlich als Reaktion auf mein schwarzes Ordensgewand. Auch sagt sie: „Du trägst schon mal den richtigen Schal“, als Reaktion wiederum auf den schwarzen FC-Köln-Schal, den ich an jenem Übergangstag im Herbst trage. Der FC ist eine meiner alten Lieben, und den Schal trage ich oft, wenn ich unterwegs bin. Hinter der Bühne warten wir auf Wolfgang, der sich nach beendetem Soundcheck zu uns gesellt. Auch ihm gefällt der Schal, und er reagiert mit denselben Worten wie seine Frau. Was für ein Zufall.

Robert und ich hatten vorher überlegt, ob ich ihn auf die Narben der Vergangenheit, der Erfahrungen im Internat in Rheinbach, ansprechen sollte. Es ist eine Vergangenheit und leider noch viel zu oft Gegenwart, die ich selber im Kloster nie erlebt habe und hoffe, nie erleben zu müssen. „Ich fand es gut, wie Du vorige Woche im Fernsehen über die Missbrauchsgeschichte gesprochen hast“, sage ich. „Man merkte deine Wut, ohne dass es bitter oder belehrend wirkte. Eine heilige Wut!“. „Gut, dass das so rüberkam. Ich bin nicht verbittert“, sagt Wolfgang. Genau dieses Gefühl ist vielleicht der Schlüssel für eine Spiritualität, die sich zwischen Vergangenheitsbewältigung und Hoffnung, zwischen Heimatverbundenheit und Fernweh, zwischen Verlangen und Zuversicht bewegt.

Ewigkeit

Wenn man älter wird, stellt sich unweigerlich die Frage nach der eigenen Endlichkeit, auch bei Wolfgang Niedecken. Seit seinem Schlaganfall am 2.11.2011 spielt das Thema für ihn eine große Rolle. In seinem zweiten autobiographischen Buch „Zugabe“ schreibt er: „Vor dem Schlaganfall wusste ich um meine Sterblichkeit, danach fühlte ich sie“ (111). Als ewig Reisender reagiert er auf die drohende Endstation, an der er gerade noch mal vorbeigefahren war: „Jetzt genügte es zu wissen, dass es mir vergönnt war, wieder an ein Morgen und ein Übermorgen zu glauben“ (104). Auf dem BAP-Album von 2016 kommt das Thema auch in Liedform zurück. Gibt es so etwas wie Ewigkeit? Niedecken setzt sich in einem Songtext mit seinem religiösen Horizont spielerisch auseinander – und will sich von nun an ganz auf die Gegenwart konzentrieren:

„Lebenslänglich sucht man Zuversicht,
Glas halv voll oder halv leer?
Häzz un Anker draach ich jähn für dich,
nur dat Krüzz ess mir zo schwer“.

[Lebenslänglich such man Zuversicht,
das Glas halb voll oder halb leer?
Herz und Anker trage gerne für dich,
nur das Kreuz ist mir zu schwer.]

Die Symbolik, auf die der Sänger hier anspielt, bezieht sich auf die christlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Liebe (das „Herz“) und die Hoffnung (der „Anker“) sind der Motor der Suche für den Barden: nach Ewigkeit im Hier und Jetzt. Aber der Glaube (das „Kreuz“)? Genau da scheint es für ihn zum Bruch zu kommen. Die Ewigkeit kommt in seinem Text nicht vor, im Gegenteil, der Refrain lautet:

„Nix ess für die Ewigkeit, alles jeht vorbei.
Alles nur vorläufig, alles endlich un verjänglich,
wie die Wolke un dä Wind.
Nix ess vüürherbestemmp
om uferlose Ozean der Zeit,
dä Odysee em Universum der Unendlichkeit“.

[Nichts ist für die Ewigkeit, alles geht vorbei.
Alles nur vorläufig, alles endlich und vergänglich,
wie die Wolken und der Wind.
Nichts ist vorherbestimmt
Auf dem uferlosen Ozean der Zeit,
der Odyssee im Universum der Unendlichkeit.]

Unendlichkeit hat eine kosmische Dimension, aber anscheinend nichts mit einer Vorstellung vom Jenseits zu tun. Ich wundere mich, und frage Wolfgang: „Wirklich nicht? Das Verlangen, das aus der Endlichkeitserfahrung spricht, ist doch schon eine Art Ewigkeitshoffnung?“ Wolfgang überlegt einen Moment und antwortet: „Ich habe das Verlangen nie weggedrückt. Nur wenn man eine bestimmte Glaubensvorstellung blanko unterschreiben muss, komm ich nicht mit“. Für ihn ist der Glaube, das „Kreuz“, eine Vorstellung, die ihm buchstäblich „zu schwer“ wird, wenn sie dogmatische Formen annimmt.

Relativität

Ich fühle mich insgeheim mit Wolfgangs Zweifeln verwandt. Auch ich tue mich spontan schwer mit allzu sicheren Ausgangspunkten. Aber was bedeutet dann noch Glauben? Vielleicht ist Glauben inhärent mit einer Relativierung verbunden, die vor nichts haltmacht? Auf demselben BAP-Album befindet sich das Lied „Alles relativ“, mein persönlicher Favorit. Niedecken erzählt in diesem Song seine eigene Geschichte: Wie er als kleiner Junge in einem schlüssigen und geschlossenen Weltbild keine Fragen zu stellen braucht, wie er auch als zorniger Jugendlicher von der absoluten Bedeutung seines Protests ausgeht. Doch irgendwann kommt der Bruch, und die Relativität gewinnt die Überhand. Ist er ein Relativist? Ich habe so meine Zweifel: „Ich finde, du tust deinem Song damit Unrecht, es gibt doch auch hier eine Zuversicht, die aus der Relativität hervorgeht“. Wolfgang überlegt erneut: „Ich habe versucht, in meiner Lebensgeschichte einige Erkenntnisse zu verarbeiten, sofern ich sie denn verstehe. Vieles verstehe ich auch nicht“. Ich hake nach und frage erneut nach der Unendlichkeit. „Ich verstehe die Unendlichkeit auch nicht“, so Wolfgang. Nun, genauso geht es mir, und darum bin ich Mönch geworden. Er hat, wie ich vermute, genau darum sein Leben gelebt und viele seiner Lieder geschrieben.

Vertrauen

Wer alles relativieren will, braucht grenzenloses Vertrauen. Nur allzu oft geht uns genau das in der heutigen Zeit verloren. Bei Niedecken bleibt seine Wut lebendig, die Fremdheit in einer Zeit, die kaum mehr seiner Vorstellung von einem guten Leben entspricht. Sein Verlangen nach einer Welt, die Vertrauen als heiligen Grundsatz kennt, wird dadurch jedoch nicht erstickt, im Gegenteil. Wer das einfordert, gehört nicht in die ‚Welt‘, wie sie sich uns präsentiert. Er weigert sich, auf die Illusion zu warten, die man sich letztlich nicht zu relativieren traut. Er singt seine Wut heraus, und genau das ist Zeichen seines Vertrauens:

„Dat Eis der Zivilisation weed dönner, Daach für Daach,
ne Handschlaach ess längs winnjer wert, als irndne Scheiß-Vertrag.
Die Trittbrettfahrer triumphiere, un mir waade op Godot.
Dat ess nit mieh ming Welt, hührt mir noch einer zo?“

[Das Eis der Zivilisation wird Tag für Tag dünner,
ein Handschlag ist längst weniger wert als irgendein Scheiß-Vetrag.
Die Trittbrettfahrer triumphieren, und wir warten auf Godot.
Das ist nicht mehr meine Welt, hört mir noch einer zu?]

Bleibt denn dann nur noch die Weltflucht? Mir als Mönch wird oft unterstellt, der Kontrasterfahrung, die die Dekadenz unserer Zeit mit sich bringt, hinter Klostermauern zu entfliehen. Ich empfinde es ganz und gar nicht so. Im Gegenteil: für mich ist das Kloster der Raum, wo ich mich auf den Horizont meiner Suche besinnen kann. Kennt Wolfgang auch so etwas? „Sicher, wenn ich in meinem Arbeitszimmer aus dem Fenster schaue, sehe ich den Rhein. Das hat etwas Kontemplatives“, erzählt er mir. Der Fluss kann, so paradox es klingen mag, Stabilität vermitteln, zum fließenden Kloster werden. In seinem Song folgt dann schließlich doch eine Art „Glaubensbekenntnis“:

„Nur wohre Liebe un dä Duud
sinn endjüldisch un absolut,
met nix vergleichbar. Wie`t ussieht,
ess alles andre tatsächlich relativ“.

[Nur wahre Liebe und der Tod
Sind endgültig und absolut,
mit nichts vergleichbar. Wie’s aussieht,
ist alles andere tatsächlich relativ.]

Liebe und Hoffnung sind „heilige Grundsätze“. Um bei ihnen auszukommen, muss man alles relativieren. „Glaubenssätze“ sind dazu für Wolfgang nicht möglich, wie er schon gesagt hatte, aber auch nicht nötig, so finde ich. Nun kann man sicher darüber streiten, ob Glauben mit Dogmen verbunden sein muss. Ich für meinen Teil habe im Mönchtum eine radikale Suche gefunden, die nicht dogmatisch, sondern radikal offen ist. So wie die des Songschreibers am Fenster mit Blick auf den Rhein.

Agnostisch

Was den Glauben angeht, kommen wir als Rheinländer gut ins Gespräch – rheinischer Katholizismus eben. Wolfgang sagt dazu: „Ich bin agnostischer Katholik“. Ich erkenne mich auch als fünfundvierzigjähriger Mönch in diesem nach Zuversicht suchenden Mann wieder, der „auf die siebzig zugeht und langsam alt wird“, wie er in seinem Song dichtet. Hat seine Haltung auch mit seiner Lebensphase, der Konfrontation mit Endlichkeit zu tun? „Ich denke heute manchmal: erwachsener werde ich nicht mehr. Manchmal frag ich mich auch, was ich als nächstes Album noch machen soll, ohne mich zu wiederholen“. Das heißt, dass man nicht mehr immer alles auf die Spitze treiben muss. Was man nicht versteht und womit man Schwierigkeiten hat, bedeutet nicht zwangsläufig eine spirituelle Orientierungslosigkeit. „Für mich war der ‚Herrjott‘ in der Kindheit allgegenwärtig“, sagt Wolfgang. „Es wurde selbstverständlich gebetet“. Aber geht das, agnostisch beten? „Schon 1982 hab‘ ich einen Song geschrieben, der eigentlich ein Gebet ist“. Ein Gebet, dass unmöglich ist, sinnlos, und deshalb im Konjunktiv gehalten:

„Wenn et Bedde sich lohne däät,
wat meinste wohl, wat ich dann bedde däät.
Ohne Prioritäte, einfach su wie et köhm fing ich ahn.
Nit bei Adam un nit bei Unendlich,
trotzdämm jeder un jedes köhm draan.
Für all dat, wo der Wurm drin, für all dat,
wat mich immer schon quält,
für all dat, wat sich wohl niemohls ändert.
Klar – un och für dat, wat mer jefällt.“

[Wenn das Beten sich lohnen würde,
was meinst Du, wie ich dann beten würde.
Ohne Prioritäten, einfach so, wie es käme, finge ich an.
Nicht bei Adam und bei Unendlich,
trotzdem, jeder und jedes käme dran.
Für all das, wo der Wurm drin ist, für all das,
was mich schon immer quält,
für all das, was sich wohl niemals ändert.
Klar, und auch für das, was mir gefällt.]

Betet der Sänger nun oder betet er nicht? Ich war ehrlich gesagt überrascht, als Wolfgang das Lied als „Gebet“ und nicht vielmehr als „Gebetskritik“ bezeichnete. Doch langsam spürte ich, dass sich dieser Gegensatz früher oder später auflöst. Die Unfähigkeit zu beten wird selber zum Gebet, wie agnostisch auch immer. Letztlich ist dies das Paradox einer suchenden, performativen Spiritualität. Man tut, was eigentlich nicht geht. Man benennt, dass es nicht geht, und genau darin tut man es eben doch. Darin zeigt sich das Verlangen. Das kommt auch gegen Ende des Textes zum Ausdruck:

„V’leich beneid ich och die gläuve künne,
doch wat soll’t, ich jaach doch kei Phantom“.

[Vielleicht beneide ich auch jene, die glauben können.
Aber was soll’s, ich jage doch kein Phantom].

Religion

Ist das Beten tatsächlich so etwas wie das Warten auf Godot? Der Respekt, den Wolfgang gegenüber den religiösen Praktiken anderer hat, zieht sich durch sein Schaffen. Er ist nicht zynisch, nicht herablassend oder destruktiv: „Ich habe immer gut mit der Religion der Menschen um mich herum leben können“, sagt er. Dass er selber ein Lied geschrieben hat, indem er das Beten für sich ausschließt und damit eigentlich ein Gebet schreibt, ist vielleicht die beste Antwort. Früher hat er durchaus auch sehr glaubenskritische Lieder geschrieben. Doch in seiner Biographie ist eine gewissen Milde entstanden: „Ein Lied wie ‚Vatter‘ von meinem ersten Soloalbum, in dem ich das Theodizee-Problem auf aggressive Art und Weise angehe, würde ich heute nicht mehr schreiben“, bekennt er.

Wir kommen auf einen unserer gemeinsamen Helden zu sprechen: John Lennon. Wolfgang zitiert: „God is a concept by which we measure our pain”. “Das ist meines Erachtens oft als ein atheistisches Statement missverstanden worden“, sage ich. „Das glaube ich auch“, bestätigt er, „denn es ist einfach eine Feststellung. Am Ende glaubt Lennon vor allem an sich selber, aber das eine schließt das andere nicht unbedingt aus“. Im Lichte der Selbstrelativierung, von der wir vorher gesprochen haben, geht mir der „agnostische Katholizismus“ auf: ich kann durchaus alles relativieren und doch von meiner eigenen Existenz ausgehen. Vielleicht zeigt sich darin ja „Gott“, was immer wir mit diesem Wort nach unseren menschlichen Maßstäben bezeichnen.

Wolfgang hat das bei seinem Schlaganfall erfahren: „Ich weiß bis heute nicht, woher die Zuversicht kam, die ich empfand, als ich wieder wach wurde. Ich wusste: alles wird gut, es gibt eine Zukunft“. Diese Zuversicht, das Grundvertrauen, ist eine „gläubige“ Art, mit Relativismus zu leben. Wenn Lennon noch davon ausging, dass es eine bessere Welt ist, wo es keine Religion gibt („Imagine there’s no heaven […] and no religion, too“), hat Niedecken in seiner kölschen Version dieses Klassikers in der Tat eine mildere Sicht. Ewigkeit und Religion sind nur falsch, wenn sie andere ausschließen und Menschen kleinmachen:

„Nur ene Himmel jööv et un kein Höll,
Kein Relijion, die sich für die einzig wohre hällt“.

[Es gäbe nur einen Himmel und keine Hölle,
keine Religion, die sich für die einzig wahre hält“]

„Das ist der Unterschied“, erläutert Wolfgang: „Ich richte mich nicht gegen die Religion im Allgemeinen. Und auch nicht gegen den Himmel. Nur gegen das Negative“. Genau diesen Grundsatz versuche ich im Kloster zu leben, so denke ich. Die Hölle ist weit genug weg von mir, so dass sie mich nicht belastet. Und wie könnte man die eigene Religion für die einzig richtige halten, wenn man ein „agnostischer Mönch“ ist? Es tut gut, sich gegenseitig nicht ums Gebet zu beneiden, sondern gemeinsam zu träumen, wie ich es an diesem Nachmittag in Wuppertal erfahre:

„Schloof joot, dräum schön, et ess ald spät“
[Schlaf gut, träum schön, es ist schon spät.]

Heimat

So langsam schalten Tina und Robert sich in unser Gespräch ein. Tina erzählt von ihrer Tätigkeit als Yogalehrerin, in der es vor allem darum geht, „aus der eigenen Mitte heraus zu handeln“. Es wäre toll, darüber weiterzureden, denn auch hier gibt es viele Parallelen zum monastischen Leben. Wir reden auch über Roberts Tätigkeit als Sozialpädagoge. Auch da gäbe es eine Menge zu sagen: Wolfgang setzt sich mit seinem Rebound Projekt seit langem für ehemalige Kindersoldaten in Uganda und anderen Krisenregionen ein. All das trägt sicher zur Ewigkeit bei, auch wenn es – ganz agnostisch – „nicht für die Ewigkeit“ ist. Wie hält man es jedoch auf Dauer aus, den Blick auf den Horizont gerichtet zu halten? Da scheinen sich Mönch und seit Jahrzehnten auf Achse lebender Bühnenkünstler doch drastisch voneinander zu unterscheiden. Mir fällt bei Wolfgang auf, dass er trotz aller Rastlosigkeit eine Stabilität verkörpert, die nur wenige haben: in seiner Stadt, seiner Familie, seiner Lebenshaltung.

„Ich kann das alles nur machen, weil ich einen ganz festen Heimathafen habe“, sagt er. Seine Familie ist dabei in jeder Hinsicht der Mittelpunkt: „Meine Familie weiß, was ich suche“. Da überrascht es auch nicht, dass er seiner Familie sein aktuelles Soloalbum gewidmet hat. Darin besingt er die Zugehörigkeit, die Stabilität bietet:

„Mir sinn reinrassije Strooßekööter
un Südstadt-Adel suwiesu.
Un och wenn et keiner ussprich,
insjeheim steht fest,
dat Bloot decker als Wasser ess.“

[Wir sind reinrassige Straßenköter
Und Südstadtadel sowieso.
Und auch wenn es keiner ausspricht,
insgeheim steht fest,
dass Blut dicker als Wasser ist.]

Das Geheimnis der Blutsverwandtschaft wird hier zum Symbol einer bedingungslosen Zugehörigkeit. Ich fühle mich als Mönch, der ja nun mal keine leiblichen Kinder hat, zunächst ein wenig pikiert. Ich denke an Hannah, mein fünfjähriges Patenkind, Roberts Tochter. Wir sind Familie füreinander, aber eben auf andere Art und Weise. „Versteh schon“, sagt Wolfgang. „Ich wollte die letzte Zeile eigentlich auch wieder rausnehmen. Aber meine Töchter haben protestiert“. Wir lachen, und ich merke, dass es um Heimat geht, die etwas Spirituelles hat: der Ort und die Menschen, wo man sich selbstverständlich zurückziehen kann, und ich denke auch an meine Mitbrüder in der Abtei, und eben auch an Hannah.

Moment

Für mich ist das Kloster der Raum, wo ich Momente finde, in denen ich mich fallenlassen kann. Was ist das Kloster im Leben von Wolfgang und Tina? Mir fällt spontan natürlich Köln ein. Nichts verbindet man so mit BAP wie den Dialekt, die Liebe zur Stadt, die Heimatverbundenheit. In unzähligen Liedern kommt das zur Sprache. Ohne allzu große Geste, ohne Kitsch. Wolfgang winkt gleich ab: „Pathos ist nicht meine Sache, dann bin ich nicht mehr dabei. Bei mir ist immer das Kriterium, ob mir beim Singen die Nackenhaare hochgehen“. Über Köln singt er zum Beispiel, ohne Pathos versteht sich:

„Enn dä ahle Stadt, wo ’sch herkumm,
Däm Millionedorf ahm Rhing,
Wo ming Ahne schon jelääv hann
Un ming Pänz jeboore sinn,
Sprich mer ’n Sprooch, die do jewaaße,
Die mer övverall erkennt“.

[In der alten Stadt, wo ich herkomme,
dem Millionendorf am Rhein,
wo meine Ahnen schon gelebt haben
und meine Kinder geboren wurden,
Spricht man eine Sprache, die da gewachsen ist,
die man überall erkennt.]

Es geht dabei nicht um einen Heimatkult oder um Brauchtum. Für Wolfgang zählt die Verwurzelung: „Ich bin kein Mundartverein, sondern singe in der Sprache, die für mich am authentischsten ist. Und das Kölsch lässt sich gut singen. Vielleicht würde es mit Sächsisch auch gehen, wäre einen Versuch wert“. In der Tat, so denke ich. Auch ich singe im Chorgestühl jene Sprache, die zu unserer Lebensweise passt: Latein. Kölsch und Latein – geht das zusammen? Durchaus, denn man braucht jene Sprache, die einem einen kontemplativen Moment ermöglicht, in dem man sich fallen lassen kann. Die kann sehr unterschiedlich sein, aber jeder muss eben die Seinige finden. Auch darüber singt Wolfgang:

„Für ’ne Moment wohr ich ahm Dräume,
Für ’ne Moment wohr ich wie hypnotisiert.
Für ’ne Moment wohr ich ahm Dräume,
Für ’ne Moment wohr die Uhr öm veezisch Johr zoröckjedrieht“.

[Für einen Moment war ich am Träumen,
Für einen Moment war ich wie hypnotisiert.
Für einen Moment war ich am Träumen,
Für einen Moment war die Uhr um vierzig Jahre zurückgedreht.]

So ist Wolfgang Niedecken immer bei seinen Wurzeln geblieben, auch wenn er ständig unterwegs ist, bis heute: „Ich habe ein unglaubliches Fernweh“, sagt er schmunzelnd. Wieder so ein Paradox. Das Verlangen nach Ferne setzt aber eine Stabilität voraus, die man in manch klassischem Lebensentwurf viel weniger braucht. Das Verlangen nach Ewigkeit lebt von seiner Zuversicht, die mich ansteckt, als ich ihm gegen Ende unserer Begegnung „alles Joode“ wünsche. Sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, verhindert keineswegs eine vollkommen offene Haltung der Zukunft gegenüber – und das nenne ich spirituell.

Natürlich endet unsere Begegnung nicht ohne eine symbolische Geste. Ich überreiche Wolfgang und Tina eine Skulptur aus unserer Abtei: zwei Mönche, die sich umarmen und den Frieden wünschen. Für mich stehen sie für Verlangen und Zuversicht, für Hoffnung und Liebe. Wolfgang und Tina freuen sich sichtlich: „Das bekommt bei uns einen Ehrenplatz“. Ich glaube es ihnen. Glauben? Ja, denn der Moment ist für die Ewigkeit. Eine kurze Umarmung, und dann besuchen Robert und ich das grandiose, über drei Stunden dauernde Konzert. Auf dem Heimweg glauben wir ein bisschen daran: „Nix ess für die Ewigkeit“, aber heute Abend war sie doch greifbar nahe. Und zu Hause bei Hannah und in der Abtei ist sie es auch. Wolfgang hat noch eine Widmung für mich in sein neues Buch geschrieben: „Bess demnähx, Thomas“. In der Tat: So sei es! Bis dahin freue ich mich schon mal auf die neue BAP-CD: „Live und deutlich“, ein wunderbarer Mitschnitt von der aktuellen Tournee, wohlgemerkt nicht aus Köln, sondern aus München. Grenzen überschreiten, relativieren und doch deutlich seinen Weg gehen, das geht durchaus zusammen, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

 

Autor:
Prof. Dr. Thomas Quartier osb (1972) wurde in Kranenburg am Niederrhein geboren. Er ist Mönch der niederländischen Abtei St. Willibrord in Doetinchem. An der Universität Nijmegen (NL) ist er Direktor des „Benediktinischen Zentrums für Liturgische Studien“ (BCL), an der Universität Leuven (BE) Professor für Monastische Spiritualität und an der Universität Sant Anselmo in Rom Gastprofessor für Ritual und Performance. Email: T.Quartier@ftr.ru.nl

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