Nun werden Menschenhelfer sogar schon als „Spione“ gebrandmarkt

 In FEATURED, GRIECHENLAND, Holdger Platta, Über diese Seite

Holdger Platta

336. Bericht zu unserer Spendenaktion „Helfen wir den Menschen in Griechenland!“ Griechenland kämpft. Griechenland kämpft mit dem Unglück im eigenen Staat. Aber Griechenland kämpft mit dem Unglück, indem es vor allem die Menschen im Unglück bekämpft: die Flüchtlinge, aber auch die Griechen und Griechinnen selbst. Und weiterhin schaut Europa nahezu ausnahms- und teilnahmslos zu. Schade, dass wir heute noch nicht mit eigenen, mit neuen, Gegenbeispielen aufwarten können. Aber wir bleiben bei dem, was auch weiterhin eine Eigenschaft zuverlässiger Menschengüte ist: bei der Beharrlichkeit. Holdger Platta

Liebe HdS-Leserinnen und liebe HdS-Leser,

vorweg: die in meinem letzten Hilfsbericht geäußerte Hoffnung, Euch bereits heute mitteilen zu können, an welche Hilfsbedürftige in Griechenland wir die 1.000,- Euro weiterverteilen werden, die uns ein unverhofft hoher Spendenanstieg während der Vorwoche als Möglichkeit beschert hat, werde ich Euch heute noch nicht beantworten können.

Wir von Deutschland aus möchten und können dies nicht entscheiden. Doch meine Anfrage bei unseren derzeitigen Griechenland-Reisenden Evi und Tassos Chatzatoglou konnte bislang nicht beantwortet werden. Ich hoffe nicht, daß Erkrankungsgründe eine Rolle spielen. Hoffen wir also auf das nächste Mal.

Insofern muss ich mich also ein weiteres Mal damit begnügen, die Verhältnisse in Griechenland generell zu schildern, vor allem auch auf den Inseln in der Südostägäis mit ihren Flüchtlingslagern.

Wen wird es verwundern, die Erwerbslosigkeit in Hellas nimmt auch weiterhin zu. Die erste Zahl klingt noch relativ undramatisch. Der Anstieg der Arbeitslosenrate während des zweiten Quartals 2020 gegenüber dem ersten Quartal beträgt nur 0,5 Prozentpunkte, nämlich von 16,2 auf 16,7 Prozent.

Doch sehr viel mehr Not signalisiert bereits die zweite Zahl, die nunmehr die griechische Statistikbehörde ELSTAT mitgeteilt hat: knapp 3,3 Millionen Menschen aller GriechInnen gelten derzeit als „wirtschaftlich inaktive Personen“. Das sind Menschen, die entweder keine Arbeit mehr haben oder nicht mehr nach einer Arbeitsstelle suchen. Wie viel Resignation steckt also in dieser Zahl, die zeigt, dass unzählige GriechInnen bereits ihre Versuche nach Wiederbeschäftigung aufgegeben haben?

Und wie viele Menschen sind realiter von dieser Zwangsuntätigkeit betroffen, wenn wir mitberücksichtigen könnten, auch mit Zahlenangaben, welche Menge von Familienangehörigen – nicht zuletzt Heranwachsende und Kinder – von dieser Nichtbeschäftigung betroffen sind? Wenn wir, in einfacher Rechnung, nur jeweils einen Ehepartner und ein Kind mitberücksichtigen würden bei einer Anzahl von 3,3 Millionen Erwerbslosen in diesem Land? Demzufolge wären mittlerweile 9,9 Millionen von rund 11 Millionen BewohnerInnen in Griechenland von diesem Schicksal betroffen. Was hat es dann aber noch auf sich mit der Prozentziffer von jetzt 16,7 Prozent Arbeitslosen? Sie schiene dann einem Fantasieland zu entstammen und hätte mit der realen Situation in Griechenland nichts mehr zu tun. Da der betreffende Kurzartikel in der „Griechenland Zeitung“ (GZ) vom 23. September diese Frage völlig offen lässt, bin auch ich nicht imstande, hier eine realistische Antwort zu geben.

Und beunruhigend ist auch eine letzte Information, die uns die GZ in dem betreffenden Artikel mitteilt: vor allem im Bereich der Vollzeitbeschäftigten nahm dieser Berichterstattung zufolge die Anzahl der Erwerbstätigen ab, um 2,9 Prozent, „während sie bei den Teilzeitbeschäftigten lediglich um 1,9 Prozent zurückging“. Heißt: vor allem das Angebot „regulärer“ Jobs geht diesen Angaben zufolge zurück, die Anzahl jener Arbeitsstellen mithin, die womöglich noch das Überleben von Kleinfamilien – wenigstens das – absichern können. Eine Prekarisierung der Lebensverhältnisse hat eingesetzt, die längst nicht mehr nur das untere Bevölkerungsdrittel bedroht, sondern bis weit in die sogenannten „Mittelschichten“ hinein die materiellen Lebensgrundlagen in Griechenland vernichtet.

Nimmt man hinzu, dass es zwar in diesem südöstlichen Mittelmeerstaat einen allgemeinen Preisrückgang gibt, von minus 1,9 Prozent, die Lebensmittelpreise im gleichen Monat August jedoch um eben denselben Prozentsatz angestiegen sind, um plus 1,9 Prozent, dann stellt sich das alles als noch sehr viel existenzgefährdender dar!

Vor diesem Hintergrund verstehe, wer will, dass bei der sogenannten „Sonntagsfrage“ immer noch die „Nea Dimokratia“, die an der Macht befindliche ultrakonservative Partei des Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis, weit vorne an der Spitze liegt: sie landete bei der neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes ALCO zwischen dem 14. und 16. September bei 39,9 Prozent, während die SYRIZA wiederum nur 22,2 Prozent aller Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte. Politische Änderungen wären also auch im Falle von Neuwahlen nicht in Sicht. Ich vermute, immer noch Anzeichen dafür, wie tiefgehend das Linksbündnis unter Alexis Tsipras während der eigenen Amtszeit die griechischen WählerInnen enttäuscht hat.

Ebenso wenig kann von irgendwelchen Verbesserungen auf den Inseln im südostägäischen Mittelmeer mit ihren Flüchtlingslagern die Rede sein. Die entsetzlichen Verhältnisse im neuen Ersatzlager auf Lesbos habe ich bereits in meinem letzten Bericht deutlichst geschildert. Inzwischen kamen neue Nachrichten hinzu.

Inzwischen sollen etwa drei Viertel der Ex-Bewohner von Moria im neuen Camp Kara Tepe untergekommen sein, etwa 9.200 Flüchtlinge, aber was dort vor allem während der letzten Tage passiert ist, das ist die Aufstockung von Polizeikräften dort – auf mittlerweile 350 Uniformierte (weitere 350 sollen in den nächsten Tagen folgen) –, das ist zum zweiten der Anstieg der mit dem Corona-Virus Covid-19 infizierten Personen auf inzwischen 243 Personen (von denen die meisten freilich keinerlei Symptome zeigen!), und das ist zum dritten die Tatsache, daß die griechische Polizei mittlerweile 35 Helfern von vier humanitär engagierten Nichtregierungsorganisationen vorwirft, als „Schleuser“ und „Spione“ agiert zu haben. Konkret: diese Helfer sollen in mindestens 32 Fällen Informationen an Schleuser in der Türkei weitergeleitet haben, mit der Auskunft, wo sich derzeit gerade Küstenwachschiffe der griechischen Flotte befinden. Verwunderlich, wenn man sich erinnert, daß deren Mannschaften oft ausschließlich damit beschäftigt waren, die Flüchtlingsboote wieder zurückzutreiben aufs offene Meer? Ausführlich habe ich ja auch darüber schon berichtet!

Natürlich: Deutschland hat sich inzwischen bereit erklärt, 2.750 Flüchtlinge aufzunehmen bei uns. 5 weitere europäische Länder sollen ebenfalls bereit sein, weitere Asylberechtigte aufzunehmen bei sich. Aber was ist mit den anderen 21 Staaten der EU?

Nicht nur Ungarn und Österreich, Polen, Tschechien und die Slowakei weigern sich, dem Beispiel der sechs aufnahmebereiten Staaten zu folgen. Ganz überwiegend versagt also die europäische „Wertegemeinschaft“ erneut, den überlasteten Ländern wie Griechenland und Malta, Italien und Spanien zu helfen bei der Bewältigung der Flüchtlingsprobleme. „Dublin“, diese inhumane und idiotische Erststaaten-Regelung, derzufolge jene Länder für die Aufnahme von Asylbewerbern verantwortlich sind, wo die Flüchtlinge zuerst europäischen Boden betreten haben, existiert also auch weiterhin. Mögen da ruhig auch weiter die Flüchtlinge krepieren! An der Stelle eines humanen Europas agiert also immer noch ein orbanisiertes Europa! Und dieses Europa regiert nicht nur in Budapest!

Also wird es voraussichtlich so bleiben, wie es bereits seit langem ist: de facto stellen die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln Gefängnislager dar. Und nichts wird sich in absehbarer Zeit ändern daran, daß den Insassen dort Menschenwürde vorenthalten bleibt und dass Menschenrechte für sie keine Gültigkeit besitzen.

Es sei menschenunwürdig, Menschen auf der Flucht einzusperren, so die Diakonie Deutschland. Günter Burckhardt, Geschäftsführer von Pro-Asyl, spricht von einem „teuflischen Pakt der Entrechtung“, der mit den neuen Vorschlägen der Euro-Kommission beschlossen worden ist. In den Massenlagern gäbe es „keine fairen rechtsstaatlichen Asylverfahren“. Und selbst der gar nicht so linke „Deutsche Anwaltsverein“ (DAV) hat diese neuen Pläne der EU als „Gefährdung“ der Menschenrechte verurteilt. Der DAV wörtlich:

„Der Zugang zum Recht ist jedoch unverzichtbar. Die Geflüchteten müssen die effektive Möglichkeit haben, Rechtsmittel gegen negative Entscheidungen einzulegen und gegebenenfalls eine gerichtliche Entscheidung zu erlangen.“

Von all diesem kann im neuen Lager auf Lesbos, im Camp Kora Tepe, keine Rede sein. Nur scheinbar rennt dieses Europa seiner eigenen Menschenrechtsorientierung hinterher. Und allzu viele Bürgerinnen und Bürger auf unserem Kontinent schauen dem einfach nur zu – wenn sie überhaupt noch zuschauen und all diesen entsetzlichen Geschehnissen nicht längst schon den Rücken gekehrt haben, nach dem „Vorbild“ der Medien in unserem Land, und nicht nur bei uns!

Was unsere Hilfsorganisation betrifft, so konnten wir nach dem „Rekord-Ergebnis“ der Vorwoche (= 1.340,- Euro, überwiesen von 5 SpenderInnen an uns) während der letzten sieben Tage einen Neuzugang von 165,- Euro auf unserem Hilfskonto verbuchen (Anzahl der UnterstützerInnen: 2). Das ist, so kurz vor dem Monatsende, gar nicht mal so schlecht. Jedenfalls Dank, herzlichen Dank diesen beiden HelferInnen. Und jawohl: wir geben nicht auf. Nicht mit unserer Kritik, nicht mit unseren Protesten, nicht mit unserer Hilfe für notleidende Menschen in Griechenland! Bitte helft uns weiter dabei, helfen zu können! Nicht zuletzt ist Beharrlichkeit ein Merkmal menschlicher Güte!

In diesem Geiste also auch heute mein Spendenaufruf :

Wer uns Gelder für unsere Hilfe für Menschen in Griechenland zukommen lassen will, der überweise uns diese bitte unter dem Stichwort „GriechInnenhilfe“  auf das Konto:

Inhaber: IHW

IBAN: DE16 2605 0001 0056 0154 49

BIC: NOLADE21GOE

Wer eine Spendenbescheinigung benötigt – ab 201,- Euro erforderlich –, wende sich bitte an unseren Kassenwart Henry Royeck, entweder unter der Postanschrift Sültebecksbreite 14, 37075 Göttingen, oder unter der Mailadresse henryroyeck@web.de.

Mit herzlichen Grüßen und allen meinen guten Wünschen

Euer Holdger Platta

 

 

 

 

 

 

Anzeigen von 4 Kommentaren
  • Piranha
    Antworten

    Vor diesem Hintergrund verstehe, wer will, dass bei der sogenannten „Sonntagsfrage“ immer noch die „Nea Dimokratia“, die an der Macht befindliche ultrakonservative Partei des Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis, weit vorne an der Spitze liegt: sie landete bei der neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes ALCO zwischen dem 14. und 16. September bei 39,9 Prozent, während die SYRIZA wiederum nur 22,2 Prozent aller Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte.

    “Traue keiner Statistik die du nicht selbst gefälscht hast.” heißt es so schön.

    An der Stelle eines humanen Europas agiert also immer noch ein orbanisiertes Europa! Und dieses Europa regiert nicht nur in Budapest!

    Was macht eigentlich ein Heimatminister? Auf des Silberrückens BMI-Seite, in anstößig simpler Sprache, findet sich das Wort nicht einmal.

     

    Das BMI kümmert sich darum,
    dass das Grundgesetz eingehalten wird.
    Zum Beispiel prüft das BMI,
    ob neue Regeln oder Gesetze zum Grundgesetz passen.
    Es achtet darauf,
    dass alles seine Ordnung hat.

    Kann es sein, dass er hier etwas verpennt hat?

  • Egon Kelm
    Antworten
    Sehr anschaulich und gut geschrieben, lieber  Holdger! In dieser Situation, in der sich die Welt befindet, mit Trump und den vielen steigenden nationalen Wahlergebnissen gibt es nur die Hoffnung, dass sich Europa auf seine Verantwortung und auf seine Stärken besinnt und endlich ein Mehrheitswahlrecht in außerpolitischen Fragen/ Bereichen einführt. Die Handlungsfähigkeit der 🇪🇺 EU ist zur Zeit doch sehr eingeschränkt und damit kommen wir den USA doch sehr entgegen Europa zu spalten! Dir Holdger weiterhin ein gutes GELINGEN!

    EGON KELM

     

     

    • Peter+Boettel
      Antworten
      Ja, leider lässt sich die EU, gerade auch unter der deutschen Ratspräsidentschaft von den Despoten in Ungarn, Polen und der Türkei an der Nase herumführen.

      Gegen Belarus, egal, wie man zu dem dortigen Sysetm steht, werden Sanktionen verhängt, aber gegen die Türkei, die offen gegen das EU-Mitglied Griechenland im Mittelmeer operiert, hält man still und verschenkt Milliarden, damit diese im Nachbarland einmarschiert.

      Und die bereits von Helmut Schmidt verurteilte Einstimmigkeit in der EU führt dazu, dass Ungarn und Polen die EU lahmlegen. So haben sich die Väter der Europäischen Idee das heutige Europa sicher nicht vorgestellt.

  • Helena
    Antworten
    Man kann nicht wirklich den Herrn Burckhardt zitieren!

    lafo ist ein denkender und fühlender Linker, davon bräuchten auch die. Sozen mehr! Ein neues 2015 gefällt linken Aktivisten, weil ihnen die böse Bevölkerungsmehrheit egal ist- wie sie dabei den Konservativen ähneln!

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