Offener Brief an Wolf Biermann
Ellen Diederich schreibt an Wolf Biermann unter dem noch frischen Eindruck von dessen Auftritt vor dem Deutschen Bundestag. Ellen kannte Wolf schon sehr lange, seine Lieder gaben ihr einmal Mut und Trost im politischen Kampf. Das scheint jetzt vorbei. Streicheleinheiten holt sich Biermann mittlerweile von CDU und SPD, in deren Konzept des Linken-Bashings sich der Liedermacher perfekt einfügt. Was ist nur aus dir geworden, Wolf? “Uns bleibt, was gut war und klar war” – und es leider nicht mehr ist.
Lieber Wolf,
doch ich nenne dich noch so. Als ich Dich zum ersten Mal sah, warst Du unendlich traurig, damals, im November 1976, ein paar Tage nach Deiner Ausbürgerung in Wallraffs Wahnsinnsbüro, wo Du Unterschlupf gefunden hattest. Alle paar Minuten klingelte das Telefon, so viele Menschen wollten etwas von Dir oder Dir Trost geben. Ich besuchte Dich mit einem Freund aus Paris, der für Liberation ein Interview machen wollte. Du hattest Angst, wusstest nicht, ob, wie und wann Du Deine Frau, FreundInnen und Angehörige wieder sehen würdest. Es war Dir kalt. Ich schenkte Dir meine bolivianische Wollmütze. Ein paar Tage später schriebst du mir einen Brief, in dem Du über Deine Befürchtungen erzähltest. Der Brief schloss mit den Worten: „Und ich wohne jetzt in deiner Wollmütze.“ Ich freute mich, dass sie Dir ein kleines bisschen Wärme geben konnte.
Wir setzten Himmel und Hölle in Bewegung, machten Flugblätter, sammelten Petitionen, Unterschriften, schickten sie an die DDR Regierung, diskutierten öffentlich, forderten die Rücknahme der Ausbürgerung. Ich bekam Ärger mit der DKP in Marburg, wo ich zu der Zeit lebte. Es ging bis hin zur Androhung von Prügeln, weil ich das Biermann Komitee initiiert hatte. Das Gegeifere in der Zeitung UZ war an Widerlichkeit nicht zu überbieten.
Letzte Woche sah ich einen Ausschnitt Deines Auftritts im Bundestag und bin richtig erschrocken. So ein eitles Gehabe eines Menschen, um den ich und viele andere sich mal sehr gesorgt haben, es macht mich fassungslos. Was ist mit Dir passiert?
Erinnerst Du dich noch? An damals, den 13. November 1976, den Tag an dem Du zum ersten Mal in der Bundesrepublik, in Köln, ein Konzert geben konntest? Mein Freund Jakob Moneta, zu der Zeit Chefredakteur der Zeitung der IG Metall, hatte es mit Hilfe der Gewerkschaft geschafft, Dich nach Köln einladen zu können. Deine Lieder, die Du in der DDR geschrieben und gesungen hast, begleiteten uns schon lange, sie waren Teil unserer Widerstandsaktionen.
Vom ersten Lied an ging es um die Freiheit – „nehmt euch die Freiheit, sonst kommt sie nie“-, um den aufrechten Gang, um Lebenslust und Poesie. Seine Lieder waren frech und zart, gefühlvoll und messerscharf. Und er passte in keine politische Schublade. Als antiautoritärer Linker lag er quer zum realen Sozialismus, dem er die sozialistischen Ideale als Spiegel vorhielt.
„’So oder so – die Erde wird rot’ eröffnete er und berief sich dabei auf Marx: Die Menschheit findet entweder einen Weg zum Kommunismus oder sie versinkt in Barbarei.“ Das schrieb Ralf Fücks, heute Heinrich Böll Stiftung. Wir hatten ein Gespür für Ehrlichkeit, Deine Lieder waren zu der Zeit ehrlich, Du konntest über Deine Erfahrungen und Gefühle in guter Form und treffend berichten, so dass es sehr eingängig war, was Dir und vielen anderen passiert ist. Sie waren Mut machend und bedeuteten Trost.
Ja, auch wir brauchten das hier. Wir lebten in der Bundesrepublik Deutschland ja nicht auf der Insel der Seligen, wenn wir in den Widerstandsbewegungen engagiert waren. Gegen den Vietnam-Krieg, die Atombewaffnung, die Notstandsgesetze, den Besuch und die Hofierung des Schahs von Persien, den Bau von Atomkraftwerken, gegen die Berufsverbote, die Startbahn West, für Frieden, für Frauenemanzipation, für eine andere Kindererziehung, für Schulen und Universitäten, die allen Kindern und StudentInnen gleiche Chancen geben sollten.
Wie oft kam meine Post aufgerissen an, im Umschlag irgendwelche idiotischen Reiseprospekte, die Briefe und Flugblätter nicht mehr drin. Wie oft war mein Telefon tot, wenn ich Veranstaltungen mit Rudi plante. Rudi und ich haben Dich in Hamburg besucht, über vieles diskutiert.
Und ihn, Rudi, meinen Freund und Geliebten, haben sie vor allem über die Bild-Zeitung so in das Schussfeld gestellt, dass dieser verblendete junge Mann, der Neonazi Josef Bachmann, tatsächlich drei Kugeln auf ihn abgab.
Erinnerst Du Dich an die Lieder, die Du am Tag seiner Beerdigung im Audi Max der Berliner Universität gesungen hast? Oder hast Du auch die Lieder aus der Zeit abgelegt?
Erinnerst du Dich noch, Wolf?
„Drei Kugeln auf Rudi Dutschke. Ein blutiges Attentat.
Wir haben genau gesehen, wer da geschossen hat.
Ach Deutschland, Deine Mörder. Es ist das alte Lied.
Schon wieder Blut und Tränen.
Was gehst du denn mit denen?
Du weißt doch, was Dir blüht.“
Und Du hast gesungen:
“Mein Freund ist tot. Und ich bin zu traurig,
Zu traurig, um große Gemälde zu malen.
Sanft war er, sanft, ein bisschen zu sanft.
Wie alle echten Radikalen. …“
Erinnerst Du dich? An die Eiseskälte am Tag der Beerdigung? An unsere Fassungslosigkeit? Daran, dass wir als Linke keine Rituale haben, wenn jemand gestorben ist? An das große lange Gedicht, das Erich Fried an dem Tag für Rudi gemacht hatte?
“Was ich von dir gelernt habe
bleibt jetzt vielleicht zu wenig
Aber ich hätte vielleicht von dir schon genug gelernt
wenn ich nichts von dir gelernt hätte außer das eine:
Dass Freiheit Güte und Liebe sein muss
und dass Güte und Liebe
Freiheit sein müssen. Und wirkliche Güte und Liebe
nicht nur ein Begriff von Güte und Liebe
denn sonst bleibt auch die Freiheit nur ein Begriff.
Und dass der Kampf um Freiheit und Güte und Liebe
nicht ohne Freiheit und Güte und Liebe geführt werden kann.“
Als ich Deinen Auftritt im Bundestag gesehen habe, stellte ich mir vor, ich hätte das zusammen mit Rudi angesehen. Ich denke, Rudi hätte versucht, es zu verstehen, wie er immer versuchte, zu begreifen, was sich hinter dem Verhalten zeigt. Aber ich denke, das, was da letzte Woche geschah, ist nicht mehr zu verstehen. Dein eitles Gehabe, deine unwichtigen Gefechte mit der Partei „Die Linke“. Rudi und ich waren nie dem System des „Realen Sozialismus“ nah, wo „alles real ist, nur nicht der Sozialismus“, wie Rudi immer gesagt hat. Ich höre seine gute heisere Stimme, ich denke, er würde Dich fragen: „Mensch, Wolf, was machst Du da?“
Haben wir keine anderen Probleme als die Partei „Die Linke“? Kennst du eigentlich Menschen, die dort arbeiten? Die, die ich bei Friedens- und Frauenaktionen, im Kampf gegen Hartz IV kennen gelernt habe, sind von dem ehemaligen DDR System weit entfernt.
Haben wir nicht viel eher Probleme mit dem, was Erich Fried so beschrieb: „Wir, die reichen Länder werfen alle drei Tage eine Atombombe, alle drei Tage sterben so viele Menschen an Hunger, dem Mangel an sauberem Wasser und dem Vorenthalten von Medikamenten, wie beim Abwurf der Atombombe auf Hiroshima gestorben sind.“ Und das sind vor allem Kinder, Wolf. Ich mache seit 52 Jahren Friedensarbeit, bin in vielen Kriegsgebieten gewesen, habe diese Arbeit nicht aus dem sicheren Abstand der Theorie, des Geldes, der Wissenschaft oder der Kunst gemacht. Ich bin hingegangen, habe versucht, zu begreifen, was das heute bedeutet: Krieg. Auch, um den Menschen, die jetzt in der Situation sind, zu zeigen: Ihr seid nicht allein. Ich habe Mütter im Arm gehalten, denen das Kind verhungert, gerade gestorben war. Wir sind auch an diese Orte gegangen, weil wir zeigen wollten: Wir nehmen das wahr, was Euch geschieht, wir versuchen Öffentlichkeit herzustellen. Dabei sind wir selber in Situationen gekommen, in denen wir dachten: Jetzt ist es auch für uns soweit.
Besonders viel gelernt haben wir bei den Weltfrauenkonferenzen. In Nairobi kamen wir aus der Hochzeit der Friedensbewegung in Europa gegen Atomwaffen -nach Afrika, um uns dort mit 14.000 Frauen aus der ganzen Welt zu treffen. Ja, sagten die Afrikanerinnen, Euer Kampf gegen die Atomwaffen ist wichtig. Bei uns gibt es eine andere Waffe, die täglich tötet. Das ist der Hunger. Sie nennen, wie ich finde, berechtigterweise, den Hunger: Waffe.
Vielleicht hattest du nie die Gelegenheit, an unseren Anstrengungen, Feindbilder abzubauen, um einen drohenden Atomkrieg zu verhindern, teilzunehmen.
Nachdem wir bei der Weltfrauenkonferenz in Nairobi das Friedenszelt als den Ort organisiert haben, an dem Frauen aus so genannten Feindesländern in den Dialog kommen konnten, stellten wir fest, dass so viele Missverständnisse, Vorurteile, Kriegsvorstellungen auch damit zusammenhängen, dass wir zu wenig über „das Leben der Anderen“ wissen. Wir entschieden uns nach Nairobi, in die Länder zu fahren, die man uns als Feindesländer deklariert hatte. Der Prozess des Abbaus von Feindbildern, insbesondere mit den Ländern in Osteuropa, war ein langer, mit vielen unterschiedlichen Bemühungen, Treffen, Aktionen und auch Rückschlägen. Da war der Versuch, in die Gipfelgespräche zwischen Reagan, später Bush und Gorbatschow in Genf, Reykjavik, Malta, Washington die Friedensvorstellungen der Frauen einzubringen. Da waren die regelmäßigen Treffen von Frauen aus allen Nato und Warschauer Pakt Ländern. Da war die Einladung von Gorbatschow an 3.000 Frauen aus der ganzen Welt, sich eine Woche lang im Kreml zu Friedensgesprächen zu treffen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kremls so viele Frauen dort, es war schon ein ungewöhnliches, gutes Bild. Da waren die Fahrten durch die Länder Osteuropas, bei denen wir viele Hundert Menschen trafen, Menschen, die teilweise den 2. Weltkrieg noch erlebt hatten und solche, die sich aktuell aktiv für Frieden einsetzten.
Die Feindbilder lösten sich Stück für Stück auf, die Begegnungen waren berührend, vor allem für uns als Deutsche, die wir unmittelbar mit den Zeugnissen der Verbrechen der deutschen Wehrmacht in diesen Ländern konfrontiert wurden. Und wir lernten, der Krieg ist nicht vergessen, sondern tief im Bewusstsein der Menschen. Trotzdem erfuhren wir Freundlichkeit und keine Feindseligkeit. Diese Erfahrungen haben unsere Anstrengungen und Friedenssehnsucht bestärkt.
Wir waren hoffnungsvoll. Spätestens mit dem Fall der Mauer dachten wir: Ja, jetzt sind wir ein großes Stück weiter. Und heute, mit einem Mal gibt es es wieder: Das Reich des Bösen, wird das Kriegsgeschrei täglich lautender und bedrohlicher.
Um das zu begreifen, versuchen wir, uns die Prozesse der Globalisierung klar zu machen, die Gier. Es gibt Stimmen, die uns in der Analyse helfen, so die von Susan George. Sie ist eine der Initiatorinnen von attac, sagte bei einem Treffen in Stockholm:
„Wenn man das Arbeitsvermögen weltweit betrachtet, so sind in den nächsten zehn Jahren etwa die Hälfte der Menschen überflüssige Menschen. Und sie müssen auf die eine oder andere Weise von dieser Erde verschwinden.“ Als ich das hörte, traf mich ein Schock, ich dachte: Ja, genau das geschieht ja längst, durch Hunger, Kriege, die wir, die reichen Länder, in unserem Interesse anstiften, durch Krankheiten, die leicht heilbar wären, durch die Verseuchung und die Privatisierung von Wasser, durch die Zerstörung der Ozonschicht, den Klimawandel, dem Bau von immer mehr Atomkraftwerken und neuen Generationen von Atomwaffen, der Zerstörung vieler natürlicher Ressourcen für unsere Gier nach immer mehr Produktion von Dingen, die wir nicht brauchen, der Globalisierung in all ihren Facetten.
Auch wenn Du Dich nicht mehr als Linken siehst, wie auch immer Du Dich jetzt bezeichnest, ich meine, diese Probleme gehen Dich etwas an, egal, wie Du zur Linken stehst. Sie gehen jedes lebende Wesen an.
Und Deine Umarmung mit Angela Merkel setzt meinem Unverständnis die Krone auf. Sie war zu der Zeit, in der Du nicht auftreten durftest FDJ Funktionärin in der DDR. Sie ist, als inzwischen „mächtigste Frau der Welt“ an vorderster Stelle an den Verbrechen des Kapitalismus, den Kriegen, den Waffenlieferungen, der Beschneidung der Lebensmöglichkeiten von Millionen Menschen in der EU und weltweit beteiligt. Die BRD ist auf Platz 3 der Weltrangliste an Waffenexporten. Unter der Leitung von Frau Merkel.
Was hat Rudi Dir damals gesagt: „Wolf, Du bist denen noch zu nah, die Dich aufgenommen haben und Dich seit Jahren bei der Stange der Isolation halten, bist nicht mehr nahe genug denen, um die es bei der Sozialismus-Frage geht, den Beleidigten, Erniedrigten, von der Entfremdung nicht frei gewordenen.“ (Rudi Dutschke, Offener Brief an Wolf Biermann, 28.4.1976 in: Wolf Biermann, Liedermacher und Sozialist, Hamburg, 1976, S. 72.)
Nah denen, die an den Machtzentralen der DDR vorgaben, für eine pervertierte Form des Sozialismus zu sein. Du wolltest so gerne anerkannt sein. Und heute? Wem bist du heute nah?
Damals versuchtest Du noch, Dein Auftrittsverbot während des Festivals der Jugend in Ostberlin endlich zu durchbrechen. Du schriebst das Che Guevara Lied, reichtest es ein, batest um Erlaubnis, auftreten zu können. Es wurde Dir verwehrt, Du sangst es trotzdem auf dem Alex. Die von uns kritisierte Zeile im Refrain blieb:
„Uns bleibt, was gut war und klar war,
dass man bei Dir immer durchsah
und Liebe, Hass und nie Furcht sah,
Commandante Che Guevara.“
Wenn wir das sangen, hieß es: “Und Liebe, Hass und auch Furcht sah …” Die Heldenverehrung der Linken war mir immer ein Rätsel, genau wie das Schwadronieren von Dir über „den Wohlklang der Stalin Orgeln, die Eleganz automatischer Raketen in Ho Chi Minhs Himmeln, die Schönheit der Maschinenpistole über der Schulter eines Guerilla Kämpfers.“ Nein Wolf, Wohlklang, Eleganz und Schönheit sind keine positiven Begriffe im Krieg. Das kann man nur aus dem sicheren Abstand der Kunst so beschreiben.
Ich habe mich viele Jahre um vergewaltigte Frauen aus Bosnien gekümmert, mit den Müttern der Verschwundenen in El Salvador zusammengearbeitet, war während des Krieges dort und in anderen Kriegsregionen, habe Frauen aus der Guerilla kennen gelernt, deren Familien man abgeschlachtet hatte.
Carmen wurde von sechs Soldaten vergewaltigt, sie haben ihr eine Brust abgeschnitten. Lauras Mann, ein Gewerkschafter, wurde an einem Hubschrauber aufgehängt und ins Meer geworfen. Sie selber wurde von den Todesschwadronen geholt, gefoltert und vergewaltigt. Annas vierjährige Tochter wurde nach unserer Reise durch Europa, um über Salvador aufzuklären, mit Absicht von einem Militärfahrzeug angefahren und schwer verletzt. Die Liste kann ich endlos weiter schreiben. Da ist kein Platz für Wohlklang, Eleganz und Schönheit. Die Frauen hatten sich entschieden zu kämpfen aber mit dem Bewusstsein, dass sie von der nächsten Stunde an lieber etwas anderes machen möchten. Sie haben nicht noch die beschissene Lage heroisiert.
Ja, wir brauchten Deine Lieder, auch wenn wir einiges kritisierten, hielten uns an Texten fest, sie gaben uns Luft. So u.a.:
„Warte nicht auf bessre Zeiten
Warte nicht mit deinem Mut
Gleich dem Tor, der Tag für Tag
An des Flusses Ufer wartet
Bis die Wasser abgeflossen
Die doch ewig fließen.“
Deine Lieder und die von Walter Mossmann gaben uns zu der Zeit ein Stück politisches Zuhause. Es kamen andere SängerInnen aus Deutschland dazu: Der frühe Degenhardt, Fasia, Konstantin Wecker, vor allem auch internationale Künstlerinnen, Ali Primera aus Venezuela, Pete Seeger, Bob Dylan, Joan Baez aus den USA, Victor Jara und Inti Illimani aus Chile, Mercedes Sosa aus Argentinien, Mikis Theodorakis und Maria Farantouri aus Griechenland, Miriam Makeba aus Südafrika, José Alfonso aus Portugal, um einige zu nennen.
Und ein Stück politisches Zuhause zu bekommen, war notwendig, denn wir wurden bedrängt. Ein halbes Jahr ging Zivilpolizei vor unserem Haus auf und ab, als ich im Sekretariat des Rus-sell Tribunals zur Lage der Menschenrechte in der BRD arbeitete. Es war, soweit ich weiß, das einzige Mal, dass in Bonn überlegt wurde, ob es möglich wäre, uns, den Mitarbeitern des Tribunals, die bürgerlichen Rechte abzuerkennen. Wir griffen im Tribunal die Berufsverbote auf, die Beschneidung der Verteidigerrechte, die Bedingungen in den Gefängnissen, Stammheim usw. Nie mit der Intention, die Politik der RAF zu rechtfertigen, im Gegenteil.
Das mit der Polizei vor unserem Haus war für meine Kinder sehr schlecht. Freunde von ihnen durften auf einmal nicht mehr bei uns schlafen.
Ja, wir hatten Reisefreiheit, sofern wir Geld hatten, zu reisen. In den Kabaretts konnte offen über die Regierung polemisiert werden. Die Bespitzelungen durch die Geheimdienste hier kamen erst langsam heraus. Ich habe meine Verfassungsschutzakte bis jetzt noch nicht sehen können. Ich hätte gerne, vor allem nach dem, was im Kontext der Neonazis jetzt heraus kommt, einen Ort, wo wir mal dort hineinsehen können, was alles über uns gesammelt wurde.
Deine Lieder bestärkten uns, dann zum Beispiel, wenn wir unter den Druck der Wasserwerfer geraten sind, verprügelt und durch die Polizei, festgenommen wurden.
Zum Beispiel an diesem 13. November 1976, Deinem großen Tag in Köln. Es war auch der Tag der ersten großen verbotenen Demonstration gegen den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf. Wir brauchten kein Tschernobyl und kein Fukushima, um den Wahnsinn der Atomkraft zu begreifen. Trotz der Verbote waren an die 40.000 Demonstranten gekommen. Es war unendlich kalt, ein schneidender Wind fegte über die flachen, bereiften Felder und Wiesen der Wilster Marsch. Es war der Tag, an dem ich die Angst vor Hubschraubern gelernt habe. Die Hubschrauber umkreisten uns, kamen runter, die Mannschaften sprangen heraus und jagten uns zu den Wasserwerfern und prügelnden Polizisten. Es gab viele Verletzte und Festnahmen.
Abends, wieder zuhause, wurde Dein Konzert aus Köln übertragen. Ich war allein, in der WG war niemand sonst zuhause. Ich saß, eingehüllt in Decken, wurde äußerlich wieder warm und empfand den Wärmestrom, der so selten vom Fernsehen für uns ausgeht, er wärmte das Innere. Das Publikum in Köln ging mit jeder Deiner Bewegungen und Deiner Bewegtheit mit. Und Du hast gesungen, als ob Du all die Jahre des Auftrittsverbotes nachholen wolltest. Und wir wollten Dich hören und sehen. Und Du wurdest von uns getragen.
In einem Brief an Dich hatte Rudi versucht, zu beschreiben, wie er Freundschaft sah: „Es handelt sich insoweit immer um geladene, immer wieder latent in Bereitschaft stehende Interessen, Träume und Phantasien, um schaffen zu können. Es geht um Arbeit und Leben in voller Mannigfaltigkeit. Freundschaft wäre somit Ausdruck der Tätigkeit von schaffenden Freunden und Freundinnen, (Genossinnen und Genossen) usw. In der Geschichte als Aufeinanderfolge von Generationen erfolgen also immer wieder sinnlich-unmittelbare Prozesse der Sammlung von Erfahrungen, Interessen, Bedürfnisse, um arbeiten, leben und lieben zu können. Wenn sich zwar durch die Gattungsgeschichte der Menschheit eine gewisse Kontinuität von Freundschaft im allgemeinen zieht, so ergibt sich dennoch, so würde ich sagen, dass die je besondere Produktions- und Daseinsweise spezifische Freundschaftsverhältnisse, besondere Verkehrsformen ergibt, neue Inhalte und Widersprüche prägend sind. Erst in diesem Kontext hat sich die Schaffenskraft der Freundschaft zu entfalten, kann sich aber auch gleichermaßen der ‘Keim des Zerfalls’ anbahnen. D.h. jene Leere, jene Phantasielosigkeit, in welcher man sich nichts mehr zu sagen hat. Dann sind Schonzeit und Distanz überfällig, neue Diskussionen und neue Beziehungen notwendiger denn je.“
(Rudi Dutschke, ebenda, S. 68 ff.)
Das ist das Stadium, das jetzt endgültig erreicht wurde, Schonzeit und Distanz sind überfällig. Die Tendenzen waren schon lange zu sehen.
Wolltest Du im Bundestag jetzt noch einmal im Mittelpunkt stehen wie damals? Das ist gründlich schief gelaufen. Oder vielleicht auch nicht für Dich. Wie ich sah, hattest Du viel Beifall von der CDU und der SPD. Vielleicht genügt Dir das ja jetzt. Endlich angekommen im Schoß der Mächtigen.
Herzlichen Glückwunsch oder Beileid, wie Du willst.
Mir bereitete dieser Auftritt wirklich Ekel. Die guten Lieder haben einen bitteren Beigeschmack bekommen, so bitter, dass ich sie nicht mehr hören möchte. Aber die meisten habe ich noch immer in meinem Gedächtnis, kenne sie auswendig. Sie bleiben.
Adios Wolf
Ellen Diederich, Oberhausen, 18.11.2014
Friedensa@aol.com