Ostern ohne Familienfeste

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik

Corona-Tagebuch, Teil 16. Wir “dürfen” derzeit keine Verwandtenbesuche machen und vor allem keine Familienfeste veranstalten. Aber spüren wir mal ganz ehrlich in uns hinein: Ist es nicht auch eine enorme Erleichterung, keine Familienfeste absolvieren zu müssen? Diese öden Pflicht-Zusammenkünfte an langen Tafeln, bei denen immer die lautesten und nervigsten Verwandten das große Wort führen… Endlich kann man sich dem mit einem plausiblen Grund entziehen: “Tut mir, leid, aber Du weißt ja – Corona…” Der Autor erzählt in diesem Eintrag aus seinem Tagebuch von eigenen traumatisierenden Jugenderfahrungen mit Familienfesten. Die führen zurück in dunkle Zeiten der deutschen Geschichte. Götz Eisenberg„Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit“

(Karl Kraus)

In einem Commerzsender im Radio höre ich Klagen darüber, dass man keine Biergärten und Clubs aufsuchen und nicht die üblichen Flugreisen unternehmen dürfe. Mal eben so übers Wochenende nach Barcelona oder Athen oder London fliegen. „Spaß zu haben“ scheint für eine gewisse Szene der Inbegriff von Freiheit zu sein. Der Freiheitsbegriff erschöpft sich im Ausleben privater Vergnügungen. Insgesamt bekommt man den Eindruck, dass die Leute sich nach ihren üblichen „Zerstreuungen“ im Sinne Pascals (siehe Teil 4) sehnen und in den „Normalmodus“ zurückkehren möchten. Wie hieß es in einem Song der Gruppe Fehlfarben aus den frühen 1980er Jahren: „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran!“ Immer weiter so, mit Spaß und Konsum und Mobilität – gut gelaunt und leicht bedröhnt auf den Abgrund zu.

Es wird offenbar immer schwieriger, die Menschen bei der Stange zu halten. Es bedarf einer gewissen Mindestspannung, um die Leute zur Befolgung der Corona-Regeln zu motivieren. Und die lässt sich über längere Zeit schwer aufrechterhalten. Die Leute handhaben die Regeln laxer, umgehen sie immer häufiger, nehmen die Konsequenzen auf die leichte Schulter. „Es trifft eh nur die Älteren und körperlich Angeschlagenen“, sagen sich Viele. Dass die an Corona Gestorbenen im Schnitt 82 Jahre alt waren, wie das Rober-Koch-Institut dieser Tage mitteilte, scheint die These zu stützen, dass Corona dem normalen Gang der Dinge lediglich ein klein wenig vorgreift. Die Altersdifferenz zwischen Jung und Alt bei den Todesfällen birgt auf längere Sicht einen enormen Zündstoff und nährt die darwinistische These vom Survival of the Fittest.

Demokratie basiert aber vor allem darauf, die schmählichen Prinzipien des Sozialdarwinismus außer Kraft zu setzen und Solidarität an ihre Stelle treten zu lassen. Wir haben es jetzt auszubaden, dass die neoliberalen Jahrzehnte die private Nutzenmaximierung zum obersten Lebensziel erklärt und vom Kindergarten an einen extremen Egoismus gefördert haben. Am besten kommt dieses neoliberale Prinzip in einer Geschichte zum Ausdruck, die der Robert Stern erzählt: Zwei Jungen begegnen irgendwo in den amerikanischen Wäldern einem aggressiven Grizzlybären. Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Turnschuhe an. Da sagt der in Panik Geratene: „Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär.“ Und sein Freund entgegnet ihm: „Du hast Recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du.“

Das neoliberale Glück besteht darin, dass der Pfeil den anderen trifft.

Im Zentrum des öffentlichen Bedauerns steht in diesen Tagen, dass man Ostern nicht mit den üblichen Familienfeiern begehen könne. In meinem Bekanntenkreis gibt es jede Menge Leute, die heilfroh sind, endlich mal einen triftigen Grund zu haben, ihre Eltern und Verwandten nicht besuchen zu müssen und sich diesem Ritual aus regierungsamtlichen Gründen verweigern zu können: „Tut mir leid, Mama, aber wir wollen dich und Papa nicht in Gefahr bringen.“

Ich erinnere mich an die Familienfeste meiner Kindheit und Jugend voll Grauen und Abscheu. Die Erwachsenen saßen um einen langen Tisch, nach einer durch Tischkarten vorher festgelegten Sitzordnung. Die Kinder wurden an einen sogenannten Katzentisch verbannt, der etwas abseits von den Erwachsenen stand. Die Männer führten das große Wort, die Frauen saßen meist stumm zwischen ihnen. Die lautesten gaben den Ton an, die stilleren und sesibleren, die es wohl auch gegeben hat, kamen nicht zu Wort. Das dröhnende und brutale Lachen der Männer flößte mir Schrecken ein. Die Hierarchie unter den Männern schien immer noch durch die Dienstgrade in der Wehrmacht oder die Position im Parteiapparat der NSDAP bestimmt zu sein. Bekanntlich ist das Über-Ich in Alkohol löslich, und nach dem dritten Glas Spätlese von der Mosel ließen die Männer ihre Hemmungen fahren und die Nazi-Sau raus. Onkel Erich, der evangelischer Pastor war, brüstete sich damit, unter dem Talar die SA-Uniform getragen zu haben.

Seinetwegen bin ich, sobald ich durfte, aus der Kirche ausgetreten. „Der Jude“ halte ständig die Hand auf und könne den Hals mit Entschädigungszahlungen nicht voll kriegen, posaunte nun ein Vetter meines Vaters. Onkel Karl assistierte: „Wenn wir die Vernichtung der Juden tatsächlich so gründlich besorgt hätten, wie jetzt behauptet wird, hätten wir dieses Problem heute nicht.“ Onkel Karl hatte mich mal auf eine Wanderung mitgenommen. Unterwegs schlug er mit seinem Wanderstock eine Kreuzotter tot, packte sie am Schwanzende und hielt sie wie eine Trophäe vor sich hin. Dann schleuderte er sie in ein Gebüsch und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. Man war sich schnell einig am Tisch, dass „beim Adolf“ beileibe nicht alles schlecht gewesen sei und man heute einen schnapsglasgroßen Hitler wieder gut brauchen könnte. Der männliche Teil der Verwandtschaft bestand durch die Bank aus Akademikern. Sie waren Architekten, Pfarrer, Ärzte, Apotheker, alles sogenannte anständige Leute. Alle hatten auf dem humanistischen Gymnasium Abitur gemacht und waren dann Verbindungsstudenten geworden. Der Satz von Alfred Andersch, Bildung schütze vor gar nichts, hat mir deswegen sofort eingeleuchtet.

Dass ich also die österlichen Familientreffen nicht vermisse, kann also sicher auch an meinen spezifischen Erfahrungen und Erinnerungen liegen. Heute werden solche Feiern anders ablaufen. Die von mir geschilderte Generation ist ausgestorben. Das Nazitum hingegen nicht. Heute haben alle neben dem Teller ihr Smartphone liegen, auf dem ständig irgendwelche Videos und Witze eintreffen, die letztlich auf den Totschlag hinauslaufen. Das Gros dieser Familienfeste ist nach wie vor gräulich und abscheulich und ihr Nicht-Stattfinden wahrlich kein Verlust.

Imre Kertész hat das christliche Ostern einmal mit den Worten kommentiert: „Selbst den Toten droht man noch mit der Auferstehung.“

Kommentare
  • Ellen Diederich
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    Lieber Götz Eisenberg,

    Danke für Dein Tagebuch in Zeiten der Situation, die durch Corona entstanden ist.

    Ich war immer gespannt auf das, was Dir in dieser Zeit eingefallen ist und habe deine Gedanke mit großem Interesse gelesen. Willst Du die Teile als Buch veröffentlichen?

    Nur der heutige Beitrag über die Familienfeste scheint mir eine eingegrenzte Erfahrung zu sein. Bei uns waren Familienfeiern liebevoll und wirkliche Feiern. Ich komme aus einer Bergarbeiterfamilie, bin in einer Bergarbeitersiedlung geboren.  Alle unsere Verwandten waren in linken Zusammenhängen engagiert, waren in der Nazi Zeit in Widerstandsaktionen. Machten nach dem Krieg weitreichende soziale Projekte. Meine Eltern gründeten ein Haus am Rand von Dortmund,  in dem junge Männer, die durch Krieg und Nachkriegserfahrungen elternlos, heimatos, straffällig geworden waren, wohnen konnten, wenn sie aus dem Jugendgefängnis kamen. Sie konnten eine Ausbildung machen, meine Mutter und mein Vater kochten für alle.Wir waren immer an die vierzige Personen zuhause.

    Mein Vater gründete die Arbeiterwohlfahrt dort und half in den verschiedensten Situationen. Wir hatten natürlich Brieftauben, jeden Sonntag trafen sich dort an diesem Sport Interessierte. Es gab schöne Familienfeiern, es wurde, nachdem die Hungerjahre vorbei waren, gut gegessen, viele Vorräte für den Winter eingekocht usw.

    Ich denke gerne an diese Zeit.

    Nochmal, danke für Dein Tagebuch.

    Gruß

    Ellen Diederich

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