Parlamentswahlen in Griechenland: ein Trauerspiel
25. Bericht zu „Patenschaft für Panagiota“. Leider musste ich Euch in der letzten Woche einen Zwischenbericht schuldig bleiben. Ich bitte um Nachsicht. Heute wird es deshalb ganz vorrangig um die Parlamentswahlen in Griechenland gehen – umso mehr, als mittlerweile das wichtigste Zahlenmaterial vorzuliegen scheint. Nein, erfreulich kann man das wahrhaft nicht nennen, was der letzte Sonntag den GriechInnen bescherte hat (und diese sich ja auch selber). Ich verbinde diese Inforationen mit einem ersten Analyseversuch – und auch mit zwei ersten Kommentaren unseres landeskundigen Team-Kollegen Tassos Chatzatoglou. Holdger Platta
Liebe HdS-Leserinnen und liebe HdS-Leser,
selbstverständlich möchte ich Euch heute vor allem das Ergebnis der Parlamentswahlen in Griechenland präsentieren. Um es vorwegzunehmen – siehe auch Überschrift!: Es ist ein einziges Trauerspiel!
Nach dem mir vorliegenden Zahlenmaterial schnitten die wichtigsten Parteien folgendermaßen ab (in Klammern jeweils: die Wahlergebnisse aus dem Jahr 2019):
Nea Dimokratia 40,8 Prozent (39,9 Prozent)
SYRIZA 20,- Prozent (31,- Prozent)
KKE 7,2 Prozent (5,3 Prozent)
PASOK 11,5 Prozent (8,1 Prozent)
Weitere – sagen wir einmal großzügig – „linke“ Parteien (an der Spitze die linksliberale MeRA25, die Varoufakis-Partei) schafften nicht den Einzug ins Parlament. Stattdessen zieht die – ebenso freundlich formuliert – „rechtspopulistische“ Partei Elliniki-Lisi („Die Griechen“) erneut ins griechische Parlament ein, mit 4,5 Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen (2019: 3,7 Prozent). Die „Bewegung der Armen“, auf die ich in meinem letzten Bericht ausdrücklich hingewiesen habe, kam gerademal auf 0,39 Prozent der anrechenbaren Wählerstimmen.
Das bedeutet, in erster Annäherung analysiert:
Erstens: Die ultrakonservative „Nea Dimokratia“ (ND) mit Kyriakos Mitsotakis an der Spitze wurde nicht nur mit großem Abstand ein weiteres Mal die stärkste Partei, sie konnte gegenüber dem Wahljahr 2019 sogar nochmal zulegen, um knapp einen Prozentpunkt.
Zweitens: Die größte Oppositionspartei, die SYRIZA, landete nicht nur mit 20 Prozent Wählerstimmen weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz – fast 21 Prozentpunkte trennen sie von der ND. Sie hat gegenüber den Vorwahlen 2019 sogar noch ein weiteres Mal rund elf Prozentpunkte eingebüßt.
Drittens: Demgegenüber konnten die beiden anderen „linken“ Parteien, die den Einzug ins neue Parlament schafften, deutlich zulegen: die PASOK, die „Sozialdemokraten“, mit knapp dreieinhalb Prozentpunkten plus, die kommunistisch-leninistische KKE mit einem Plus von knapp zwei Prozentpunkten.
Viertens: Selbst bei Addition aller Wählerstimmen für die drei ‚Linksparteien‘ SYRIZA, PASOK und KKE läge ein – rein theoretisch denkbares – Koalitionsbündnis der Oppositionsparteien mit insgesamt 38,7 Prozent hinter der ND mit deren 40,8 Prozent. Das wäre im Fall einer Einigung dieser drei Parteien im, Jahre 2019 noch anders gewesen! SYRIZA, PASOK und KKE hätten damals mit 44,4 Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen deutlich vor der ND gelegen mit deren 39,9 Prozent. Selbst aus großzügiger „linker“ Sicht also: für alles, was sich in Griechenland dem linken Parteienspektrum zurechnet, stellt das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag eine einzige Katastrophe dar. Niemand aus diesen Oppositionsparteien kann sich über dieses Abstimmungsergebnis freuen – sollte es zumindest nicht.
Und woran hat das gelegen? Was hat dieses Gesamtdesaster für alle Parteien links von den „Neudemokraten“ ausgelöst?
Wie immer, natürlich, gibt es nicht nur die eine Antwort darauf. Bis auf eine vielleicht, die generell Anspruch auf Richtigkeit beanspruchen darf: die Streitereien zwischen diesen „Linksparteien“. Um es in den Worten der „Griechenland Zeitung“ (GZ) zu sagen, formuliert gut zehn Tage vor dem Wahltermin am vergangenen Sonntag: die Oppositionsparteien gingen „miteinander stärker ins Gericht als mit der Regierungspartei“ (so Dimos Chatzichristou, der Chef-Kommentator der GZ).
Aber etwas mehr in die Tiefe möchte ich doch gehen. Deswegen zumindest ein paar weitere Stichworte zum Versagen der Linken in Griechenland:
Was die SYRIZA betrifft, liegen gleich zwei Gründe auf der Hand: bis heute, sage und schreibe acht Jahre nach dem Ereignis, hat man dieser Partei – mit Alexis Tsipras an der Spitze – das Einknicken vor der Troika der EU im Herbst des Jahres 2015 nicht vergessen. Was die Einzelheiten und Hintergründe betrifft, verweise ich auf meine Berichte aus dieser Zeit. Das also die Ursache Nummer eins. Und Ursache Nummer zwei (für die meisten Leserinnen und Leser hier sicherlich noch neu):
Irgendein Idiot aus der SYRIZA unterbreitete dem Wählervolk knapp eine Woche vor dem Wahltermin die Idee, zukünftig, im Falle des eigenen Wahlsieges, die Steuerabgaben selbst für Kleinstverdiener zu erhöhen, und zwar für Kleinstverdiener mit einem Jahreseinkommen – so sie Selbständige sind – von 5.000,- Euro auf 5.000,- Euro pro Jahr! Da denke ich eher an Klapsmühle oder Unterwanderung der SYRIZA. Meinem höchstpersönlichen Verstand jedenfalls erschließt sich diese Idiotie nicht – die übrigens von der Parteiführung der SYRIZA, den Presseberichten zufolge, nur aufs lascheste oder gar nicht dementiert worden ist.
Dem Spitzenmann der PASOK, einem Herrn Nikos Androulakis, hingegen ist anderes vorzuwerfen: Mehrfach gleich erteilte er jeder Koalition mit der SYRIZA vor dem Wahltermin eine Absage, oder er gefiel sich in der Potentaten-Rolle, im „Großtuer-Modus“, so GZ-Kommentator Chatzichristou, den anderen denkbaren Koalitionspartnern (für Androulakis: Tsipras oder Mitsotakis!) vorschreiben zu wollen, „wen sie zum Regierungschef zu ernennen haben“. Mit dieser Großmannssucht hat er zwar das Wahlergebnis für die eigene Partei deutlich verbessern können. Er hat aber gleichzeitig dafür gesorgt – mit dafür gesorgt, mindestens dieses –, dass in Griechenland voraussichtlich alles beim Alten bleiben wird.
Und die KKE? – Nun, da kann ich nur eine höchstpersönliche Einschätzung zur Debatte stellen. Zwar legte ja auch diese Partei – nicht gerade unbeträchtlich – zu. Aber in Griechenland dürfte nach wie vor die Ablehnung einer kommunistischen Partei vorherrschend sein, die sich autoritär-leninistisch gebärdet und immer noch auf eine menschenfeindliche Verelendungstheorie setzt, um die proletarischen Massen auf diese Weise endlich ins revolutionäre Bewusstsein hinein prügeln zu können. Nur mal nebenbei bemerkt: dieser theoretischen Ausrichtung wegen lehnt eine KKE auch jede humanitäre Hilfe wie die unsere ab!
Und was tat ein Kyriakos Mitsotakis stattdessen? – Nun, wir dürften sicher sein, dass dieses Wahlkampfgerede nichts anderes bleiben wird als Wahlkampfgerede. Doch Mitsotakis gab den griechischen Wählerinnen und Wählern vor dem 21. Mai die folgenden Versprechen ab:
- erstens die Mindestlöhne auf 950,- Euro zu erhöhen;
- zweitens die Durchschnittslöhne auf 1.500,- Euro anzuheben;
- drittens jedem jungen Menschen ab 18 Jahren einen sogenannten „Freedom Pass“ in Aussicht zu stellen, ein Startgeld ins Leben in der Höhe von 150,- Euro;
- und viertens schließlich – in ungenannter Höhe allerdings – allen Arbeitskräften im Öffentlichen Dienst das Kindergeld aufzustocken.
Ob diese Versprechen des Herrn Mitsotakis wirklich verfangen haben, kann ich von hier aus kaum einschätzen. Abschließend ansprechen möchte ich aber einen anderen Punkt noch – einen leider sehr faktenbasierten Tatbestand, und dieser Tatbestand scheint mir äußerst bedenklich zu sein:
Trotz – oder vielleicht eher doch: wegen – der großen Armut und des großen Elends in Griechenland sind am vergangenen Sonntag nur 60 Prozent aller BürgerInnen wählen gegangen – 40 Prozent also nicht. Was bedeutet das? Was bedeutet das vor allem für eine Demokratie, deren Wahlergebnisse man doch eigentlich ernstnehmen sollte?
Nun, wir haben es mit einem Wahlergebnis zu tun, das nicht einmal mehr fünfzig Prozent aller wahlberechtigten Griechinnen und Griechen zu repräsentieren vermag, nämlich dann, wenn man die Stimmen für jene Parteien abzieht, die nicht ins Parlament gewählt werden konnten. Im Detail:
Konkret konnte die ND nur 24,5 Prozent aller Wahlberechtigten hinter sich versammeln, nicht mal ein Viertel aller Bürger und Bürger in Griechenland. Für die SYRIZA stimmten dieser Berechnung zufolge nur 12 Prozent aller GriechInnen, für die PASOK nur 6,9 Prozent und für die KKE nur 4,3 Prozent – macht 44,4 Prozent insgesamt. Sieht so tatsächlich ein Wahlergebnis aus, das man noch repräsentativ nennen kann? Mehr als diese Frage will ich heute nicht stellen. Lediglich hinzufügen dürfen, dass im Verlaufe sozialer und ökonomischer Krisen nahezu immer den Demokratien in dramatischer Größenordnung die Wähler verloren gehen. Man kann es auch so formulieren (nicht zuletzt die sinkenden Wahlbeteiligungsziffern bei uns zeigen das ja seit zwei Jahrzehnten ebenfalls aufs deutlichste an): wenn Demokratie ihren Bürgern den Rücken kehrt, dann kehren die Bürger auch ‚ihrer‘ Demokratie den Rücken! Vor allem dann ist diese Aussage richtig, wenn man die immensen Anstiegsziffern für demokratiefeindliche rechtsextremistische Parteien während solcher Krisenphasen mit einbezieht.
Was – leider – mit Tsipras begann und von Mitsotakis aufs schändlichste fortgesetzt worden ist – Politik zu betreiben gegen die Interessen der Menschen im eigenen Land, vor allem gegen die verarmten und gegen die verelendeten „Staatsbürger“ im eigenen Land, dann aber auch gegen die Menschen bis weit in die soziale Mitte der Bevölkerung hinein –, das treibt immer mehr Menschen fort aus diesen Demokratien, und sie landen dann entweder in der totalen Resignation oder in den Fängen von Rechtsextremisten. Wenn Demokratie keine demokratische Politik mehr betreibt, ökonomisch und sozial, dann versagt sie eben nicht nur als Demokratie, sondern dann scheitert sie eben auch an den Wahlurnen als Demokratie.
Gerne füge ich an dieser Stelle zwei Spontankommentare von unserem landeskundigen Tassos Chatzatoglou ein:
„Das Wahlergebnis ist schwer zu verdauen, zumal das Herz auf der linken Seite schlägt. Syriza lag sehr weit über dem niederschmetternden Ergebnis am Ende. Eine Woche vor den Wahlen gab ein Idiot, ehemaliger Syriza-Minister, ein Interview. Er versprach, die Einkommenssteuer von 5.000,- € horizontal ab einem Jahreseinkommen von 5000€ einzuführen. Ein Pensionist mit einem durchschnittlichen Einkommen in der Höhe von 480,-€ pro Monat sollte am Ende des Jahres 5000€ abliefern. Ihm blieben 760€ jährlich!!!!!! Das hat die Wähler massiv verunsichert. Das eigenartige an der Geschichte ist, dass keiner der Syriza-Kandidaten versuchte, den Schwachsinn aus der Welt zu schaffen.
Varoufakis ist ein anständiger Kerl. Er gehört der undogmatischen Linken an. Er ist aber ein Lehrer. Wenn er spricht, glaubt man, er spricht vor dem Auditorium der Universität. Das hat ihn Stimmen gekostet. Er versucht, mit einfachen Beispielen etwas zu erklären, und wirkt lächerlich, weil er das nicht in der Sprache sagt, die er ansonsten täglich verwendet. KKE , einst eine moralische Instanz in den Augen der Arbeiter und Angestellten , distanziert sich von allen Regierungsparteien.
(…)
Mitsotakis gehört einer Familie an, die seit fast 100 Jahren in der Politik mitmischt. Venizelos der den Austausch der Bevölkerung aus Kleinasien beschloss, war der Mentor der Familie Mitsotakis. Die Hälfte der Regierung gehört solchen Familien an. Dann kann nichts Gutes für die Menschen rauskommen, nur für das Kapital.
(…)
Guten Morgen, lieber Holdger!
Ich habe gestern mit Griechen in Griechenland telefoniert. Ja das Wahlergebnis hat man nicht erwartet.
(…)
Was die Linken in Griechenland daran hindert, sich auf ein Minimum zu einigen – diese Frage beschäftigt mich, seit ich mich als politisch denkenden Menschen betrachte. Das Ziel, eine Änderung der Politik zu Gunsten der Mehrheit, das ist bei allen linken Gruppierungen gegenwärtig. Das Ziel ist ganz einfach, die Verständigung untereinander jedoch offensichtlich sehr schwer. Solange sich die griechische Linke nicht einig ist, wird sich in Griechenland nichts ändern. In den 60er Jahren hatte die Vereinigte Linke derart an Stärke gewonnen, sodass eine Welle der Demokratisierung in der Gesellschaft losgetreten wurde. Angesichts dieser Tatsache entstand dann aber auch eine Gegenbewegung – mit Hilfe vom Vater des jetzigen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis. Und am Ende hatten wir dann die Diktatur!“
Kurz zum Abschluss heute noch die neuesten Spendenzahlen:
Nun, Ihr wisst es: als ich vor knapp vierzehn Tagen meinen letzten Bericht veröffentlichen konnte, da hatte es für unser Hilfskonto 70,- Euro an Neuspenden gegeben, überwiesen von zwei HelferInnen an uns. Dabei ist es auch während der letzten knapp vierzehn Tage geblieben: erneut kamen 70,- Euro hinzu, wiederum sorgten zwei SpenderInnen für dieses Ergebnis.
Etwas besser sah es für HdS aus: da war ja in der vorletzten Woche nur ein Spendenneuzugang von 14,11 Euro zu verzeichnen gewesen (eine Spenderin). Während der letzten zwei Wochen kamen 135,- Euro an weiteren Unterstützungsgeldern hinzu, insgesamt neun LeserInnen unter Euch sorgten für diesen Zuwachs. Dank Euch allen für diese Hilfen! Wobei ich hinzufügen darf: Heute, wenn Ihr diesen Bericht lesen werdet, ist Tassos Chatzatoglou bereits wieder nach Griechenland unterwegs. Sicherlich wird er uns einiges aus seiner Heimat berichten können, sicherlich auch klären können, wie es derzeit um die von uns unterstützten Menschen steht.
Und damit ohne weitere Umschweife zu meinem üblichen Schlussappell:
Wer von Euch uns Gelder für unsere Hilfe für Menschen in Griechenland zukommen lassen will, der überweise uns diese bitte unter dem Stichwort „Panagiota“ auf das Konto:
IBAN: DE16 2605 0001 0056 0154 49
BIC: NOLADE21 GOE
Inhaber: IHW
Wer eine Spendenbescheinigung benötigt – ab 201,- Euro erforderlich –, wende sich bitte an Volker Töbel, entweder unter der Postanschrift Tewaagstraße 12, 44141 Dortmund, oder unter der Mailadresse vtoebel@web.de.
Mit herzlichen Grüßen
Euer Holdger Platta