Partnerschaft und freie Liebe

 In Buchtipp, FEATURED, Gesundheit/Psyche

Liebesdreieck. Filmszene aus „Alles was wir geben mussten“

„Liebe ist von ihrem Wesen her frei. Eine unfreie Liebe ist ein Widerspruch in sich, wir nennen dann etwas Liebe, was nicht Liebe ist.“ Die Mitbegründerung des Heilungsbiotops „Tamera“ in Portugal plädiert dafür, auch mehr als einen Menschen zu lieben – ohne gesellschaftlich und religiös geprägte Scham und ohne Versteckspiel (Sabine Lichtenfels)

 

Wir sind sicher alle einmal in unserem Leben mit dem Starkstrom in Berührung gekommen, der einsetzt, wenn wir uns wirklich verliebt haben. Welche Freude! Wie leuchtet die ganze Welt uns in ihrer zauberhaften Schönheit entgegen. Nichts ist schöner als das Glück zweier Liebender. Und kaum etwas ist schmerzhafter, wenn die Liebe umschlägt in ihr Gegenteil. Wir kennen den Prozess fast alle und nehmen ihn meistens hin wie ein Naturgesetz.

Man liebt am anderen zunächst einmal das Fremde, das Neue. Und da es noch so neu ist, erlauben wir uns getrost, alle positiven Projektionen auf ihn zu werfen, die uns zur Verfügung stehen. Sie sieht im Mann den großen Liebhaber, den Prinzen oder eine erotische Christusfigur. Er sieht in ihr die Frau schlechthin – mit ihren lockenden Formen und Brüsten, mit ihrem verführerischen und gütigen Lächeln, gleichzeitig angebetete Frau und wilde Gespielin. Wie viele Gedichte gibt es über die Annäherung an sie.

In den ersten Wochen ist es, als hätte ein magnetisches Band sie miteinander verbunden. Das Feuer ist entfacht. „Ich liebe dich!“ rufen sie einander zu. In liebender Umarmung entdecken sie aneinander das Unbekannte. Und in diesem Unbekannten leuchtet ihnen eine tief vertraute Gestalt entgegen. Es verwandelt die Gerüche, die uns umgeben, den Gehörsinn. Es ist, als könnte man die ganze Welt umarmen, und in allem findet man wieder ihn oder sie. Es ist, als feierten Anima und Animus Hochzeit und als umarmte sich durch sie ein ganzes Universum. Es gibt nichts, das man nicht teilen möchte. Fremd und vertraut gleichzeitig leuchtet die große Welt des anderen in das eigene Leben hinein und verzaubert alles. Es gibt ständig etwas Neues zu entdecken, und gleichzeitig darf man landen in den Armen des Vertrauten! Der große Traum einer lebenslänglichen Partnerschaft ist geweckt.

Erotisch gibt es jetzt kein anderes Begehren als nur sie oder nur ihn. Man entdeckt sich gegenseitig jedes Mal tiefer. Man entdeckt das Geheimnis und das Wunder des Leibes. Wie tief kann man gehen miteinander, wenn das Misstrauen und die Angst erst dem Vertrauen gewichen sind! Jede leise Berührung löst einen Kraftstrom des Leibes aus, eine immer umfassendere Selbstoffenbarung.

Es ist das große Glück. Man will es nie loslassen und schwört sich ewige Treue. Doch allzu bald wird es bedroht von schleichender Verlustangst. Denn wissen wir nicht seit unserer frühkindlichen Erfahrung: Da, wo ich mein Herz liebend öffne, folgen irgendwann Strafe oder Abweisung? Im Glück zweier Liebender wird auch diese Erinnerung geweckt. Und so schleicht sich nach dem ersten Liebesrausch fast unbemerkt die Frage ein: „Was ist, wenn ich dieses Schöne wieder verliere?“ Unwillkürlich beginnt man zu klammern und den gefundenen Schatz zu verteidigen.

Man hatte sich die Treueschwüre an einem Punkt gegeben, wo man sie noch gar nicht geben konnte, weil man sich in den wirklichen Tiefen noch gar nicht kannte. Für einen Moment war die Seele überzeugt davon, dass es ewig währt. Doch schon stehen wir vor der großen Herausforderung, dieses anfängliche Glück ins alltägliche Leben zu integrieren. Viele scheitern daran. Ohne dass wir wirklich verstehen, was geschehen ist, hat sich der Siebte Himmel der Liebe in eine Tragödie verwandelt. Man hält für persönliches Versagen, was sich in Wahrheit so oder so ähnlich bei Millionen Liebespaaren abspielt.

Wir sind einer Struktur gefolgt, die nicht den natürlichen Gesetzen der Liebe entspricht. Unbewusst wissen wir bereits, dass der Eros sich nicht einfangen lässt. Das macht die Verlustangst um so größer. Man kämpft gegen das Offensichtliche, bis es keinen Ausweg mehr gibt. Unendlich viele Paare laufen in die gleiche Sackgasse. Zwar gibt es Beziehungspartner, die eine tiefe Freundschaft aufrecht erhalten konnten. Aber ich kenne keine Liebesbeziehungen, die den Starkstrom der Erotik dauerhaft integrieren konnten, ohne die Freiheit des Eros zu bejahen.

In ursprünglichen Stammeskulturen war es normal, ein ganzes Leben lang in voller Treue zusammen zu bleiben, gemeinsam Kinder zu haben – und gleichzeitig Sexualität mit anderen zu erleben zu dürfen. Die Sexualität selbst war heilig und nicht gebunden an Beziehungen.

Es ist kein Widerspruch und kein Betrug, sich nach einem Partner zu sehnen und gleichzeitig nach erotischen Abenteuern; zum Betrug wird es nur, wenn wir es vor unseren Partnern verschweigen müssen. Unter gesunden Bedingungen wäre es ein Vertrauensbeweis, wenn mein Partner mir mitteilen kann, dass er sich in eine andere Frau verliebt hat. Das Vertrauen würde wachsen, wenn sich Paare ihre Erfahrungen mit anderen immer intimer mitteilen können. Wirkliches Vertrauen vertieft sich dadurch, dass wir uns die Wahrheit sagen können. Freie Liebe ist Liebe ohne Angst. Ob freie Liebe gelingt, entscheidet sich an unserer Wahrheitsfähigkeit in der Liebe. Dafür brauchen wir, wie bereits gesagt, soziale Lösungen, in denen Paare nicht mit diesen Themen alleingelassen werden.

Die Fähigkeit, frei zu lieben, ist unabhängig von der Frage, wie viele Beziehungen ich habe, ob ich monogam lebe oder polygam, ob ich homosexuell bin oder heterosexuell oder mich sogar für das Zölibat entscheide. Liebe ist von ihrem Wesen her frei. Eine unfreie Liebe ist ein Widerspruch in sich, wir nennen dann etwas Liebe, was nicht Liebe ist. Vielleicht werden wir uns dazu entscheiden, monogam zu leben. Aber wir sollten uns immer daran erinnern, dass man einen anderen Menschen nicht besitzen kann. Es gibt keinen Rechtsanspruch auf Liebe. Ein Umfeld der freien Liebe ist für ein monogames Paar keine Bedrohung; wenn beide monogam leben möchten, so ist dies ihre freie Entscheidung. Wenn aber einer der beiden Partner plötzlich anders fühlt, dann beginnt die Herausforderung: Bin ich bereit, die Wahrheit des anderen zu akzeptieren? Oder beginnt jetzt die Erpressung? Dies ist ein großes Abenteuer für zwei Menschen, die beschlossen haben, den Weg der Partnerschaft und der Wahrheit in der Liebe zu entdecken.

Manche glauben, ihr Drama in der Liebe löse sich auf, indem sie bei aufkommenden Problemen einen neuen Partner suchen. Aber man kann den Schmerz und die Verlustangst in der Liebe nicht durch Partnerwechsel beenden. Wer in der Liebe an den schwierigen Stellen davon läuft, wird in jeder neuen Liebesbeziehung erneut an seine eigenen ungelösten Punkte geführt werden. Nur wer vor den Schattenseiten einer Partnerschaft nicht mehr davon läuft, wird in die wahren Tiefen vordringen und die Dauer in der Liebe entdecken.

 

Auszug aus: Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels: „Und sie erkannten sich. Das Ende der sexuellen Gewalt.“ Erscheint Okt. 2018 im Verlag Meiga.

 

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