Postaktivismus – Die Stille im Inneren der Krise
Aktivismus ermüdet die Aktiven, wie so mancher nach all den Kämpfen der letzten Jahre spüren wird. Meist richtet er sich auch nur gegen Symptome bzw. gegen bestimmte Personen, die sich als „Gesichter“ der Krise positioniert haben oder positioniert werden. Durch solche „Kämpfe gegen…“ dringen wir jedoch nicht zu den Wurzeln all der physischen und auch geistigen Verwüstungen vor, die derzeit die Erde heimsuchen. Das System bringt nicht nur das eine oder andere Problem hervor – das System selbst ist das Problem. Wichtig ist es daher zunächst, an die Möglichkeit eines grundlegenden Wandels zu glauben, der alle wichtigen Lebensbereiche umfassen wird. Wichtig sind hierfür auch Fähigkeiten, die man normalerweise nicht mit politischer Aktion in Verbindung setzt: Schönheit empfinden, seine eigene Traurigkeit zulassen, in jene Stille im Zentrum des Aufruhrs eintauchen… Bobby Langer
Aktivismus ist oldschool
Früher sagten wir ironisch: „Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie.“ Letztlich ist es diese feste Überzeugung, es lohne sich, angesichts des Unmöglichen Mögliches zu versuchen, die das Unmögliche in seine Schranken zu weisen vermag – und Hoffnung macht. Einfach formuliert: Wir ringen den Gegner nieder, indem wir uns nicht auf seine Waffen einlassen. Deshalb könnte man das auch einen kulturellen Guerillakampf nennen.
Schluss mit dem Kampf gegen Windmühlen
Eine, wenn nicht sogar die Hauptwaffe des Gegners besteht darin, uns glauben zu machen, es gebe jeweils einen leicht identifizierbaren Gegner: die Polizei zum Beispiel, die Banker, die Pharma- und Waffenindustrie, die Politiker, die Manager. Was für ein Pech: Es gibt sie nicht, sie sind allesamt nicht vorhanden. Es gibt nicht „die“ Politiker, nicht „die“ Polizei, noch nicht einmal „die“ Waffenindustrie. Sie alle sind Schimären, die das Feindbild-Szenario bevölkern und uns gegen Windmühlen kämpfen lassen. Wer nun meint, er könne, ja müsse, diese Schimären bekämpfen, egal ob mit Gewalt oder ohne, gehört zur Gruppe der Aktivisten, die sich neuerdings – und sehr viel cooler – „Aktivisti“ nennen.
Ein Postaktivist namens Franziskus
Oft noch unsichtbar, aber bereits gestaffelt dahinter (oder davor, je man Perspektive) stehen die Postaktivisten. Sie eint die „unbedingte Überzeugung, dass ein sehr grundsätzlicher Wandel gelingen kann“. Postaktivistinnen glauben nicht mehr an einzelne Verfehlungen innerhalb „des Systems“, sie denken über Systemchange nach. Und sie bestehen auf diesem Nachdenken, egal, ob sie „von irgendeinem eloquenten Politiker oder CEO als undemokratisch“ bezeichnet werden. Das Totschlagargument ist ihnen egal, weil ja Totschlag systemimmanent ist. „Diese Wirtschaft tötet“, befand Papst Franziskus, der definitiv kein activisto ist, sondern eben ein Postaktivist. Postaktivisten eint das Bewusstsein, sich „viel grundsätzlicher zu empören, zu vernetzen und selbst für die Zukunft des Planeten einzustehen“. Aktivismus im oben beschriebenen Sinne ist einfach oldschool.
Zivilisatorische Kehrtwende
Phillip Maiwald hat sich auf das Phänomen Postaktivismus eingelassen und ihm ein gleichnamiges Buch gewidmet, Untertitel: „Die Stille im Inneren der Krise“. Es geht also nicht mehr darum, sich mit den Auswirkungen des Orkans zu beschäftigen, sondern bis ins stille Auge des Orkans vorzudringen. Es zeugt von Beuysscher Radikalität, wenn Maiwald fordert: „Ich bestehe … auf Schönheit und ich ernenne sie hiermit zu einer der Topmerkmale des Postaktivismus. Ich wünsche mir … einen Aktivismus, der smarter, kreativer, frecher, dabei freundlicher, unkonventioneller, radikaler und besser organisiert ist als der mir noch immer über weite Strecken begegnende.“
Postaktivismus wird gebraucht, weil der Aktivismus seit den 80er Jahren nicht funktioniert hat; sonst „würden wir heute nicht vor diesen ökologischen Wahnsinnsproblemen stehen“. Dabei will Maiwald all die kleinen Erfolge vergangener aktivistischer Aktionen nicht schmälern, doch sei jetzt weit mehr angesagt, nämlich „eine zivilisatorische Kehrtwende“: „In Anbetracht unserer heutigen Situation sollte man sich die Frage stellen, ob wir die uns anvertraute Natur durch eine alle Bereiche des Lebens durchziehende Technologie ersetzen wollen, oder ob wir versuchen wollen, das Viele am Leben zu erhalten, was heute trotz widriger Umstände noch immer da ist und was wir unsere Heimat nennen.“
Unbequeme Fragen müssen sein
Dann aber seien unbequeme Fragen zu beantworten:
– „Wie geht man emotional mit … dem Ökozid des Planeten um?“
– „Wie vereint, organisiert und mobilisiert man eine revolutionäre Bewegung?“
– „… sollten wir die Zerstörung vielleicht sogar beschleunigen, um unnötiges Leid zu vermeiden?“
– „Wie verteidigt man sich gegen den Vorwurf, Mitglied einer radikalen, ökologischen Gemeinschaft zu sein? Muss man sich überhaupt verteidigen?“
– „Ist es ein legitimer Akt von Gewalt, wenn man einen den Regenwald abholzenden Bulldozer anzündet?“
-„Ist es ein Akt von Gewalt, wenn ich Fleisch esse?“
Vom Wert der Tränen
Mit seinem Buch „Postaktivismus“ spricht Phillip Maiwald letztlich dem tiefenökologischen Gedanken das Wort, dass wir erst dann wirklich ins Handeln kommen, wenn wir den Schmerz über die Verwüstungen der Erde (und in uns) zulassen. An das berühmte William-Blake-Zitat „A tear is an intellectual thing” [eine Träne ist eine intellektuelle Sache] anknüpfend sagt er, man könne die ganze Welt daran aufhängen. Es ist eben diese Träne, die wichtiger ist als all diese „Überheblichkeiten und Grabenkämpfe“; „Wir werden in Zukunft mit Menschen zusammenarbeiten müssen, die wir noch vor kurzem für Fachidioten und Hampelmänner gehalten haben, wir werden mit Nationalisten, Populisten und Kapitalisten sprechen und zusammenarbeiten müssen. Nur so können wir den Herausforderungen der Zukunft auch nur annähernd gerecht werden.“
Radikal mit dem Alten aufräumen
Die fetten Jahre sind vorbei, und die Zeit für lang gehätschelte Glaubenssätze ebenfalls. Diesbezüglich erinnert Maiwald an den riesigen Werbescreen am New Yorker Times Square, auf dem die Künstlerin Jenny Holzer den Spruch installiert hatte: „Protect me from what I want“ [Schütze mich vor dem, was ich möchte]. Vielmehr sei es sinnvoll, einen Minimalkonsens zu entwickeln, „für den man sich begeistern und einsetzen kann, während man über unvermeidliche Unterschiede … großzügig hinweg sieht“. Man könne nun mal „keinen radikalen Wandel auf den Weg bringen und zur gleichen Zeit alles beim Alten belassen“. Bei seinem Formulierungsversuch eines solchen Minimalkonsens‘ zeigt sich rasch, welche Tabuthemen angefasst werden müssten, zum Beispiel: konsequente Umverteilung von materiellem Reichtum, Schließung energieverschlingender Veranstaltungsräume, neues Finanzsystem, sofortiger Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, Vergesellschaftung der Chemie-, Energie- und Stahlindustrie, Austritt aus der Nato. Stattdessen Verankerung von Tier-/Pflanzenrechten und den Rechten kommender Generationen im Grundgesetz, Einführung bzw. Subventionierung von Kreislaufwirtschaft in allen Industriezweigen und Geld für die ganzheitliche Bildung der Kinder.
Hüter/innen der Erde
Weil die Erfüllung all dieser Forderungen einer Umwälzung sämtlicher gesellschaftlichen Verhältnisse gleichkäme, werden die meisten davon, nüchtern betrachtet, wohl unangetastet bleiben – mit allen langfristig unvermeidlichen und voraussichtlich desaströsen Folgen für Mensch und Mitwelt. Doch gemäß der hartnäckigen Einsicht „Wir haben zwar keine Chance, aber wir nutzen sie“, liegt der Wert von Phillip Maiwalds Buch nicht in der detaillierten Analyse eines sozial-ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft, sondern darin, das Notwendige zu Ende zu denken und dabei auch Denktabus nicht länger hinzunehmen. Schließlich gehe es darum, „wirklich etwas zu wagen und gemeinsam das Richtige zu tun; wir sind ohne Einschränkung die Hüterinnen und Hüter der Erde bis zum letzten, lebendigen Wesen“.
Phillip Maiwald, Postaktivismus, 20 €, Büchner Verlag, ISBN 978-3-96317-345-5