Rechtsruck in Deutschland (4/6)

 In FEATURED, Politik (Inland)

Wilhelm Reich analysierte die faschistische Charakterstruktur

Psychosoziale Ursachen und Bewältigungsmöglichkeiten. Über 80 Prozent der erwachsenen Deutschen haben zumindest punktuell fremdenfeindliche Einstellungen. Nimmt man die weit verbreitete autoritäre Aggression hinzu sowie die zeitweise sensationellen Wahlerfolge der AfD und die deutschlandweite Unterstützung für PEGIDA, zwingt sich die Frage auf: Ist die Bundesrepublik also im Wesentlichen „rechts“? Wer sich die aktuellen soziologischen Untersuchungen genauer anschaut, gelangt zu einem differenzierteren Bild – das ohnehin nicht hineinpasst in das „Links-Rechts“-Schema. (Andreas Peglau)

Redaktionelle Vorbemerkung: Die Analyse von Andreas Peglau zum Rechtsruck in Deutschland erscheint als Sechsteiler. Bisher erschienen die Teile 1 („Massenpsychologie des Faschismus, 1933 – und heute“), 2 („Bundesdeutsche Seelenverhältnisse“), 3 („‚Rechter‘ Neoliberalismus“) und 4 („Widersprüche und Auflösungen“).

Teil 4: Widersprüche und Auflösungen
Was motiviert PEGIDA-Demonstranten und AfD-Wähler?

Als hauptsächliches Motiv gaben PEGIDA-Demonstranten 2015 laut den Untersuchungen von Hans Vorländer, Maik Herold und Steven Schäller noch vor der vermeintlichen Islamisierungsgefahr eine „allgemein empfundene Distanz zwischen Volk und Führern“ an.(1) Das klingt nach einer Mischung aus – zu Teilen ja gut begründbarer – Kritik an der Regierung und einer unterwürfigen Bitte um bessere autoritäre Lenkung. Auch die Leipziger Forscher um Oliver Decker beurteilen die Gesamtheit aktueller „rechter“ Strömungen so: „Ihre ‚Rebellion‘ richtet sich gegen die Autorität, weil sie sie als schwach wahrnehmen.“(2) Dass als kritikwürdigster Teil der Politik von den PEGIDA-Demonstranten die Asylpolitik angegeben wurde (3), deutete freilich bereits auf Fremdenfeindlichkeit hin. Ihre Empörung über die friedensgefährdende deutsche Außenpolitik und die ja tatsächlich vielfach verzerrende Medienberichterstattung können aber schon nicht mehr durchweg auf den Nenner „rechts“ gebracht werden.

Auch Herbert Schui wies 2015 darauf hin, dass „sich die Pegida-Demonstrationen nicht einzig gegen Zuwanderung, Fremde und Islam“ richten, dass Parolen wie „Gewaltfrei und vereint“, „Parteien gute Nacht. Bürger an die Macht“ oder „Gegen Bevormundung, Medienhetze, käufliche Journalisten“, „nimmt man sie wörtlich“, auf etwas anders hindeuten: „Wenn diese Parolen nicht vermischt wären mit Abendland und Islam, könnte von einer radikaldemokratischen Bewegung die Rede sein“, von einem „Versuch“, neben allem anderen auch „Selbstbewusstsein zu demonstrieren“, das „gegen die Vorstellung des Neoliberalismus gerichtet“ ist.

Trifft zu, was Werner Patzelt und Joachim Klose aus ihren Befragungen schließen, dass sich nämlich unter den Kundgebungsteilnehmern „wohl nicht mehr als jeweils rund 5% wirkliche Rechtsextreme finden“,(4) entspräche das in etwa dem Bevölkerungsdurchschnitt. Auch Vorländer et al. bescheinigten den PEGIDA-Demonstranten, sie hätten mehrheitlich kein rechtsextremes Weltbild. Politisch ordne sich ihre übergroße Zahl als zur „Mitte“ gehörig ein, mehr als die Hälfte zeigte „keinerlei Sympathie, Affinität oder Verbundenheit mit einer politischen Partei“. Allerdings favorisierten mehr als 44% die AfD.(5)

Bezüglich dieser Partei wiederum beschreiben Decker et al. 2016 einen Trend zu immer „rechteren“ Positionen.(6) Dazu passt, dass AfD-Wählerinnen und -Wähler mit fast 50% eine deutlich höhere Gewaltbereitschaft als Anhänger anderer Parteien aufweisen, „besonders islamfeindlich, homophob, antiziganistisch und feindlich gegenüber Flüchtlingen eingestellt“ sind.(7) Sie setzen sich zu einem hohen Prozentsatz nicht etwa aus früheren Wählern von NPD und anderen ausdrücklich „rechten“ Parteien zusammen, sondern votierten bislang hauptsächlich für CDU/CSU und SPD: Konnten diese Parteien „2014 noch knapp 50% der rechtsextrem Eingestellten an sich binden, sind es 2016 nur noch 26,4%. […] Die rechtsextrem Eingestellten sind vor allem zur AfD abgewandert“.(8)

Bei 25% der AfD-Wähler identifizieren Decker et al. rechtsextremes Gedankengut – ein alarmierender Befund. Zugleich heißt das jedoch, dass 75% von ihnen hier eben nicht einzuordnen sind. Drei Viertel der AfD-Wähler werden also durch andere als rechtsextreme Einstellungen dazu gebracht, diese Partei zu wählen. Ich habe keine empirische Untersuchung entdeckt, in denen die Einstellungen dieser Mehrheit genau betrachtet werden. Zumeist werden sie darauf reduziert, aus „Protest“ so zu wählen. Dass keiner von ihnen weiß, wofür er oder sie ist, kann ich nicht glauben. Ebenso wenig, dass sich hier ausschließlich destruktive Motive finden lassen. Wie Wilhelm Reich betonte, war das nicht einmal 1933 unter den NSDAP-Anhängern der Fall, seien doch „in der Massenbasis des Faschismus, im rebellierenden Kleinbürgertum, nicht nur die rückwärtstreibenden, sondern auch ganz energisch vorwärtstreibende“, antikapitalistische „Kräfte der Geschichte in Erscheinung getreten“. Außerdem, so Reich, „waren es ja nicht nur Kleinbürger, sondern breite und nicht immer die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach rechts abschwenkten“.(9)

Auch heute irritiert der Widerspruch: Menschen, die selbst nicht rechts oder gar rechtsextrem eingestellt sind, unterstützen AfD-Funktionäre, die zu Teilen offen „rechte“, reaktionäre, fremdenfeindliche Positionen vertreten, darunter die ehemalige AfD-Chefin Frauke Petry, die „völkisches“ Ideengut wieder hoffähig machen wollte. Aber es gibt einen noch weit erstaunlicheren Widerspruch im Einstellungsgefüge der Deutschen.

Fremdenfeindliche Demokraten

Über 80% der Deutschen hatten 2016 fremdenfeindliche Einstellungen – aber „die Idee der Demokratie“ wurde gleichzeitig von fast 95% der Bevölkerung bejaht.(10) Damit nicht genug: Auch unter den AfD-Wählern sind es noch mehr als 89%, die zu dieser Idee stehen, bei Menschen, die mit den Zielen von PEGIDA „vollkommen übereinstimmen“, rund 68%.(11) Unter den PEGIDA-Demonstranten befürworteten Anfang 2015 etwa 87% „sehr“ oder „ziemlich“ die Demokratie-Idee.(12) Ein Jahr später, im Januar 2016, ordneten „78% der befragten Pegidianer die ‚Demokratie, alles in allem‘“ als „etwas eher Vorteilhaftes“ ein.(13) Die Zustimmung zu der Art, wie in unserem Land mit Demokratie praktisch verfahren wird, liegt dann bei allen Wählergruppen deutlich darunter, im Durchschnitt bei 52%, bei der AfD sogar nur bei etwa 11%.(14) Aber Kritik an der ja tatsächlich reichlich lädierten bundesdeutschen Demokratie lässt sich nicht einfach als Ausdruck „rechter“ Haltungen abtun.

Die absolute Mehrheit der Deutschen sind also „fremdenfeindliche Demokraten“ – und zwar quer durch die Parteien. Wer sich für Demokratie engagiert, hat ansonsten oftmals zu Teilen „rechte“ Anschauungen; Menschen mit teils „rechten“ Anschauungen legen vielfach Wert auf demokratische Verhältnisse. Mehr Demokratie wird eingefordert unter dem eindeutig chauvinistischen Motto „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. CSU-Politiker, die auf Demokratie und auf jene „Bergpredigt“ eingeschworen sind, die in „Liebet eure Feinde“ kulminiert, betreiben geistige Mobilmachung gegen „Fremde“.

Wie geht das zusammen? Eigentlich gar nicht: Die Idee der Demokratie, also Volksherrschaft konsequent zu Ende gedacht, bedeutet, dass allen Menschen ein gleichberechtigtes Dasein zusteht – damit auch „Fremden“. Wer vor unseren Grenzzäunen verreckt oder innerhalb unseres Hoheitsgebietes diskriminiert wird, hat aber keine Gleichberechtigung erfahren. Doch im Unbewussten ist es eben kein Problem, sich wechselseitig ausschließende Ideen zu bejahen. Erst wer sich seine widersprüchlichen Ansichten bewusst macht, kann darüber staunen – und sich bestenfalls für die richtige entscheiden. Diese Art von „Persönlichkeitsspaltung“ zu verstehen und sinnvoll mit ihr umzugehen, ist also nur möglich bei Berücksichtigung tiefenpsychologischer Erkenntnisse.

In jedem Fall gilt: Es wäre wünschenswert, an PEGIDA und AfD mit ähnlicher Differenziertheit heranzugehen, wie sie Wilhelm Reich 1933 in der Massenpsychologie bezüglich der Anhängerschaft „rechter“ Bewegungen walten ließ. Wie ließen sich sonst unbelehrbar-hasserfüllte Neonazis von der großen Mehrheit trennen, die in unterschiedlichen Prozentanteilen zutreffende und unzutreffende Sozialkritik mixt, also letztlich wohl – zumindest auch – etwas Konstruktives bewirken will?

Auch im Sinne von Reich ist Rechtsextremismus das Resultat fehlgeleiteter, pervertierter, ursprünglich jedoch gesunder Bedürfnisse und Motive. Das zu beachten, ist jetzt ebenfalls dringend notwendig, um weder AfD- noch PEGIDA-Anhänger in eine „rechte“ Isolation zu treiben.
Werner Patzelt bilanziert allerdings, dass genau dies passiert. Zu den Ursachen dafür gehöre, „dass viele sie ohnehin als ‚braunen Mob‘ ausgegrenzt haben“. Patzelt nennt als Beispiele nicht nur Pauschalverurteilungen durch Medien, sondern auch Politiker wie den ehemaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel, der von PEGIDA als „Pack“ sprach oder den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der sie als „Chaoten“ beschimpfte(15) – derselbe Gauck, der ja auch eine Aufsplittung in „Hell- und Dunkeldeutschland“ herbeiphantasierte. Doch wenn führende Politiker PEGIDA so selbstgewiss aburteilen, ist das schon insofern heuchlerisch, weil sie für die Umstände, die „rechte“ Tendenzen hervorrufen, mitverantwortlich sind. Damit nicht genug, fördern sie nun durch pauschale Verteufelung weitere Radikalisierung. „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert“ – es steht zu befürchten, dass innerlich bislang noch zerrissene Menschen, wenn sie oft genug zu hören bekommen, sie seien „brauner Mob“, dies früher oder später als Selbstbild übernehmen, um wenigstens von (vermeintlich) Gleichgesinnten Verständnis und Solidarität zu erlangen.

Andere als „Pack“, „Chaoten“ oder „Dunkeldeutschland“ abzutun, ist natürlich auch gut geeignet, eigene Anteile in den „Feind“ zu projizieren. Spitzenpolitiker dürften sich bezüglich autoritärer Struktur und Destruktivität vom Rest der Bevölkerung vor allem dadurch unterscheiden, dass sie gesellschaftlich hoch anerkannte Wege gefunden haben, diese Störungen zu kanalisieren. Auch unter ihnen werden wohl die meisten, bewusst oder unbewusst, zu den „fremdenfeindlichen Demokraten“ gehören.

Es ist lohnenswert, sich dieser Bevölkerungsmehrheit „fremdenfeindlicher Demokraten“ noch einmal mit einer anderen Fragestellung anzunähern: Wie lassen sie sich in das „Links-Rechts“-Schema einordnen?

Fragwürdige „Links-Rechts“-Einteilung

Auf Politik angewendet, war „rechts“ (wie „links“) schon immer ein schwammiger Begriff, den sowohl „die Rechten“ selbst als auch mit ihnen befasste Experten unterschiedlich ausleg(t)en.(16) Dementsprechend kann „von einer Rechtsextremismusforschung mit einem gemeinsamen Untersuchungsgegenstand nicht die Rede sein“.(17)

Aber auch „Linke“ finden hier zu keiner Gemeinsamkeit. So war Anfang 2015 in der „linken“ Tageszeitung junge Welt (18) zu lesen, laut Antifa Infoblatt wiesen Islamismus und Faschismus „historisch, ideologisch und strukturell deutliche Parallelen auf“, stellten beide „einen krisenhaft gewordenen Radikalkonservatismus dar“. Diese Sichtweise bezeichnet Murat Cakir, Autor türkischsprachiger „linker“ Zeitungen und Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, jedoch als „Erfindung von Neokonservativen“ zur Rechtfertigung imperialistischer Politik. Die Meinungen unter den Linken gingen hier auch deshalb auseinander, so die Junge Welt, „weil ein Teil von ihnen den Faschismusbegriff überwiegend ethisch und moralisch verwendet“, während sich andere der bekannten Definition von Georgi Dimitroff bedienten, Faschismus sei die „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Nicht einmal diese „rechte“ Extremvariante ist also im Konsens definierbar. Wie sollte sich dann „rechts“ definieren lassen – oder das ja überhaupt nur als Gegenstück dazu denkbare „links“?

Wie unscharf die Grenzen zwischen „rechts“ und links“ sind, hat zudem die Geschichte des 20. Jahrhunderts wiederholt bewiesen: Waren die Massenmörder Stalin, Mao Tse Tung oder Pol-Pot „links“ oder „rechts“? Oder: Ab 1933 traten zigtausende vormalige deutsche „Links“-Wähler NS-Organisationen bei. 1949 waren dann viele von ihnen angeblich wieder Sozialisten: als DDR-Staatsangehörige. Kraft der Wiedervereinigung wurden Letztere 1990 mehrheitlich als gute bürgerliche Demokraten deklariert. Waren sie damit nun eher „rechts“ oder „links“?

Der Umstand, dass „rechte“ Positionen von Wählern sämtlicher Parteien bejaht werden, bestätigt ebenfalls: Das ja eigentlich ausschließlich Raumaufteilungen beschreibende, daher nur willkürlich mit politischem Inhalt zu füllende „Links/Rechts“-Schema verschleiert die Tatsachen mehr, als dass es sie erklärt.

Gibt es vernünftige Alternativen zu dieser Einteilung, Gegenüberstellungen, die schon an sich einen brauchbaren Sinngehalt haben? Ja.

Lebensbejahend versus lebensfeindlich

Sowohl Wilhelm Reich als auch Erich Fromm verwendeten die Einteilung in lebensbejahend und lebensfeindlich.(19) Mittels dieser Einteilung lässt sich sagen: Da „Fremde“ lebendige Wesen sind, sind fremdenfeindliche Einstellungen lebensfeindlich. Die demokratische Grundidee, zu bejahen, dass allen Menschen die gleiche Macht über ihr Schicksal zusteht, ist hingegen ausgesprochen lebensbejahend.(20) Die meisten erwachsenen Deutschen vereinen also in sich lebensfeindliche und lebensbejahende Positionen.

Die entscheidende Grenze verläuft auch hier nicht zwischen Parteien, sondern zwischen Persönlichkeitsanteilen. Das anzuerkennen, hätte weitreichende praktische Konsequenzen – nicht zuletzt für das Bemühen um Frieden.

Seit der Ukraine-Krise 2014 ist der Frieden auch in Mitteleuropa akut bedroht – und USA, NATO und Bundesregierung steigern weiter systematisch das Risiko einer militärischen Konfrontation mit Russland, die zu einem Atomkrieg führen kann. „Wenn angesichts dieser angeheizten Stimmung einer die Nerven verliert, werden wir die nächsten Jahre nicht überleben“, warnte Michail Gorbatschow im Januar 2015. Es tut also bitter not, sich heute für den Frieden einzusetzen – was ja zugleich ausgesprochen lebensbejahend ist.

Wer das erfolgreich tun will, sollte sich mit all jenen verbünden, die dieses Ziel ebenfalls ernsthaft – nicht heuchlerisch-demagogisch! – vertreten. Das heißt auch über Ideologie-, Religions- und Klassenunterschiede hinweg nach Verbündeten zu suchen. Wer darauf besteht, dabei nur mit Menschen zusammenzuwirken, die überhaupt keine fremdenfeindlichen Gedanken hegen, schließt, wie wir gesehen haben, mindestens 80% der Bevölkerung aus – und verhindert damit jede erfolgsträchtige Massenbewegung für den Frieden schon im Ansatz.

Die dennoch notwendige Auseinandersetzung mit lebensfeindlichen Sicht- und Verhaltensweisen anderer muss wiederum denen am leichtesten fallen, die sich ihre eigenen autoritär-destruktiven Anteile bewusstgemacht oder vielleicht sogar angefangen haben, sie therapeutisch zu bearbeiten. Auch die hier bislang zitierten soziologischen Untersuchungen belegen: Grund genug, Letzteres zu tun, haben die meisten von uns.

Eine entscheidende Passage aus Reichs Massenpsychologie-Auflage von 1946 lautet:

„Der Faschismus wird auch heute noch, infolge des politischen Fehldenkens, als eine spezifische Nationaleigenschaft der Deutschen oder Japaner aufgefasst […].
Meine charakteranalytischen Erfahrungen überzeugten mich dagegen, dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge […].
Demzufolge gibt es einen deutschen, italienischen, spanischen, anglosächsischen, jüdischen und arabischen Faschismus […].
Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, wenn man ihn, je nach politischer Konjunktur, nur im Deutschen oder Italiener und nicht auch im Amerikaner und Chinesen sucht; wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt, wenn man nicht die sozialen Institutionen kennt, die ihn täglich ausbrüten“

Der letzte Satz ließe sich auf folgende Weise aktualisieren: „Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, wenn man ihn […] nur im Deutschen oder Italiener“ vermutet – oder nur bei Rechten, in AfD und PEGIDA. Diesem „Amokläufer“ kann nur erfolgreich entgegengewirkt werden, wenn er „auch im Amerikaner und Chinesen“ identifiziert wird – sowie bei Demokraten, Christen, Liberalen, Grünen und Linken, „wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt, wenn man nicht die sozialen Institutionen kennt, die ihn täglich ausbrüten“.

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) Vorländer, Hans/ Herold, Maik/ Schäller, Steven (2016): PEGIDA. Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden: Springer VS, S. 62.
(2) Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hg.) (2016): Enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Gießen: Psychosozial, S. 18.
(3) Vorländer et al. 2015 (wie Anm. 1), S. 62.
(4) Patzelt, Werner J./Klose, Joachim (2016): PEGIDA. Warnsignale aus Dresden, Dresden: Thelem, S. 180.
(5) Decker et al. 2016 (wie Anm. 2), S. 176–178.
(6) Ebd., S. 93.
(7) Ebd., S. 79.
(8) Ebd., S. 51f.
(9) Reich, Wilhelm (1933): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, Kopenhagen/Prag/Zürich: Verlag für Sexualpolitik, S. 17-21.
(10) Decker et al. 2016 (wie Anm. 2), S. 51f.
(11) Ebd., S. 79, 148.
12) Siehe Patzelt/Klose 2016 (wie Anm. 4), S. 187.
(13) Ebd.
(14) Ebd., S. 53, 81.
(15) Ebd., S. 29.
(16) Breuer, Stefan (1999): Grundpositionen der deutschen Rechten (1871–1945), Tübingen: edition discord; Decker, Oliver/Weißmann, Marliese/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2012): Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Springe: zu Klampen, S. 11.
(17) Ebd.
(18) „Streit um Trennschärfe“, Junge Welt 18.2.2015, S. 15.
(19) Siehe zum Beispiel Reich, Wilhelm (1987) [1969]: Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus, Köln: Kiepenheuer und Witsch, S. 165; Fromm, Erich (1989d): Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, in ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, München: dtv.
(20) Alles, was an „linkem“ Gedankengut wertvoll ist, sollte sich auch hier zuordnen lassen.
(21) Reich, Wilhelm (1986) [1971]: Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln: Kiepenheuer und Witsch., S. 13ff.

 

Redaktioneller Hinweis:

Vor einem Wiedererstarken des Faschismus hat bereits Bertolt Brecht gewarnt: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Aber was ist dieser „Schoß“?

Die bemerkenswerten Antworten, die der „linke“ Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957) auf diese Frage gab, werden bis heute fast durchgängig ignoriert, auch in Politik, Faschismus- und Rechtsextremismusforschung. Das ist bitter, weil Reich es anders verdient hätte. Wichtiger ist jedoch: Ohne diese Antworten endlich ebenfalls zu berücksichtigen, dürfte es weder eine Chance geben, die internationale „braune Renaissance“ zu verstehen noch ihr wirkungsvoll entgegenzutreten.

Das im Juli 2017 erschienene neue Buch des Psychologen und Psychotherapeuten Andreas Peglau verbindet knappe biografische Informationen zu Reich und zu seiner 1933 erschienenen „Massenpsychologie des Faschismus“ mit Antworten auf Fragen wie

Was war bzw. ist die wichtigste psychosoziale Basis politischer „Rechts“-Entwicklungen – früher und heute? Welche Auswirkungen hat autoritär-entfremdende Sozialisierung für das Zustandekommen von Destruktion, Rassismus und Krieg? Welche Rolle spielen psychische Faktoren für das Aufrechterhalten patriarchalisch-kapitalistisch-neoliberaler Systeme und für das mögliche Revolutionieren dieser Systeme? Welche Menschen- und Weltbilder können uns als Voraussetzung zum konstruktiven Handeln dienen?

Es kann direkt beim Verlag bestellt oder hier kostenlos heruntergeladen werden.

Andreas Peglau: Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz, Nora-Verlag Berlin, 174 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-86557-428-2.

 

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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