Reinkulpation – Dein Körper stirbt, nicht deine Schuld 1/3

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer
Kinder brauchen vor allem Härte. In früheren Zeiten wusste man das (Szene aus "Oliver Twist")

Kinder brauchen vor allem Härte. In früheren Zeiten wusste man das (Szene aus “Oliver Twist”)

Für die Taten, die er begangen hat, und für die Schulden, die er aufgenommen hat, muss jeder die volle Verantwortung übernehmen. Manche Schuldner machen es sich aber allzu leicht und entziehen sich ihren Verpflichtungen mit der fadenscheinigen Begründung, tot zu sein. Die Geprellten sind Not leidende Banken, die einen Teil ihres rechtschaffen erwirtschafteten Geldes nie mehr wiedersehen. Um sich vor permanenter Übervorteilung durch Kreditnehmer zu schützen, hat eine Bank jetzt ein wahrhaft kreatives System ersonnen. Freilich darf man nicht überempfindlich sein, wenn man sich die Folgen dieser Bahn brechenden Reform zu Gemüte führt. Aber es heißt ja nicht umsonst “soziale Gerechtigkeit” – von Gnade war nie die Rede. (Roland Rottenfußer)

„Es ist ein Missverständnis, wenn Journalisten meinen, die Welt verbessern zu müssen; es kommt lediglich darauf an, sie korrekt zu beschreiben“. Wieder einer dieser goldenen Sätze meines Chefredakteurs, rhetorisch dicht und schlagkräftig, wie man es aus seiner berühmten Kolumne kannte. Offenbar hing es mit der Natur meines neuen Rechercheauftrags zusammen, dass mein Herr und Meister meinte, mich darüber belehren zu müssen. Freilich: Kinderarbeit in Deutschland ist starker Tobak und – zumindest in legaler Form – ein Novum. Obwohl die Deutschen nicht als kinderfreundlichste aller Nationen gelten, entringt sich dann doch so manchem ganz sozialromantisch ein Tränchen, wenn er Bilder von großäugigen, traurigen Kids am Fließband im Fernsehen sieht. Das Kindchenschema, der Brutpflegeinstinkt – sie sitzen als biologische Programme tief und lassen uns geistige Werte wie Gerechtigkeit schon mal vergessen.

Ich sollte mich also, wenn ich gleich die Werkräume der Erfurt-Huglfinger Bank betreten würde, ganz der vorurteilsfreien Beobachtung widmen, Fakten sammeln, Fragen stellen – nichts weiter. Auf eine eher unerfreuliche Atmosphäre vor Ort war ich gefasst; keinesfalls hatte ich aber damit gerechnet, so sehr von Traurigkeit überwältigt zu werden, als ich den großen Fabrikationsraum betrat. Auf einer Fläche, die etwa vier Turnhallen entsprach, drängten sich 200 bis 300 Kinder, aufgereiht wie zu militärischen Formationen. Durch die Halle verlief schlangenförmig ein Montageband, ähnlich der Kofferausgabe an Flughäfen, nur schmaler. An den Bändern standen dicht an dicht kleine Tische, an jedem Tisch ein Kind, Bub oder Mädchen, im Alter etwa zwischen 7 und 10. Sie füllten Pulver aus einem großen Behälter in Patronenhülsen, steckten die Kappen auf die Hülsen und warfen die fertigen Patronen auf das Fließband. Von hinten sorgten Zulieferer – Kinder im Teenageralter – für Nachschub, kippten Haufen neuer leerer Patronenhülsen auf die Tische oder gossen frisches Pulver aus Containern in die Schüsseln.

Beißender als der Geruch von Urin und Schweiß, der hier und da in meine Nase stieg, war das schwarze Aroma von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, das den Raum erfüllte. Die meisten Kinder schwiegen, werkelten lethargisch und mit leeren Augen. Einige weinten oder riefen nach ihrer Mama, wurden vom erwachsenen Aufsichtspersonal zurechtgewiesen und weiter zur Arbeit angetrieben.

„Glauben Sie mir, mit der Zeit gewöhnt man sich daran“, erklärte mir unaufgefordert Herr Stumph, Oberaufseher in Halle 37 und mein Begleiter im ersten Abschnitt meiner Besichtigungstour. „Ich war vorher in einem Schlachtbetrieb tätig – auch nicht angenehm, aber wat muss, dat muss, sagt man in meiner Heimat. Hier kannst du dir wenigstens noch sagen: du hast mitgeholfen, dass der Gerechtigkeit genüge getan wird.“ Stumpf blickte mich leutselig aus eng zusammen liegenden Augen an. Offenbar erwartete er von mir, dass ich Verständnis äußerte. Ich blieb stumm, denn ich konnte dem, was ich sah, nicht zustimmen, für eine Streitgespräch fehlte mir aber die Kraft.

Ein Mädchen, das direkt am Gang saß, lächelte mir zu, freundlich und kokett, ohne dass ihre Finger aufhörten, unaufhörlich zu arbeiten. Ihr Gesicht unter dunkelblondem, verklebtem Haar war sauber, aber blass, so dass schwarze Augenringe stark hervortraten. „Wie heißt du“, fragte ich die Kleine.

„Emily“, sagte sie.

„Und wo sind deine Eltern?“

„Die Bank ist jetzt meine Mama und mein Papa“, sagte Emily, deren lächelndes Gesicht sich augenblicklich verdüsterte.

„Schau, dass Du weiterarbeitest, faule Göre“, fuhr Stumph das Mädchen an und schlug mit einem Lineal kurz auf ihre Fingerchen. Emily zuckte zusammen, arbeitete dann aber scheinbar ungerührt und etwas beschleunigt weiter.

Jetzt konnte ich meinen Zorn nicht länger zurückhalten: „Wie können Sie – ein unschuldiges Kind …?“

„Ach was, unschuldiges Kind, sie schuldet der Bank 700.000 Euro“, brummte Stumph.

„Das kann doch nicht sein“, warf ich ein, „so ein kleines Kind.“

„Das Kind mag jung wirken, aber dahinter verbirgt sich manchmal eine sehr alte Seele“.

Stumph verwies mich für weitere Fragen an mein in wenigen Minuten anstehendes Gespräch mit dem Pressesprecher der Erfurt-Huglfinger Bank, Milton Schicklgruber. Der würde mir alles Theoretische viel besser erklären könne, als er es könnte. Im Zurückblicken sah ich noch, wie mir Emily einen verschmitzten Blick zuwarf, als gäbe es zwischen uns eine geheime Sympathie, eine Verschwörung hinter dem Rücken des Aufsehers.

„Denken Sie nicht, die Göre wäre an Ihnen persönlich interessiert“, raunzte mich Stumph an, obwohl er unseren kleinen Blickwechsel nicht gesehen haben konnte. „Sie hofft, dass sie von Ihnen adoptiert wird. Es kommt sehr selten vor, aber es ist schon vorgekommen. Reiche Leute, die keine eigenen Kinder haben, sehen so einen Fratz, haben Mitleid, holen ihn da raus und bezahlen alle seiner Schulden bei der Bank.“

Er warf noch einmal einen Blick zurück zu Emily und sah zu seiner Zufriedenheit, dass sie stumm und wie erloschen weiterarbeitete. „Bei Emily allerdings müsste der Retter schon sehr reich sein – schlechtes Karma“, feixte der Vorarbeiter. „Oder wollen Sie sie vielleicht nehmen?“

Ich empfand diese Bemerkung Stumphs als blanken Hohn. Er musste wissen, dass ich freiberuflicher Journalist war. Ich hatte selbst Schulden, und ein solcher Rechercheauftrag bei einer renommierten Wochenzeitung war für mich schon ein Sechser im Lotto. Ich durfte die Angestellten der Bank nicht zu sehr durch unbequemes Nachfragen verärgern, sonst würden sie das Gespräch platzen lassen, ich würde ohne ausreichendes Material in der Redaktion dastehen und damit auch ohne Honoraranspruch.

Im Büro Milton Schicklgrubers angekommen, fühlte ich mich erleichtert, in ihm eine etwas kultiviertere Persönlichkeit zu finden, jemanden, mit dem man offensichtlich reden konnte. Schicklgruber war jünger als man es sich bei einem solch hochrangigen Mitarbeiter einer Großbank vorstellte. Er redete ungefähr doppelt so schnell wie ich, als wolle er möglichst viel Information in die uns verbleibende Zeit hineinpressen. Nie schien er im Redefluss zu zögern, wurden Zweifel am Gesagten in seiner Mimik oder in Form einer stimmlichen Unsicherheit erkennbar. Unwillkürlich wurde auch ich dadurch motiviert, mich zu konzentrieren und meine Fragen schnell und präzise, wie beim einem Pingpongspiel, zu platzieren.

„Reinkulpation“ hießt also das große Stichwort, der neue Trend im Bankwesen. Ich kannte das Prinzip aus einigen Presseberichten, aus denen ich aber nicht recht schlau geworden war. Oder hatte ich sehr wohl verstanden, worum es ging, wollte es aber einfach nicht glauben, weil es mir zu unfassbar schien? Ungefähr bedeutete das Wort „Reinkulpation“ Wiederbeschuldigung: das erneute Erheben eines Schuldvorwurfs gegen jemanden. Hintergrund jenes, „Reinkulpation“ betitelten Maßnahmenbündels waren offenbar traumatisierende Opfererfahrungen der Bank in der Vergangenheit. „Uns gehen jährlich Summen in achtstelliger Höhe verloren, wenn Kreditnehmer vor Begleichung ihrer Schuld sterben“, erklärte mir Schicklgruber. „Sie drücken sich vor ihren Zahlungsverpflichtungen, indem sie quasi im Tod Zuflucht nehmen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie Selbstmord begehen – das auch manchmal -, überwiegend geht es aber um Fälle, in denen nach dem natürlichen Ende des Lebens das Ende der Schuld noch in weiter Ferne liegt. Sie müssen zugeben, dass das für eine Bank, die als Wirtschaftsunternehmen funktionieren muss, kein befriedigender Zustand ist. Wir mussten also handeln.“

„Konnten Sie nicht die Erben belangen?“, frage ich nach.

„Nur bedingt“, erklärte Schicklgruber. „Der Gesetzgeber denkt da leider extrem gläubigerfeindlich. Es ist nicht üblich, dass man Kinder und Enkel der Schuldner nach deren Tod belangen kann, es sei denn – und diese Regelung klingt für einen Bankmanager wie Hohn – jemand nimmt sein mit einer Schuldverpflichtung verbundenes Erbe freiwillig an. Aber in der Bevölkerung ist leider keinerlei Zahlungsmoral mehr vorhanden. So etwas wie ein Gewissen kennen diese Leute gar nicht. Und selbst wenn es mehr gewissenhafte, zahlungswillige Nachkommen gäbe – wie sollte die Bank bitte an das Geld der kinderlosen Verstorbenen kommen? Die Anzahl der Kinderlosen nimmt ja sprunghaft zu: Hartz IV-Empfänger, Einkommensschwache, freiberufliche Künstler – das ganze Gesockse, macht Schulden, und hinterher ist niemand da, der dafür aufkommen kann.“ In das glatt rasierte Gesicht des Pressesprechers trat ein Zug der Erbitterung. In keiner Weise schien er erwogen zu haben, dass ich mich durch seine Beleidigung gegen Freiberufler selbst angesprochen fühlen könnte.

„Vielleicht denken viele Menschen, die Bank habe sowieso genug Geld“, warf ich ein, bereute meine Bemerkung aber sogleich wieder, aus Angst, durch überkritische Fragen den Ärger des sehr charismatisch wirkenden Pressesprechers auf mich gezogen zu haben.

Zu meiner Erleichterung schien dieser nicht gekränkt zu sein, vielmehr froh über die Gelegenheit, etwas Wichtiges zu klären. „Freilich, unter uns gesagt, im Endeffekt bezahlt die Bank gar nichts. Kleinere Verlustsummen trägt die Gemeinschaft der Kunden durch geringere Habenzinsen auf ihre Sparkonten oder größere Sollzinsen auf Kredite.“

„Und größere Verluste?“, fragte ich nach.

„Naja“, setzte Schicklgruber an und zwinkerte mir zu. „Größere Ausfälle trägt sowieso der Steuerzahler. Aber so weit wollen wir es ja nicht kommen lassen, wir sind ja eine verantwortungsvolle Bank, nicht wahr? Und noch etwas“, fuhr er fort, „vielleicht wird Sie diese Aussage aus meinem Mund überraschen: Es ist in gewisser Weise gerecht, dass man die Erben in Ruhe lässt. Zumindest jene, die nicht direkt für das Zustandekommen einer Zahlungsverpflichtung verantwortlich waren. Wir wollen nicht, dass Unschuldige zu leiden zu haben. Unsere Firmenpolitik setzt somit all jene ins Unrecht, die immer wieder das boshafte Klischee von den hartherzigen Banken verbreiten. Auch wir, die Banken, sind ja nichts anderes als das: unschuldige Opfer – was also tun?“

Schicklgruber wechselte seine Körperhaltung und schuf so eine künstliche Redepause, wohl um die Bedeutung dessen, was nun folgen sollte, zu unterstreichen. „Die Schuldigen müssen belangt werden, niemand sonst. Keiner kann sich der glasklaren Gerechtigkeit dieses Grundsatzes entziehen. Sie werden jetzt vielleicht sagen ‚unmöglich!’, und bis vor kurzem dachten wir auch so. Wie sollten wir die Schuldner belangen können, wenn sie tot sind? Wir tappten lange im Dunkeln – bis einer unserer Topmanager eher durch Zufall begann, sich privat mit spiritueller Lektüre zu fassen. Und eben dieser Manager erschien eines Tages zum Meeting und platzte mit der Neuigkeit heraus: ‚Sie sind da! Die Schuldner leben, sie sind mitten unter uns!’“

Schicklgruber berichtete nun von den Lektüreerfahrung des Bankvorstands Timothy Scrooge. Dem sei durch Empfehlung seiner esoterisch interessierten Freundin Jonathan Sundays Bestseller „Licht der Präexistenz“ in die Hände gefallen. Der Untertitel „Radikale Eigenverantwortung jenseits der Schwelle des Todes“ deutete schon an, worum es geht. Das Universum, so Jonathan Sunday, sei durch Polaritäten geprägt. Dem Rhythmus von Ein- und Ausatem entspreche die Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, von Sommer und Winter. Die Esoterik könne nun belegen, dass diesen kleinen Zyklen ein noch größerer entspreche: der von Leben und Tod. Nicht nur folge auf das Leben unweigerlich der Tod, auch umgekehrt sei dieser Grundsatz gültig: Jeder Tod münde in neues Leben. Die Weltreligionen des Ostens, Hinduismus und Buddhismus, sowie ehrwürdige spirituelle Traditionen wie Theosophie und Anthroposophie hätten dies immer wieder betont. Durch die Schau bedeutender Medien sei Reinkarnation ebenso bewiesen wie durch umfangreiches Material aus Rückführungstherapien, die im Zustand der Hypnose durchgeführt worden seien. Zudem belegten gechannelte Texte, u.a. die Durchsagen der außerirdischen Wesenheit Oxymoron, die Gültigkeit von Wiedergeburt als einem kosmischen Naturgesetz.

„Alles läuft also auf die eine durchschlagende Erkenntnis hinaus“, schloss der Pressesprecher. „Die Seele wechselt ihre Verkörperung wie wir unsere Kleider und Schuhe. Aus Frauen können Männer werden, aus Schwarzen Weiße, aus Amerikanern Chinesen, und umgekehrt. In diesem Maskenball bleibt jedoch der Tänzer selbst, die Seele, stets der gleiche. Es ist somit von jeder Seele zu erwarten, dass sie die volle Verantwortung für die Taten all ihrer Inkarnationen trägt. Jenseits-Aufenthalte zwischen zwei Inkarnationen entsprechen – analog gedacht – der Nacht zwischen zwei Tagen. Kein Schuldner würde sich beschweren, würde ihn jemand am Mittwoch wegen einer Zahlungsverpflichtung belangen, die er am Dienstag eingegangen ist. Man kann seine Gläubiger doch nicht mit der fadenscheinigen Begründung prellen: ‚Ich will jeden Tag von vorn beginnen, frei und unbelastet’. Ebenso muss jeder Mensch uneingeschränkt für die Schulden seiner Vorinkarnation aufkommen. Hab ich nicht Recht?“

Ich begann jetzt, zu begreifen, worum es bei Reinkulpation ging und was diese Erklärungen Schicklgrubers mit dem beklagenswerten Szenario zu tun hatte, das ich in der Werkhalle mit ansehen musste: Diese Kinder am Fließband, es waren die Wiedergeburten ehemaliger Schuldner der Erfurt-Huglfinger Bank. Das ehrwürdige Bankhaus bestand – sieht man von Bankenfusionen und historisch bedingten Umbenennungen einmal ab – schon seit dem frühen 18. Jahrhundert. Denken in längeren, Generationen übergreifenden Zeiträumen konnte es sich also durchaus erlauben.

„Worum es also im Kern geht, ist verkörperungsübergreifender Schuldendienst. Die Reinkarnationsforschung hat die Zeitachse innerhalb der Seelenbiografie eines Menschen bis weit vor seine Zeugung und weit über seinem physischen Tod hinaus verlängert. Das eröffnet für Kreditgeber ungeahnte neue Möglichkeiten, denn sie wissen ja“ – bei diesen Worten rieb sich Schicklgruber die Hände und setzte sein charakteristisches raubtierhaftes Lächeln auf – „wenn Schulden über Jahrzehnte nicht getilgt werden können, wird es richtig teurer.“

Ich wollte mir das zunächst nicht im Detail vorstellen und stellte eine Frage, die ich für nahe liegender hielt: „Woher wissen Sie so genau, dass diese Kinder Wiedergeburten früherer Schuldner sind?“

„Ich bin dankbar für Ihre Frage“, erwiderte Schicklgruber routiniert.

Morgen erfahren Sie im zweiten Teil dieser Geschichte: Woher weiß die Bank, dass ein Kind die Wiedergeburt eines ehemaligen Schuldners ist? Die Hintergründe des Schicksals der kleinen Emily.

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