Reinkulpation – dein Körper stirbt, nicht deine Schuld 3/3

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer
Szene aus dem Kinderhandel-Thriller "Operation Zucker"

Szene aus dem Kinderhandel-Thriller “Operation Zucker”

Für die Taten, die er begangen hat, und für die Schulden, die er aufgenommen hat, muss jeder die volle Verantwortung übernehmen. Manche Schuldner machen es sich aber allzu leicht und entziehen sich ihren Verpflichtungen mit der fadenscheinigen Begründung, tot zu sein. Die Geprellten sind Not leidende Banken, die einen Teil ihres rechtschaffen erwirtschafteten Geldes nie mehr wiedersehen. Um sich vor permanenter Übervorteilung durch Kreditnehmer zu schützen, hat eine Bank jetzt ein wahrhaft kreatives System ersonnen. Freilich darf man nicht überempfindlich sein, wenn man sich die Folgen dieser Bahn brechenden Reform zu Gemüte führt. Aber es heißt ja nicht umsonst „soziale Gerechtigkeit“ – von Gnade war nie die Rede. (Roland Rottenfußer, 1. Teil dieser Satire hier, 2. Teil hier.

Frau Hohse war eine attraktive, jedoch etwas verhärmt wirkende Rothaarige, schlank, fast ausgemergelt, Mitte 40 wohl. Ihr konzentrierter, manchmal fast bedrohlich wirkender Blick über schwarzen Augenrändern ähnelte dem Bild, das ich von Drogenjunkies hatte. Dabei war sie äußerst gepflegt: gebügelt das anthrazitfarbene Kostüm, exakt gezogen Lippenstift und Lidstrich. Eine Süchtige? Eine Depressive? Ich bin sicher, dass die Bank niemanden mit erheblichen Gesundheitsproblemen eingestellt hätte. Vielleicht war es Überarbeitung. Merkwürdig war, dass Frau Hohse mir gegenüber ein wenig zu gockeln schien, sofern dieser Ausdruck bei einer Frau überhaupt passend sein kann. Sie setzte sich in Szene, wollte offenbar gefallen, was in merkwürdigem Kontrast zur mangelnden Vitalität und Düsternis ihrer Ausstrahlung stand. Henriette Hohse beantwortete zuvorkommend, fast devot alle meine Fragen und kam mit ihrem Gesicht näher an meines heran, als dies unter Fremden im Business-Milieu üblich war. Ich roch Parfum und Zigarettenrauch, sah die gespachtelte, schlammfarbene Schminke über großporiger Haut wie unter einem Vergrößerungsglas.

Unwillkürlich wich ich etwas zurück und bat Henriette Hohse, mir die Essens- und Schlafräume der Kinder zu zeigen. „Sie haben Glück“, sagte meine Begleiterin. „Es ist gerade Feierabend, und die Arbeiter dürften gerade Essen fassen.”

Mein Eindruck vom Speisesaal, das muss ich leider sagen, war ähnlich ungünstig wie der, den ich vom Werkraum gewonnen hatte. Eine endlose Schlange von Kindern wartete auf einen unappetitlich aussehenden Brei, der mit der Kelle aus einem Riesenkessel in ihren Blechnapf geklatscht wurde. Alle Kinder waren sehr dünn. Sie setzten sich schlurfend und mit gesenktem Blick an ihrer Tische und fraßen – hastig und ohne Freude. Die Bank muss sich sehr sicher fühlen, ging es mir durch den Kopf, dass niemand sie wegen der unappetitlichen Zustände in diesem Arbeiterwohnheim für Minderjährige würde belangen können. Sicher auch, dass der Bericht eines Journalisten ihrem System nichts würde anhaben können. Auf die Kooperation der Obrigkeit in Deutschland war ebenso Verlass wie auf die Hinnahmebereitschaft der Bevölkerung.

Frau Hohse schien mir angemerkt zu haben, dass ich über die Zustände im Speisesaal entsetzt war. „Würde man mehr Geld für Essen ausgeben“, erklärte sie, „so würde dies die Tilgungssumme verringern, die die Kinder monatlich für ihren Schuldendienst aufbringen können. In ihrem eigenen Interesse werden sie also von der Bank zum Sparen angehalten. Das gilt natürlich auch für die Unterkünfte.“

Der Schlafsaal, den ich als nächstes betrat, versetzte mir nun vollends einen Schock. Nicht Betten standen dort, sondern übereinander geschichtete Röhren, die aussahen wie ein Bündel überdimensionierter Strohhalme, von oben betrachtet. Die Halle war so hoch wie vier Stockwerke und mindestens so breit wie der Werkraum, den ich am Nachmittag besichtigt hatte. Treppen und schmale Rampen führten zu Ensembles von jeweils 30 Röhren: drei übereinander, zehn nebeneinander. Zwischen diesen „Zellen“ – es waren unzählige, die nebeneinander, übereinander und hintereinander geschichtet wurden – hatten die Erbauer immer etwas Luft gelassen für die Verbindungswege, so dass man jede einzelne Röhre erreichen und vorn hineinkriechen konnte.
„Die Bank hat bei den Baukosten für Unterkünfte verständlicherweise gespart“, erklärte Frau Hohse, als wolle sie sich entschuldigen. „Die Zahlungsausfälle, die durch die Vorinkarnationen der Kinder verursacht wurden, zwangen uns zu einer strikten Ausgabenbeschränkung, unter denen die Nachfolgeinkarnationen nun zu leiden haben. Nicht angenehm, aber gerecht.“

Ich besah mir einige der Röhren aus der Nähe. Sie waren so niedrig, dass selbst ein Kind darin nicht stehen, allenfalls kauern konnte. Schlafsäcke lagen darin, die meisten von ihnen rochen muffig, was in der Summe ein so unangenehmes Aroma im gesamten Raum erzeugten, dass ich einen Würgreflex unterdrücken musste. An der Hinterseite der Röhren waren kleine Lampen angebracht. Manche Kinder schienen in diesem Licht abends in zerfledderten Bilderbüchern zu lesen. Am Kopfende lagen vereinzelt Puppen oder Stofftiere, ein paar persönliche Gegenstände. Häufig sah ich Fotos erwachsener Personen, wohl der Eltern der Kinder. Es war der einzige private Lebensraum, den die Kinder nach Feierabend hatten, sieht man von den Ess- und Waschräumen ab, die ebenfalls sehr ökonomisch für den Massenbetrieb gestaltet waren. Eine Stunde auf engstem Raum seinen Gedanken nachgehen, lesen, die geliebte Puppe an sich drücken, heimlich weinen oder mit der Nachbarin an der Vorderseite der Röhre tuscheln, bevor man – erschöpft von einem 10-Stunden-Arbeitstag – in einen dumpfen Schlaf fiel. Nur um von der zentralen Wecksirene in aller Herrgottsfrühe zu einem neuen Arbeitstag gerufen zu werden.

In einer der Röhren fand ich einen schmutzigen, verdrückten Stofffuchs. War dies Emilys Unterkunft? War es der Fuchs, der schon ihrer vorherigen Verkörperung, Heinrich Otto Stracke, gehört hatte und den wieder erkannt zu haben ihr Schicksal in dieser und allen weiteren Inkarnationen besiegelte? Gedankenverloren strich ich für einen Augenblick zärtlich über das Fell des Fuchses.

Und da quollen schon die Kinder in den Raum – fast geräuschlos, rasch und mechanisch wie eine Ameisenstraße, die sich in viele dünnere Ströme aus kleinen Leibern aufspaltete, die sich verteilten, in die Höhe, in die Breite und in die Tiefe und in den Löchern verschwanden wie in Waben.

„Kommen Sie jetzt besser raus“, sagte Henriette und drückte sich für einen Moment gefährlich nah an mich heran, scheinbar, um ein paar Kindern auszuweichen, die um uns herum zu ihren Röhren strebten. „Es ist bald Schlafenszeit. Die Mädchen könnten sich durch Ihre Anwesenheit irritiert fühlen. Es kommt selten ein Fremder in den Schlafsaal.“

Wir gingen eine der Treppen hinunter, wobei uns immer wieder Kinder begegneten, ohne uns anzuschauen. Tatsächlich glaubte ich in einem der Mädchen Emily erkannt zu haben, doch sie huschte schnell vorbei, schien mich nicht gesehen zu haben oder wollte mich nicht sehen. Henriette führte mich in einen kleinen Nebenraum, ein enges Kabuff, in dem ein Staubsauger und einige andere Reinigungsgeräte standen. Ich wusste nicht so recht, warum dieser schmale Raum Teil meiner Führung sein sollte. „Wenn du willst, blase ich dir eine“, sagte Henriette plötzlich, während sie mir in den Schritt griff. „Ficken geht nicht, weil ich nicht verhüte“.

Ich zuckte zusammen, als mich ihr nach Zigaretten riechender Atem traf und machte eine abwehrende Handbewegung. Sie gefiel mit nicht schlecht, war mir aber nicht sympathisch, und ihre Ausstrahlung wirkt auf mich unangenehm. Die Umgebung für ein derartiges „Abenteuer“ war abscheulich und meine Stimmung aufgrund der Zustände, die ich gesehen hatte, mies. Wenn ich versuchen würde, unter solchen Umstände einen Sexualakt zu erzwingen, käme nichts Befriedigens dabei heraus. Das sagte mir meine Lebenserfahrung.

„Entschuldige“, meinte Henriette verlegen und rückte wieder ein Stück von mir ab. „Weißt du, es kommen nicht viele fremde Männer hierher, und ich komm ja abends auch nicht hier raus.“

Ich wunderte mich über diese Aussage und fragte meine Begleiterin nach dem Grund.

„Ich arbeite hier auch meine Schulden bei der Bank ab. Bin hier hergekommen mit drei, hab am Band gearbeitet wie die Kleinen in der Werkhalle. Bin aufgestiegen zur Freizeitaufseherin für die jungen Dinger. Ich kann von Glück reden. Wer länger als zehn Jahre an der Werkbank sitzt, wird verrückt oder bricht zusammen. Jedes Schuldenkind muss schauen, dass es als Jugendlicher irgendwie in die Orga kommt oder ins Controlling. Meinst du nicht, wir könnten doch kurz … schon gut, habe verstanden. Ein Schuldenkind ist wohl unter dem Niveau des Herrn Journalisten.“

„Partnersuche ist also schwer hier im Wohnheim der Bank!?“, fragte ich, um beim Thema zu bleiben, zugleich aber jede persönliche Verwicklung zu vermeiden. Ich tat, was ich in solchen Situationen meistens tat und flüchtete vor dem beängstigenden Andrang des Tatsächlichen ins Allgemeine.

„Mädchenheime und Jungenheime“ sind hier getrennt, sagte Henriette. „Und auch die Aufseher sind meist nach Geschlechtern geordnet. Männer passen auf Jungen auf, Frauen auf Mädchen. Wenn man gut aussieht, hat man manchmal Sex, aber nicht immer ganz freiwillig. Die Herrn Manager greifen sich ab und zu eine von uns raus, wie sie in die Auslage in einem Kaufhaus greifen, wenn sie was Schönes entdeckt haben. Du kannst als Angestellte da kaum nein sagen. Sie haben die Macht, dir Vorteile zu verschaffen – oder eben Nachteile, wenn sie schräg drauf sind. Wenn du die regelmäßige Geliebte von einem hohen Tier wirst, können sie dir sogar günstigere Zinssätze zu deinem Kredit verschaffen, d.h. du kommst dann vielleicht nach 250 Jahren hier raus statt nach 260 Jahren.“ Sie lachte nervös auf, wobei sie ein Geräusch ausstieß, das mehr nach Verzweiflung als nach Heiterkeit klang. „Mir ist das auch ab und zu passiert, als ich noch richtig knackig war. Aber jetzt, du siehst ja, nicht mal du hast Bock. Dabei könntet du doch eigentlich froh sein in deinem Alter über die Gelegenheit – mit einer 30-jährigen.“

30 war Henriette erst, kaum zu glauben. Die Arbeit hier, der Schuldendienst, ließ die Mädchen offenbar schnell verblühen. Ich reagierte aber nicht auf ihre Bemerkung, weil ich eine wichtigere Frage auf dem Herzen hatte: „Aber die Manager greifen sich doch nur die erwachsenen Frauen, oder?“

Henriette schaute auf den Boden. Nach einer Pause sagte sie: „Nicht nur die Erwachsenen.“

Nach einer weiteren Pause: „Und nicht unbedingt nur die Mädchen. Aber von mir haben Sie die Info nicht.“

Ich versuchte meinen Schock so rasch wie möglich zu verarbeiten und ging im Kopf kurz ein paar Szenarios durch. Eine Anzeige bei der Polizei oder ein diesbezüglicher Bericht in der Zeitung aufgrund einer bloßen Andeutung Henriettes kam nicht in Frage, es wäre sinnlos gewesen. Ohne klare Beweise hätte man mich wegen übler Nachrede verklagt, und die Bank hatte Top-Anwälte. Ich konnte mir denken, zu wessen Gunsten ein Prozess ausgehen würde. Die Zeit, um viel zu recherchieren, hatte ich ebenfalls nicht. Mein Chefredakteur hätte die Gelder dafür nie freigegeben. Investigativer Journalismus rechnete sich ohnehin nicht mehr, fast alle Zeitschriften verzichteten mittlerweile ganz darauf.

Wir gingen aus dem Kabuff zurück in den Vorraum. Gerade kam ein männlicher Aufseher durch den Gang, öffnete die Tür zum Schlafsaal und rief gebieterisch hinein: „Emily Schobert in Zimmer Nr. 277“. Ich sah durch den Türspalt, wie Emily aus ihrer Röhre heraus kroch, über ein paar Treppen nach unten krabbelte und mit gesenktem Blick durch die Tür trat. Sie nahm willig die Hand des Aufsehers und trottete mit ihm schnellen Schrittes den Gang entlang.

„Aber …“ versuchte ich noch einzuwerfen. Emily schaute sich kurz um und streifte mich mit einem Blick, den ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Wenn sie wenigstens traurig geschaut oder geweint hätte! Aber ihre Augen waren wie tot. Nichts mehr von dem freundlichen Charme unserer ersten, kurzen Begegnung. Keine Bitte um Hilfe lag in ihren Augen, nicht einmal ein Vorwurf, weil ich ihr nicht zu helfen versuchte. Nur die Schwärze absoluter Willenlosigkeit.

„Zimmer Nr. 277 ist Herr Schicklgruber“, sagte Henriette, die ebenfalls betroffen wirkte, mit einem resignierten Seitenblick in meine Richtung.

„Nein!“, konnte ich noch hervorbringen. Mit einem Schlag wurde mir klar, dass ich selbst Schuld trug an der Wahl, die Milton Schicklgruber für diesen Abend getroffen hatte. Hätte ich Emily in seinem Büro nicht erwähnt, hätte er ihr Foto nicht auf dem Bildschirm angeschaut und sich erinnert, was für ein „niedliches Ding“ sie war, sie hätte heute wohl nicht auf sein Zimmer kommen müssen als sein Spielzeug.

„Das ist – Missbrauch“, brachte ich noch heraus und war dabei selbst überrascht, wie kraftlos meine Stimme klang.
„Was heißt schon Missbrauch?“, raunzte mich Henriette an. „Ein hässliches Wort. Wir werden alle missbraucht, wenn man es genau nimmt. Missbrauch bedeutet, dass jemand deinen Willen bricht. Das er dich zu einer Handlung zwingt, die für dich leidvoll ist, ihm aber einen Vorteil bringt. Und nun sag mir bloß, wer von uns nach dieser Definition noch nie missbraucht worden ist! Militär ist Missbrauch. Zinsen sind Missbrauch. Religiöse und politische Indoktrination ist Missbrauch. Jemanden zu bestrafen um des erbärmlichen Vergnügens willen, sich besser zu fühlen als er – auch das ist Missbrauch. Worin also, frage ich dich, besteht das Besondere an dem, was hier mit den Kindern geschieht?“

Vielleicht war es einfach so, dass ein Übel ein Übel blieb, egal wie weit es sich auf diesem beklagenswerten Planeten schon ausgebreitete hatte. Und dass abgrundtiefe Gemeinheit immer Gemeinheit blieb, auch wenn die, die dergleichen überhaupt noch zu denken wagten, längst verstummt waren.

Aber derartige Sätze würde ich in meinem Artikel über Reinkulpation nicht schreiben können. Die Erfurt-Huglfinger Bank gehörte schließlich zu den größten Anzeigenkunden meiner Zeitung.

Was ich Herrn Schicklgruber nicht gesagt hatte und was die Angst auf einmal wie eine Schockwelle über meinen Körper laufen ließ, war die Tatsache, dass ich selbst schon seit einigen Jahren bei der Bank verschuldet war. Mit 1500 Euro wegen eines Mietrückstands, verursacht durch verspätet einlaufende Zahlungen einer idealistischen Zeitschrift, für die ich arbeitete. 1500 Euro – eigentlich keine große Summe.

Eigentlich.

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