Reinkulpation – Dein Körper stirbt, nicht deine Schuld 2/3

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer
Hohe tibetische Würdenträger suchen die Widergeburt eines Lamas (Film "Kundun")

Hohe tibetische Würdenträger suchen die Widergeburt eines Lamas (Film “Kundun”)

Für die Taten, die er begangen hat, und für die Schulden, die er aufgenommen hat, muss jeder die volle Verantwortung übernehmen. Manche Schuldner machen es sich aber allzu leicht und entziehen sich ihren Verpflichtungen mit der fadenscheinigen Begründung, tot zu sein. Die Geprellten sind Not leidende Banken, die einen Teil ihres rechtschaffen erwirtschafteten Geldes nie mehr wiedersehen. Um sich vor permanenter Übervorteilung durch Kreditnehmer zu schützen, hat eine Bank jetzt ein wahrhaft kreatives System ersonnen. Freilich darf man nicht überempfindlich sein, wenn man sich die Folgen dieser Bahn brechenden Reform zu Gemüte führt. Aber es heißt ja nicht umsonst „soziale Gerechtigkeit“ – von Gnade war nie die Rede. (Roland Rottenfußer, 1. Teil dieser Satire hier)

„Sehen Sie, Ihnen ist doch die Person seiner Heiligkeit des Dalai Lama ein Begriff.“

Ich bejahte mit einem kurzen Nicken. „Und würden Sie sagen, dass der Dalai Lama einen guten Job macht?“

Auch hier konnte ich guten Gewissens ja sagen. Das geistliche Oberhaupt der Tibeter hatte sich als Persönlichkeit von hoher Integrität und unerschöpflicher Weisheit erwiesen. Er rief die Tibeter zum Frieden mit ihren Feinden auf und war für Tausende, auch europäische Anhänger eine Inspiration.

„Na, und wissen Sie auch, wie Seine Heiligkeit zu seiner Stelle gekommen ist? Hat er sie von seinem leiblichen Vater geerbt? Hat er ein Bewerbungsschreiben um den Job des Dalai Lama verschickt?“

Ich kannte die Antwort, zumindest flüchtig, aus einem Dokumentarfilm, den ich gesehen hatte. Bald nach dem Tod seines Vorgängers, des 13. Dalai Lama, hatte sich eine Delegation hochrangiger tibetischer Geistlicher auf die Suche nach dessen Wiedergeburt gemacht. Dabei hatten sich diese eines ausgefeilten traditionellen Suchverfahrens bedient. Andeutungen des „alten“ Dalai Lama in seiner letzten Lebensphase hatten den Inkarnationsstandort eingegrenzt, auch ein Orakel wurde befragt. Wurde nach einem „Tulku“, also der Wiedergeburt eines hochrangigen tibetischen Meisters, gesucht, so konnten Träume und Visionen des Verstorbenen dazu führen, dass sich eine Gruppe speziell geschulter Mönche auf die Suche nach bestimmten topografischen Begebenheiten machte: beispielsweise nach einer kleinen Hütte in der Nähe eines Sees im Schatten eines hohen Berggipfels. Die Delegation suchte dann alle Familien auf, die in einer Gegend wohnten, die zu der Beschreibung passte und bei denen ein kleines Kind im Haus war.

Jedes Kind wurde dann von den Suchenden genauestens geprüft, indem man ihm z.B. Gegenstände aus dem Besitz des Verstorbenen vorlegte und fragte, welcher davon ihm gehöre. Griff das Kind ohne Zögern z.B. nach einer Brille, obwohl noch einige andere Brillen auf dem Tisch lagen, so konnte man das als Indiz dafür deuten, dass es sich um eine Wiedergeburt des Dahingeschiedenen handelte. Je kleiner ein Kind ist, desto präsenter sind bei ihm noch Erinnerungen an die geistige Welt sowie an die vorangegangene Erdenverkörperung. Wurde ein tibetisches Kind als der gesuchte Lama identifiziert, gaben es die Eltern meist mit Freude und Stolz in die Obhut der Mönche. Es galt als große Ehre, zur Familie eines Tulkus zu gehören.
Zusammen mit Schicklgruber rekonstruierte ich also die Vorgänge, die zur klaren Identifikation einer Wiedergeburt führten. „Werden die Reinkarnationen früherer Schuldner der Bank denn auch von tibetischen Mönchen gesucht?“, fragte ich.

„Nein“, erwiderte mein Interviewpartner. „Die Tibeter kooperieren nicht gern, wenn es um Angelegenheiten geht, die nichts mit ihrer Religion zu tun haben. Außerdem gäbe es da Sprachschwierigkeiten und kulturelle Probleme. Aber der Leiter unserer Suchdelegation, Trutz Böltner, hat eine lange Ausbildung bei dem angesehenen Lama Löbdrön Nörgyal Rinpoche genossen, der ihm nach und nach sein gesamtes Know-How bezüglich der Suche nach Wiedergeburten übertragen hat – nicht wissend allerdings, wofür Böltner sein Wissen später verwenden würde. Das traditionelle buddhistische System musste nur auf deutsche bzw. europäische Verhältnisse übertragen werden. Und es ist ungleich schwerer, in einer Kultur, in der nicht alle die Wahrheit der Reinkarnation anzuerkennen bereit sind, bei den Eltern der Kindern das notwendige Verständnis für unser Anliegen zu wecken.“

„Ist es denn nicht auch etwas hart, kleine Kinder mit einer Schuld zu konfrontieren, an die sie sich nicht einmal erinnern?“, wandte ich ein.

„Keinesweg“, parierte Schicklgruber ohne Zögern. „Das Tulku-System setzt eine gewisse Kontinuität der Seelenbeschaffenheit voraus. Wenn jemand ein hochrangiger buddhistischer Lama gewesen ist, dann kann erwartet werden, dass er sich in seiner Folgeinkarnation schnell und mit wenig Mühe spirituell entwickeln und später den Dharma lehren kann. Der Tulku wandelt gleichsam in seinen eigenen Fußspuren, wodurch er leichter vorankommt. Leider kennt der tibetische Buddhismus die systematische Suche nach Wiedergeburten aber nur in seiner positiven Spielart: Ein ehemaliger religiöser Würdenträger soll wieder in die Position eines Würdenträgers gehievt werden – schön für ihn. Die negative Variante – dass z.B. die Wiedergeburt eines Verbrechers, eines Mörders gesucht wird – wurde bisher nirgendwo auf der Welt praktiziert. Die traurige Folge ist: nach ihrem Ableben sind Übeltäter fein heraus und können sich ihrer Verantwortung ins Jenseits entziehen. Ich empfinde diese Ignoranz gegenüber der Wahrheit der Reinkarnation geradezu als Verhöhnung der Opfer – in diesem Fall also von uns, der Bank, die um den vereinbarten Zins geprellt wird. Wir suchen somit quasi nach Schuld-Tulkus, spüren sie als Kinder auf und zwingen sie, ihre Verbindlichkeiten zu begleichen.“

„Sie gehen also zu den Eltern und erzählen ihnen, ihr Kind sei die Wiedergeburt eines ehemaligen Schuldners der Bank. Es müsse jetzt, statt in die Schule zu gehen, in der Fabrik arbeiten.“

„Ja“.

„Und die Eltern lassen das einfach so zu?“

„Naja, am Anfang hat es teilweise Szenen gegeben wie beim Kindermord zu Bethlehem. Väter sind meist gelassener, aber die Mütter sind wie Tiere, wenn es um ihren Nachwuchs geht. Einige haben unsere Mitarbeiter in die Hand gebissen, haben randaliert und sie aufs übelste beschimpft. Zum Glück kooperieren die Behörden da ohne Wenn und Aber. Notfalls bricht die Polizei mit Gewalt eine Wohnungstür auf und holt die Kinder raus. Es hat ein paar Präzedenzfälle gegeben, die durch die Presse gingen. Eltern wollten ihr Kind nicht hergeben, haben es versteckt oder die Polizei sogar tätlich angegriffen. Die haben dann eine sehr empfindliche Haftstrafe bekommen: versuchte Gefangenenbefreiung, Beihilfe zum Kreditbetrug, Widerstand gegen die Staatsgewalt … mehrere Delikte kamen da zusammen. Nachdem diese Fälle bekannt worden waren, gab es kaum mehr Widerstand – von ein paar Demonstrationen mit wenigen hundert Teilnehmern abgesehen. Das Volk gewöhnt sich an alles, das zeigt die Erfahrung. Jahrhunderte lang haben Eltern ihre Kinder für den Kriegsdienst hergegeben. Ein Konflikt konnte gar nicht so grausam und unsinnig sein, dass Eltern nicht mitgeholfen hätten, ihn aufrecht zu erhalten. Generationen von Eltern erzählten ihren Söhnen, das sei alles normal, notwendig und wichtig fürs Vaterland. Daran gemessen ist so ein bisschen Fabrikarbeit bei uns wohl human.“

„Was mich aber doch wundert“, wandte ich ein, „ist, dass der Staat dabei zuschaut. Ich meine – das ist jetzt kein Vorwurf, verstehen Sie mich nicht falsch – aber Kinderarbeit war lange Zeit strikt verboten.“

„Der Staat, nun ja …“ Schicklgruber grinste breit, als habe er gerade einen besonders gelungen Witz gehört. „Wenn die Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gegen unsere stehen, raten Sie mal, wer sich dann durchsetzt!“ Und nach einer Kunstpause: „Als Bank sind wir Großarbeitgeber. Wenn sich ein Justizminister oder die Arbeitsministerin tatsächlich gegen uns stellt, müssen wir nur die Folterwerkzeuge herzeigen: Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, höhere Zinsen auf Geld, das wir der Staatskasse leihen … Außerdem ist Reinkulpation Teil eines internationalen Investitionsschutzabkommens. Ein nationales Gesetz, das Kinderarbeit bei Schuldnerwiedergeburten verböte, hätte vor dem internationalen Schiedsgericht keine Chance. Es würde als Einschränkung der Wettbewerbsfähigkeit der Bank umgehend abgeschmettert werden.“

„Wie ist es aber, wenn die Wiedergeburt eines Schuldners nicht greifbar ist, z.B. im fernen Ausland“, fragte ich.
„Versuchen Sie mal, einen Strafzettel, den sie im Ausland kassiert haben, mit der Begründung nicht zu bezahlen, dass Sie Deutscher sind! Sie werden lernen, was internationale Kooperation bedeutet.“ Schicklgruber lachte gönnerhaft. „Aber ich weiß, was Sie meinen. Sie haben Recht, es gibt noch Fälle, die wir nicht verfolgen können. Angesichts der zunehmenden Internationalisierung des Schuld-Tulku-Systems wird es aber immer schwieriger, in einem Nicht-Vertragsland – bisher sind das z.B. Nordkorea oder Bolivien – zu inkarnieren. Die Bank wird ihre Schuldner schon bald überall auf der Welt nach ihrer Geburt abgreifen: von Neuseeland über Afghanistan bis Grönland – keiner entkommt uns.“

Ich bat Milton Schicklgruber jetzt, mir einen konkreten Fall zu schildern, damit ich für meinen Artikel einen roten Faden hätte und Reinkulpation nicht ausschließlich abstrakt darstellen müsse. „Menschliche Schicksale: Blut, Tränen, Sperma – das wollen unsere Leser. Schreiben Sie konkreter, am Einzelfall orientiert!“, hatte mir der Chefredakteur eingeschärft. Ich nannte Schicklgruber sogar einen Namen: Emily. Mit ein paar Klicks in seinem Adressenprogramm hatte der Pressesprecher das Mädchen aufgespürt: Emily Schobert, 10 Jahre. „Süßes Ding“, sagte er und leckte sich dabei genüsslich die Lippen. „Ich kann mich sogar noch daran erinnern, wie die bei uns angekommen ist, und ich erinnere mich angesichts der Vielzahl der Kinder nur selten an ein Einzelexemplar: Hat nicht geweint, nicht geschrieen, nur riesengroße, traurige Augen – wie ein verwundetes Tier, das dem Sieger in einem Kampf seinen Hals hinhält als Demutsgeste. Sie hat sich dem Geschehen ganz hingegeben, widerstandslos. Manchmal glaube ich wirklich, dass schuldige Seelen intuitiv wissen, dass es gerecht ist, was ihnen widerfährt. Genauer gesagt gibt es so etwas wie Ungerechtigkeit eigentlich gar nicht“, schloss er. „Jedenfalls nicht in der Finanzbranche“.

Ich fragte Schicklgruber nach der Vorinkarnation Emilys.

„Sie hieß Heinrich Otto Stracke“, erzählte er, „gestorben 1984 im Alter von 67 Jahren. Erkannt wurde Emily, weil sie nach einem Plüschtier gegriffen hat, den der Suchtrupp mitgebracht hatte: einem Fuchs, der wohl schon diesem Heinrich als Kind gehört hatte. Hier steht, sie habe gerufen „Meins!“ und den Fuchs zärtlich an sich gedrückt. Naja, Kinder sind so wenig berechnend und denken so wenig an die Folgen ihrer Handlungen. Gerade deshalb ist ihr Verhalten ja so aussagekräftig, was frühere Inkarnationen betrifft.“

Mir schoss kurz der Gedanke durch den Kopf, dass Kinder ja gern einmal nach einem Spielzeug greifen und „Meins!“ rufen. Wie, wenn die Bank eine Unschuldige entführt hätte? Wie, wenn Suchtrupps sogar dazu angehalten wurden, eine bestimmte Erfolgsquote zu generieren und der Bank im Zweifelsfall immer ein paar Kinder in den Rachen zu werfen – ob es nun die richtigen waren oder nicht?

Ich drängte meine Gedanken beiseite, denn Schicklgruber hatte weiter gesprochen. „Stracke war ein Journalist und Schriftsteller – naja kein Wunder, dass er hoch verschuldet war. Er nahm bei der Erfurt-Huglfinger Bank 1963 einen Kredit über 5000 Euro auf. Bis zu seinem Tod wuchsen die Schulden dann auf über 37.000 an. Naja, Zins, Zinseszins, Mahngebühren, Gerichts- und Anwaltskosten wegen Rechtsstreitigkeiten, zu denen uns die mangelnde Zahlungsmoral des Herrn Stracke gezwungen hatte.“

„Aber der Vorarbeiter im Werkraum sagte mir, Emily habe 700.000 Euro Schulden.“

„Naja …“, antwortete Schicklgruber in einem Tonfall, der signalisierte, dass ihn so viel Unwissenheit meinerseits offenbar amüsierte. „Seitdem sind 30 Jahre vergangen, 20 Jahre im Jenseits und 10 Jahre seit sich dieser Heinrich wieder inkarniert hat. Die Zinsen sind in der Zeit natürlich weiter aufgelaufen, und der Schuldendienst kommt bei Toten ja völlig zum Erliegen. Die Babyjahre sind natürlich für die Bank ebenfalls ein Totalausfall. Emily ist erst seit etwa 4 Jahren für leichtere Arbeiten voll einsatzfähig.“ Schicklgruber zeigte mir eine einfache Zinstabelle, die die Entwicklung der Schuldsumme seit dem Jahr 1963 genauestens dokumentierte. Demnach hatte Heinrich Otto Stracke nach 10 Jenseitsjahren 96.000 Euro Schulden bei der Bank, zum Zeitpunkt seiner Inkarnation als Emily Schobert 249.000 Euro und im zehnten Lebensjahr 710.000.

„Aber seit sie 6 geworden ist, war die Schuldensumme ja wieder rückläufig“, wandte ich ein. „Wann wäre dann völlige Schuldenbefreiung erreicht?“ Der Gedanke, dass die Zeit der Kinderarbeit, so schlimm sie für Emily auch war, irgendwann ihr Ende haben würde, hellte meine düsteren Gedanken für einen Moment auf.

„Naja, von einer völligen Schuldbefreiung kann eigentlich keine Rede sein. Lediglich von einem Abbremsen des Schuldenwachstums. Emily erhält derzeit 800 Euro monatlich für ihre Arbeit am Fließband, mehr können wir bei einer Arbeiterin mit so schwachen Kräften beim besten Willen nicht zahlen. 600 Euro gehen weg für Verpflegung und Unterkunft im Wohnheim. Bleiben 200 Euro monatlich an Zinszahlungen – an Tilgung kann man bei ihr ohnehin noch nicht denken. Die Schuldsumme dagegen wächst monatlich um ca. 6000 Euro. Derzeit. Die Tendenz ist steigend. Nehmen wir also an, Emily würde das Alter von 60 Jahren erreichen, was bei dem Leben, das sie hier führt, freilich unwahrscheinlich ist: Sie würde der Bank dann 86 Millionen Euro schulden.“

Ich wollte etwas einwenden, was gegenüber dem Pressesprecher wie ein Vorwurf geklungen hätte. Doch ich schluckte meine kritische Anmerkung herunter. Milton Schicklgruber trug alles, was er sagte, mit einem derart unerschütterlichen Selbstbewusstsein vor, dass ich mich lieber nicht auf ein Streitgespräch einließ, wollte ich nicht riskieren, in diesem Konflikt kläglich zu unterliegen. Nur eines wollte ich noch gern von ihm wissen: „Aber, ich bitte Sie, 3,8 Milliarden Euro – wie solle Emily das jemals zurückzahlen?“

„Naja …“, leitete Schicklgruber auch diesmal seine Antwort ein. „Sie wird sich ja wieder inkarnieren. Und so weiter und so weiter. Man kann also zusammenfassen, dass die gesamte kosmische Biografie, diese unabsehbare Aneinanderreihung der tausend Tode und der tausend Leben, bei unseren Kindern ganz dem Schuldendienst unterworfen sein wird. Wobei die Schuld ungeachtet aller Anstrengung, sie zu tilgen, ins Unermessliche anschwellen wird. Der Schuldner gleicht einem Ertrinkenden, der versuchte, in einem Wasserstrudel, der ihn in die Tiefe reißt, nach oben zu schwimmen. Es wird also Babys geben, Föten eigentlich, die schon während sie im Mutterbauch heranwachsen, ganz und rettungslos der Schuld angehören. Und auch die Zahl der Menschen, deren gegenwärtiges, nächstes und übernächstes Leben auf diese Weise ganz der Schuldentilgung geweiht sind, wird immer weiter anwachsen, denn die wirtschaftliche Großwetterlage verdüstert sich ja, wie wir alle den Nachrichten entnehmen können.

Und immer schwerer wird es für den Einzelnen werden, vom Absturz in die Tiefe verschont zu bleiben, wo der Stürzende dann von unseren Armen aufgefangen wird. Die Bank ist wie eine große Mutter für die Menschen, aber eine, die nicht gibt, sondern beständig nimmt, die ihre Kindern nicht säugt, sondern beständig selbst an ihnen saugt und die – im Weitersaugen – nach immer noch mehr Blut und Kraft und Lebensfreude der ihr Unterworfenen schreit. Alles fällt, wir aber steigen. Alles nimmt ab, wir aber schwellen und nähren uns von ihren geopferten Leben. Alles stirbt: Das Gras auf der Weide stirbt; die kleine Katze, die du lieb hattest, sie stirbt; und auch du wirst sterben, nur die Schuld – sie ist unsterblich. Gott ist tot, sagte Nietzsche sehr zutreffend. Aber er sagte nicht, wer nach seinem Ableben seinen Platz einnehmen werde. Heute wissen wir es: die Schuld.

Schicklgruber schwitzte. Offenbar hatte ihn diese rhetorisch zugegebenermaßen brillante Rede angestrengt. Ich war sprachlos, musste vor der überwältigenden inneren Stimmigkeit des von der Erfurt-Huglfinger Bank geschaffenen Systems kapitulieren. Gab es denn wirklich nichts, das dieses Schuldsystem in seiner gnadenlosen Logik überwinden könnte?

Als hätte der Pressesprecher meine Gedanken gelesen, fügt er hinzu: „Das einzige, was wir wirklich befürchten müssen, wäre vollständige Erleuchtung: der Ausstieg aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten, wie er etwa durch intensive buddhistische Schulung zu erreichne ist. Aber“ – das raubtierhafte Lächeln trat wieder in Schicklgrubers Gesicht – „haben Sie irgendwo in der Werkhalle jemanden gesehen, der eine buddhistische Schulung durchläuft? Ich nicht! Erleuchtung ist zeitaufwändig und kostet Geld. Beides haben unsere Schuldner nicht, weil die Arbeit in der Waffenfabrik all ihre Energie frisst. Sie können nach Feierabend eigentlich nur noch eine Mahlzeit hinunterschlingen und müde in ihre Schlafkojen kriechen. Erleuchtung, das ist etwas für Leute, die sich lange Meditationsretreats in schmucken Seminarhäusern in ländlicher Atmosphäre leisten können – mit drei vollwertigen Mahlzeiten am Tag. Haben Sie mal Jonathan Sundays Buch ‚Jenseits der Schwelle – Botschaften aus dem Zwischenreich des Lichts‘ gelesen?“

Ich verneinte.

„Das sind gechannelte Texte von Seelen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen des Jenseits aufhalten. Und wissen Sie, wer da in den höheren Regionen, dort wo es schön und paradiesisch ist, sitzt? Ehemalige Anwälte, Chefärzte, Börsenanalysten – alles Leute, die im Leben recht vermögend waren. Da finden Sie keinen Hartz IVler, keine allein erziehende Mutter, keinen freiberuflichen Journalisten. Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, aber die können sich die ganzen erleuchtungsbeschleunigenden Kurse doch gar nicht leisten!“ Schicklgruber brach unwillkürlich in ein glucksendes Lachen aus, das entgegen seiner Gewohnheit völlig unbeherrscht aus ihm heraus brach.

Er brauchte eine Weile, um sich zu fangen. „Also: Wie unten, so oben – lautet so nicht die erhabene esoterische Weisheit des Hermes Dingsbums? Ich möchte diesen Spruch wie folgt abwandeln: Wer unten oben war, wird auch oben oben bleiben – schön ausgedrückt, nicht? Die Kirchen haben uns andauernd betrogen – von wegen ‚Du sollst Schätze im Himmel sammeln nicht auf Erden‘. Das eine bedingt das andere, verstehen Sie?“

An dieser Stelle verabschiedete mich Schicklgruber mit dem Hinweis auf noch anstehende Termine und tätschelte dabei meinen Arm wie bei einem Freund, mit denen er ein Geheimnis teilte. Er wies mich noch auf die Möglichkeit hin, die Unterkünfte der Kinder zu besichtigen und nannte mir die Zimmernummer von Henriette Hohse, die mir alles erklären könne.

Im dritten und abschließenden Teil dieser Geschichte erfahren Sie morgen: Wie verlief die Begegnung unseres Helden mit Henriette Hohse? Wie verbringen Schuldenkinder ihre Freizeit? Und wie erging es der kleinen Emily weiter?

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