Richard Rohr: Das Leben ist pure Präsenz

 In FEATURED, Politik, Spiritualität

Richard Rohr, Bildquelle: Wikipedia

“Um dauerhaft Glück und Frieden für uns und unsere Mitmenschen zu erreichen, müssen wir sehen lernen wie die Mystiker aller großen Religionen, die zu allen Zeiten wussten: Alles ist eins, das Leben ist pure Präsenz.” Der Franziskaner-Pater Richard Rohr, u.a. Bestsellerautor und Leiter von Männergruppen, scheint sehr dem kontemplativen Leben zugewandt. Dem Streit, der Wortklauberei der Konfessionen um das einzig wahre intellektuelle Konzept stellt Rohr die Besinnung auf den mystischen Kern aller Religionen gegenüber. Spiritualität hat eher etwas mit dem Sein als mit “richtigem” Handeln und Glauben zu tun. Derselbe Richard Rohr wurde in den 80ern während einer Demonstration gegen die atomare Rüstung vor dem Capitol in Washington verhaftet. Wie gehen diese beiden Facetten seiner Persönlichkeit zusammen? Sie treffen sich vor allem in der Forderung nach absoluten Gewaltlosigkeit im Wissen um die Kostbarkeit des Lebens und die tiefere Einheit von allem.  Roland Ropers

In seinem Buch „Mystiker unserer Zeit im Porträt“ – erhältlich im Sturm-und-Klang-Shop – beschreibt Roland Ropers 75 spirituelle Persönlichkeiten. Er skizziert ihre Lebensläufe und zitiert zentrale Aussagen aus ihren Werken. Dabei überwindet der Autor nicht nur die Grenzen zwischen den Religionen, indem er z.B. Mystiker mit christlichem, buddhistischem und hinduistischem Hintergrund porträtiert – er beleuchtet auch u.a. den Weg eines Rainer Maria Rilke, Leonard Bernstein, Martin Luther King oder des Physikers Hans-Peter Dürr. Es entsteht der Eindruck, dass Gottberührung überall und auf sehr verschiedenen Wegen geschehen kann.

Die Weitergabe von lebendiger religiöser Erfahrung ist heute im christlichen Raum, zumindest in Europa, durch Unkenntnisse, Missverständnisse, Spaltungen und existenzielle Widersprüche zu einer Ausnahmeerscheinung geworden. Dabei fehlt es in der Welt durchaus nicht an Religion. Aber es fehlt an authentischer Spiritualität und an einer geerdeten Weisheit, die sich aus der Quelle eines bewussten Lebens speist, das sich an den großen Religionen orientiert.

1982 ging ein Foto eines Franziskaners in Kutte und Handschellen durch die Presse. Es war Richard Rohr, der gemeinsam mit 242 anderen im Capitol von Washington verhaftet wurde. Ihr Vergehen war die Abhaltung einer Mahn- und Gebetswoche gegen die atomare Rüstung und die Unterstützung totalitärer Regimes in Lateinamerika durch die USA. Für viele orthodoxe Katholiken war der am 20. März 1943 in Topeka, Kansas, geborene Rohr zu einer fragwürdigen Person geworden. Für ihn selbst war es lediglich die letzte Konsequenz aktiver Kontemplation und franziskanischer Gewaltlosigkeit in einer Welt, die von einer übermächtigen Männlichkeit dominiert wird und in den Abgrund zu geraten droht. Richard Rohr gehört zu den erfahrenen Wegbereitern einer globalen spirituellen Erneuerung. Er ist Gründer der Lebensgemeinschaft New Jerusalem in Cincinatti und des Zentrums für Aktion und Kontemplation in Albuquerque, New Mexico. Seine zahlreichen Bücher sind millionenfach erschienen und einige Dutzend Sprachen übersetzt. 1961 trat er in den Franziskanerorden ein und fühlte sich sehr durch den legendären Trappistenmönch Thomas Merton inspiriert. 1994 erhielt Richard Rohr den Thomas Merton Award for Peace and Social Justice.

Man muss zu den verborgenen Dingen vordringen, um zu verstehen, worum es eigentlich geht. Mit Formen meine ich Sakramente, die Dogmen, die Bibel. Das alles sind externe Wegweiser. Die meisten Menschen scheinen aber mit dem Wegweiser zufrieden zu sein. Ich wundere mich, dass viele Menschen, nicht nur die Christen, sondern auch in anderen Religionen, die Inhalte durch den Behälter ersetzen. In unserer Gesellschaft gibt es aber auch Menschen, die statt mit den Behältern, also mit den Formen und Konfessionen, mit einer selbstgebastelten Lebensphilosophie ihr Leben besser leben können als in einer Glaubensgemeinschaft. Das trifft unglücklicherweise für einen großen Teil im säkularisierten Europa zu. Sie sind unzufrieden mit den Formen, gehen aber auch nicht wirklich auf eine spirituelle Suche nach der tieferen Bedeutung dieser Formen. Da ist eine Leere, die man bei vielen westlichen Menschen sieht. Sie haben die traditionellen Formen aufgegeben, haben aber noch nichts anderes gefunden. Dann kommt etwas anderes, das an diese Leerstelle tritt. Meistens ist das Konsumismus, Materialismus oder auch Irrationalismus. Irgendein Ismus wird dann ihre de Facto-Religion. Manchmal werden die Leute auch esoterisch, wobei Esoterik nicht immer schlecht sein muss, insofern sie ein Anfang sein kann, um spirituelle Erfahrungen zu mache, und sie führt dann auf eine Reise in die Kontemplation. […] Ein kontemplatives Leben ist ein Leben der Achtsamkeit für das, was ist. Es beginnt mit einer natürlichen Dankbarkeit für die außergewöhnliche Tatsache meines Daseins. Diese natürliche ursprüngliche Religiosität ist das Fundament, auf das eine bestimmte konfessionelle Überzeugung authentisch aufbauen kann. Es geht, vereinfacht, darum, eine positive Haltung zum Leben zu haben, die aus der Erfahrung folgt, dass ich mich nicht gemacht habe und mein Leben mir jeden Tag neu geschenkt ist. […] Wenn man auf das katholische und evangelische Christentum schaut, sieht man, dass große Teile darauf versessen sind, die intellektuell richtigen Glaubenssätze zu haben, die moralisch korrekten Vorstellungen. Man glaubt zu wissen, welche Menschen in den Himmel kommen und welche nicht. Das ist rein konzeptionell und verlangt nichts von der eigenen Seele. Ich bin davon überzeugt, dass man Gott erfahren kann, sogar ohne an ihn zu glauben. Ich kenne viele säkulare Menschen, die in Gemeinschaft, Verbindung und Mitgefühl mit der Realität leben. Sie sind mit einem Frieden in Verbindung, die sie nicht Gott nennen, der aber viel stärker ausstrahlt als von vielen Katholiken, die jeden Sonntag zur Messe gehen und die trotz ihres vermeintlich richtigen Glaubens, von sich selbst, von der Welt und den Menschen abgespalten sind. […]

Wir müssen heute lernen, nicht-dual zu denken. Beim dualistischen Denken teile ich das Feld, das vor mir liegt. Du akzeptierst den Teil, den du magst und verstehst. Aber du eliminierst den Teil, den du nicht magst oder nicht verstehst. Ich mag dies, jenes aber nicht. Was wir alle machen, wenn wir die Kontrolle behalten wollen, ist, dualistisch zu denken. Und wir positionieren unser Ego auf die positive Seite. „Mein Land ist das beste, meine Religion steht über anderen.“ Das ist der Lauf unserer Geschichte. Diese Trennung schafft Gewalt. Wenn du dualistisch bist, dann wirst du notwendigerweise gewalttätig, wenn nicht physisch, dann zumindest psychisch. Denn du wirst das hassen und dich von dem trennen, was du nicht magst. Wenn du aber die ganze Wirklichkeit akzeptierst, wie sie ist, wirst du nichts ausgrenzen müssen. Du musst weder dich selbst noch andere hassen. Du musst keinen anderen Menschen, keine Religion oder Kultur herabsetzen. Das ist zentral, wenn das Christentum Gewaltlosigkeit verstehen will. […]
Religion mit hohem Niveau zerstört das dualistische Denken absolut. Religion auf einem niedrigen Niveau ist mehr ein Problem als eine Lösung.

Als junger Kaplan hatte Rohr bei Pueblo-Indianern gearbeitet. Dort war ihm aufgefallen, wie wichtig die Initiationsriten für pubertierende junge Männer sind. Sie verschwinden zusammen mit den älteren Männern eine Zeit lang im Wald, wo sie unter anderem in der Einsamkeit fasten und beten. Von den älteren Männern werden sie in die spirituellen Traditionen des Stammes eingeführt. Sie erhalten einen neuen Namen. Nach dieser Phase kehren sie als erwachsene Männer ins Dorf zurück und dürfen künftig an allen Entscheidungen des Männerrats teilhaben. Richard Rohr kam zu dem Schluss, dass eine ähnliche Erfahrung jungen Männern der westlichen Zivilisation fehlt. So entwickelte er eine fünftägige Seminarform für Männer, die er Passage-Riten nannte. Bis zu 150 Männer aller Altersgruppen kommen bei diesen Seminaren zusammen – meist in einer ländlichen Umgebung, in der Wüste oder im Wald. Durch Vorträge, Gruppenarbeit, Rituale, gemeinsames Trommeln und Zeiten der Einsamkeit und Meditation gehen sie einen Weg, den viele Teilnehmer im Nachhinein als überaus heilsam beschreiben. Sie finden dabei häufig einen tieferen Zugang zu sich selbst und auch einen neuen Zugang zu Gott. Biblische Texte wie 1 Korinther 13 oder die Geschichte vom Verlorenen Sohn gehören zu den Leitplanken dieses Prozesses.

Das Wesen aller wahrhaften Religion und Spiritualität besteht weder in Bekenntnissen zu irgendwelchen Lehraussagen noch im Befolgen bestimmter Moralvorschriften. Nicht das Anhäufen von Informationen führt zu echter Erkenntnis, sondern eine neue Sichtweise: Im Zustand des Einsseins, im Hier und Jetzt, im reinen Dasein sind das Wahre und das Falsche, das Gute und das Böse, Gott und Mensch nicht länger absolute Gegensätze. Indem wir das dualistische Denken überwinden und lernen, auch mit Paradoxien zu leben, können wir die starren Grenzen auflösen, die immer wieder zu Fundamentalismus und Gewalt führen. Um dauerhaft Glück und Frieden für uns und unsere Mitmenschen zu erreichen, müssen wir sehen lernen wie die Mystiker aller großen Religionen, die zu allen Zeiten wussten: Alles ist eins, das Leben ist pure Präsenz.

(Originalzitate aus: Richard Rohr, Das Wahre Selbst. Werden, wer wir wirklich sind. Übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz © Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br. 2016)

Roland R. Ropers:

Mystiker und Weise unserer Zeit

Verlag topos premium

304 Seiten, € 20

Anzeigen von 2 Kommentaren
  • Bettina
    Antworten
    Einer der  besonderen Artikel, die ich am HdS so schätze. Vielen Dank.

    Das Wahre Selbst. Werden, wer wir wirklich sind.
    (Richard Rohr)

    Ich glaube, das ist unsere eigentliche Lebensaufgabe. Das wahre selbst zu finden ist nicht immer einfach. Es erfordert den reflektierenden Blick in den Spiegel. Manches reflektiert schmeichelnd zurück, doch was ist mit den unschönen Anteilen in uns, die wir am liebsten verstecken würde? Wie gehen wir damit um? Wie gehen wir mit diesem Teil von uns selber um? Gestehen wir uns  Nachsicht, Milde mit uns selbst? Erst wenn wir uns als nicht perfektes Wesen akzeptieren, als einen Menschen mit Licht- UND Schattenseiten, wird es uns gelingen, so zu sein und zu leben, wer wir wirklich sind:

    Fehlbar, doch dafür lebendig und mit uns selbst im Einklang.
    .
    René Aubry – La Grande Cascade
    https://youtu.be/qWVdS9tMuVE

  • Bettina
    Antworten
    P.S. Mitunter zeigt uns  der weniger repräsentative, schwache und zerbrechliche  Teil in uns genau die Weichen auf, die wir umstellen müssen, um mit uns im Einklang leben zu können.

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