Riskanter Volksaufstand

 In FEATURED, Politik (Ausland)

Gedanken zu aktuellen Ereignissen im Iran und zum Status des Iran in der gegenwärtigen Weltordnung[1]  “Wenn versäumt wird, die Notwendigkeit einer Änderung der internen Strukturen Irans anzuerkennen und wenn stattdessen – wie das Regime selbst es praktiziert – die militärische Stärke des Iran in der Region überbewertet und dem Sachverhalt große Bedeutung beigemessen wird, dass alle amerikanischen Militärstützpunkte im Mittleren Osten in der Reichweite der iranischen Raketen stehen, kann das angesichts der in den Augen der iranischen Bevölkerung schwindenden Legitimität der Islamischen Republik zu internem Chaos und zum Zerfall des Iran führen. Die Ignorierung der Position des Iran in der Region als bedeutendem Faktor regionaler Stabilität und die Beschränkung der Reformen auf die inneren Strukturen des Landes können andererseits dazu führen, dass ausländische imperialistische Mächte die berechtigten Forderungen der Menschen im Iran missbrauchen, um die Spaltung des Landes voranzutreiben.” Mohssen Massarrat

 

Vorbemerkung

Im September 2022 hat die iranische Bevölkerung erneut einen Aufstand gegen die Islamische Republik gestartet. Mit bewundernswertem Mut und Beharrlichkeit und ohne sich von den Repressionen des Regimes einschüchtern zu lassen, werden Protestaktionen in allen Teilen des Landes abgehalten.

Einige Organisatoren der Proteste, die sich als „Straßen Leader“ (liderha-ye meydani) bezeichnen, haben in ihrem ersten Manifest ihre Beweggründe und politischen Anliegen beschrieben. Die Autoren dieses Dokuments haben verkündet, dass sie in eine völlig neue Phase des Kampfes eingetreten sind und mit Hilfe der modernen Informationstechnologien einen Weg gefunden haben, der im Kampf gegen die Repressionen des Regimes wirkungsvoll sein wird.

Die „Straßen Leader“ haben in ihrer ersten Erklärung die Funktionsweise dieser neuen und kreativen Bewegung wie folgt beschrieben:

  1. Wir werden unseren Weg bis zum Sieg fortsetzen, weil wir an unsere berechtigten Forderungen und an unsere Macht glauben.
  2. Die neue Revolution im Iran hat keinen bestimmten Anführer. Die Wurzeln unserer Ideale finden sich in den alten Mythen des Iran. Wir sind Arash, Shiva, Tir und Rostam-e Dastan im Gewand der digitalen Generation.
  3. Wir benutzen eine dezentralisierte Organisationsweise. Wir schlagen vor, dass in allen Stadtteilen lokale Komitees gebildet werden.
  4. Eine nationale Armee des Iran ist dabei, sich herauszubilden.
  5. Obwohl die Revolution (eigentlich der Aufstand, M.M.) auch eine Genderbewegung ist, in der die Frauen eine wichtige Rolle spielen, bleibt das bestimmende Merkmal, dass sie eine genderübergreifende, altersübergreifende, transregionale und transethnische Bewegung ist, weshalb man nicht von einem rein feministischen Aufstand sprechen sollte. Aus diesem Grund haben die „Straßen Leader“ dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ einen weiteren Slogan, nämlich „Mann, Heimat, Fortschritt“, zur Seite gestellt.

Im Weiteren unterbreiten die „Straßen Leader“ im Iran den Auslandsiranern Vorschläge in Bezug auf die Außenpolitik und den Öl- und Gashandel. Da diese jedoch meiner Meinung nach weniger wichtig und unpräzise sind, berücksichtige ich sie hier nicht weiter.

Nun möchte ich auf zwei Problemlagen in dem Manifest hinweisen: Erstens äußern sich die “Straßen Leader” nicht klar genug zu ihren politischen Vorstellungen bezüglich der Gewaltanwendung  bei  Auseinandersetzungen  mit den Sicherheitskräften und der Bassijimiliz des Regimes. Diese Unklarheit könnte das Anliegen der Bewegung beeinträchtigen, ja sogar die Bewegung zu einem Bürgerkrieg führen. Jede Art von Gewaltanwendung seitens der Protestierenden, insbesondere der Ausbruch eines Bürgerkriegs, würde den Machthabern in die Hände spielen. Auch würde sie das Risiko einer Intervention ausländischer Mächte, insbesondere der Vereinigten Staaten und Israels, erhöhen. Die „Straßen Leader“ sollten daher eine dem Kräfteverhältnis angemessene Strategie entwickeln. Aus meiner Sicht sollte bei den Konfrontationen mit dem Machtapparat des Regimes nicht auf Gewalt, sondern auf Gewaltverzicht und zivilen Ungehorsam gesetzt werden. Berühmte Protestanführer wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela könnten der iranischen Bürgerbewegung als historisches Vorbild dienen. Es ist zu hoffen, dass die Landsleute, denen am inneren Frieden im Iran gelegen ist, sich diesen Vorbildern zuwenden.

Um die Fortdauer und den Erfolg der Bürgerbewegung zu gewährleisten, sollte auf verständliche, jedoch riskante Maßnahmen verzichtet werden. So ist  m.E. die Idee der Bildung einer nationalen Armee und deren Einsatz hoch riskant und kontraproduktiv. Denn im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung werden ohne jeden Zweifel Regimeanhänger in Millionenstärke unverzüglich mit vollem Einsatz die Islamische Republik mit dem Gewehr verteidigen, um ihre Privilegien zu schützen. In der Idee der Bildung einer „nationalen Armee“ ist daher der Keim eines Bürgerkriegs bereits angelegt. Die „Straßen Leader“ haben hier eine große Verantwortung, denn es besteht die Gefahr, dass durch ihre Forderung nach der Bildung einer „nationalen Armee“ die heute friedliche Bürgerbewegung ihre Legitimität teilweise oder ganz einbüßt.

Zweitens: Es ist absolut notwendig, die territoriale Integrität unseres Landes zu schützen. Um diesbezüglich keinen Raum für Zweifel zu lassen, sollten die „Straßen Leader“  gegen die nationalistischen Separatisten und ihre internationalen Unterstützer klar Position beziehen und deutlich machen, dass die Bürgerbewegung in erster Linie eine nationale Bewegung ist, die in allererster Linie das Ziel verfolgt, demokratische Verhältnisse in ganz Iran herzustellen und die Wirtschaft in allen Regionen Irans zu fördern.

Nach dieser Einführung möchte ich in aller Kürze eine Einschätzung über die Natur dieser neuen zukunftsweisenden Bürgerbewegung,  und zwar unter Berücksichtigung der Entwicklung innerhalb von Iran und der Folgen für die globale Ordnung, formulieren.

1. Die Lage der Islamischen Republik im Iran

Ohne jeden Zweifel kann festgestellt werden, dass die Führung der Islamischen Republik ihre Reformfähigkeit längst vollständig eingebüßt hat. Das Regime sieht keinerlei Bedarf für eine Änderung seiner Politik und verliert mit seiner nicht nachvollziehbaren Beharrung auf dem status quo zunehmend seine Legitimität. Deshalb sind lediglich die Opportunisten und Nutznießer der verschiedenen Privilegien heute die alleinige Stütze der Islamischen Republik Iran. Der beklagenswerteste und aufschlussreichste Beweis für den Legitimitätsverlust des Regimes ist die absurde und haltlose Behauptung, dass die iranische Bürgerbewegung von Amerika und Israel gesteuert wird. Eine solche Behauptung ist die größte Respektlosigkeit gegenüber dem Großteil des iranischen Volkes, das seine Geduld verloren hat und nicht mehr bereit ist, das Unrecht, die Korruption und eine riskante und kostspielige Wirtschaftspolitik zu ertragen, die der Mehrheit der Bevölkerung schadet und nur wenigen, dem Regime nahestehenden Opportunisten und Reichen nutzt. Daher beteiligt sich die Mehrheit des Volkes entweder direkt an der Bürgerbewegung oder zeigt seine Empathie und Solidarität mit den Protestierenden durch sein Verhalten im täglichen Leben.

Die iranische Wirtschaft ist eine importorientierte, strukturell unkreative und der nationalen Produktion feindlich gesinnte Wirtschaft. Das Regime spricht zwar von der Notwendigkeit der Schaffung einer nationalen Produktion, hat aber, obwohl es die absolute Macht besitzt, bis jetzt keine wirksame Initiative auf diesem Gebiet unternommen. Es ist davon auszugehen, dass die iranische Führung die Schaffung eines produktionsorientierten Wirtschaftssystems fürchtet, weil in diesem Fall ihre soziale und finanzielle Basis, nämlich das Handelskapital und dessen Besitzer, die wiederum Verbündete der religiösen Diktatur sind, geschwächt werden könnte. Deshalb versucht das Regime, mit inhaltsleeren Parolen das Fortbestehen des status quo zu rechtfertigen. Die Regierungen aller Systemtreuen Fraktionen innerhalb der islamischen Republik haben versucht, durch Abgabe eines Teils der Renteneinnahmen aus Öl- und Gasexporten, Ihre Fortexistenz zu legitimieren. Sie haben auch die Illusion verbreitet, dass sich nach der Einigung über das iranische Atomprogramm die ökonomische Lage für die Bevölkerung drastisch verbessern würde. Nachdem jedoch die Quellen der Renteneinnahmen des Staates sich dramatisch erschöpften, die Aussicht auf versprochene Pfründe im Zusammenhang mit dem Atomabkommen verschwand und stattdessen die letzten Regierungen der Bevölkerung  50 bis 100 prozentige Inflation bescherte, verlor die große Mehrheit der Menschen jede Hoffnung auf eine bessere menschlichere Perspektive.

Auch die spürbare Umweltverschmutzung, insbesondere in den großen Städten des Iran, ist inzwischen unerträglich geworden, sie beeinträchtigt massiv das Recht der Menschen auf einen gesunden Lebensraum. Wären die Menschen bereits an diese Situation gewöhnt, könnte allein schon die zerstörte Umwelt eine wichtige Motivation für den landesweiten Aufstand gegen die volksfeindliche Politik der Islamischen Republik sein.

2. Die Stellung der Islamischen Republik in der globalen Ordnung

Die Islamische Republik und der Iran existieren nicht in einem regionalen und globalen Vakuum. Die imperialistischen Länder, allen voran die Vereinigten Staaten, Israel und deren arabische Verbündete, versuchen, die mächtigen Länder der Region massiv zu schwächen und sie nach Möglichkeit zu zerschlagen, vorgeblich aus Sorge um ihre nationale Sicherheit. Der Zusammenbruch des Irak, die Zerstörung der Zentralmacht in Libyen und der Ausbruch eines Bürgerkriegs in diesem Land, der Versuch, das Assad-Regime in Syrien zu stürzen und schließlich die Schaffung eines aus schwachen Kleinstaaten bestehenden Großraums Mittlerer Osten, wie ihn sich die Amerikaner wünschen, all dies sind unbestreitbare Tatsachen.

Es steht jedoch außer Zweifel, dass die unipolare Weltordnung unter dem Banner der USA im Begriffe ist, zusammenzubrechen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA die größte Weltmacht, die über sämtliche Hebel einer Hegemonialmacht verfügte. Während des Kalten Krieges übernahmen die Vereinigten Staaten mit der Bildung der NATO die Führung des westlichen Lagers und brachten die großen imperialistischen Länder wie Deutschland und Japan dazu, ihre Hegemonialinteressen zu unterstützen. So verfügten sie bis zum Ende des letzten Jahrhunderts die Hegemonie im gesamten Globus. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufstieg der Republik China wurde erstmalig die absolute Vorherrschaft der Vereinigten Staaten von Amerika ernsthaft in Frage gestellt. Heute löst sich das amerikanisch dominierte unipolare System, das für die Mehrheit der aufeinanderfolgenden Kriege in Vietnam in den 1960er Jahren, auf dem Balkan in den 1990er Jahren bis hin zu den Kriegen im Mittleren Osten zu Beginn dieses Jahrhunderts verantwortlich ist, unaufhaltsam auf. Genau aus diesem Grund sind die Vereinigten Staaten dabei, trotz ihrer internen Instabilität zu einer gefährlichen Bedrohung für den Weltfrieden zu werden. Mit dem Ziel, die sich dem Ende zuneigende Ära ihrer Vorherrschaft um einige Jahrzehnte zu verlängern, versuchen die USA mit aller Entschlossenheit, die Annäherung ihrer politischen und wirtschaftlichen Verbündeten, insbesondere der Europäischen Union, an Russland und die Republik China zu verhindern. Der Beginn des Ukraine-Krieges durch Putin – sein größter Fehler während seiner Amtszeit –, drängte die Idee der Schaffung eines Europäischen Hauses von Wladiwostok bis Lissabon, wie es Michail Gorbatschow im Rahmen der regionalen Friedensstrategie der Sozialdemokraten unter Willy Brandt vorgeschlagen hatte, um zwei, drei Jahrzehnte zurück. Die Volksrepublik China unternimmt jedoch gezielt Schritte zur Transformation der unilateralen Weltordnung hin zu einer multilateralen Welt mit dem Ausbau umfassender wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zur Europäischen Union, zu Japan und zu Südkorea, also zu den gegenwärtigen Verbündeten der USA.

Der Blick nach Osten

Mit dem Projekt Neue Seidenstraße mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit,  den BRICS-Staaten und der Schaffung unabhängiger Finanzinstitute und Banken als Alternative zu westlichen Finanzinstitutionen wie die Welthandelsorganisation, dem Internationalen Währungsfond und der Weltbank, die von den USA kontrolliert werden, hat die Volksrepublik China bisher bei der Veränderung globaler Kräfteverhältnisse große Erfolge erzielt. Der Iran mit seiner besonderen geopolitischen Lage kann und soll, gemeinsam mit anderen Ländern der Region, wie der Türkei, Russland und Indien, seine nationalen Interessen  wirkungsvoll vertreten. In dieser Perspektive ist die Orientierung nach Osten eine an sich richtige Politik der Islamischen Republik. Da die Islamische Republik jedoch in den Augen der Bevölkerung Irans stark an Legitimität verloren hat, ist zu befürchten, dass die führenden Köpfe es in Kauf nehmen, zu Vasallen Russlands oder der Volksrepublik China zu werden, um ihre Macht im Iran zu erhalten. Die nationalen Interessen des Iran erfordern jedoch, dass der Blick nach Osten nicht dem Ausbau der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen zur westlichen Welt, insbesondere zur Europäischen Union, zu Japan und Südkorea, im Wege steht. Im Zuge der Transformation der Weltordnung werden auch die westlichen Länder, allen voran die Europäische Union, die derzeit unter dem Joch der amerikanischen Hegemonie stehen, ihre volle ökonomische und sicherheitspolitische Souveränität gegenüber den Vereinigten Staaten zurückgewinnen. In einer multipolaren Weltordnung könnte die Europäische Union selbst als zweiter oder dritter unabhängiger Player mit der Weltwährung Euro eine neue und starke Position einnehmen. Deshalb sollte der Iran trotz der Orientierung nach Osten die Ausweitung seiner Beziehungen zur Europäischen Union und zu anderen Verbündeten der USA, in einer späteren Phase auch zu den Vereinigten Staaten selbst, keinesfalls vernachlässigen. Es ist notwendig, dass der Iran sein ganzes strategisches und wirtschaftliches Gewicht einbringt, um – wie China, Indien und neuerdings auch Indonesien – bei der Wahrung seiner nationalen Interessen und bei der Schaffung von Wohlstand und Unabhängigkeit von seiner Beziehung zu allen Staaten und Lagern profitieren zu können.

Regionale Sicherheitspolitik am Scheideweg

Aufgrund seiner unbestreitbar wichtigen strategischen Lage muss der Iran seine Beziehungen zu seinen Nachbarn im Sinne der Politik guter Nachbarschaft neu ordnen, er kann und muss dabei sogar eine Schlüsselrolle bei der Verteidigung seiner nationalen Interessen und der Schaffung regionaler Stabilität übernehmen. Der Islamischen Republik ist es jedoch nicht annähernd gelungen, eine solche Rolle zu spielen.

Für die iranische Regionalpolitik gibt es meiner Ansicht nach mindestens zwei grundsätzlich unterschiedliche Optionen: Die eine besteht in der Kooperation und der Schaffung Gemeinsamer Sicherheit in der Region gemäß dem Vorbild der Europäischen Union. Voraussetzung dafür ist die Schaffung eines Raumes, der frei von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von Atomwaffen, ist. Um dies zu erreichen, müsste Israel international angeprangert und überzeugt werden, für seine eigene Sicherheit an gemeinsamen Projekten im Mittleren und Nahen Osten zu partizipieren. Diese Option hätte den Vorteil, friedlich und nicht mit enormen Kosten und großem Schaden für den Iran und anderen Ländern in der Region verbunden zu sein. Darüber hinaus würde sie zur Schaffung stabiler regionaler Stabilität beitragen.

Leider hat die Islamische Republik eine solche Strategie von Anfang an ignoriert. Stattdessen wählte sie die zweite kostspielige Strategie der militärischen Stärke und ging mit der Idee des Ausbaus der nuklearen Fähigkeiten des Iran auf Konfrontationskurs zum Rest der Welt. Bedauerlicherweise hat die Kultur der friedlichen Zusammenarbeit und des Konzepts der Gemeinsamen Sicherheit in den diplomatischen Kreisen der Islamischen Republik keine breite Basis, obwohl diese Alternative die besten Voraussetzungen für eine wirkungsvolle und friedliche Regionalpolitik bieten würden. Der einzige erfolgreiche Ansatz in diese Richtung resultierte aus den überschaubaren Forschungen über regionale Kooperation und gemeinsame Sicherheit für Iran, die in die Hormuz-Initiative durch die Rohani-Regierung auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2019 einmündete. Gemäß diesem Vorschlag, der als eine positive, produktive und zukunftweisende Grundlage für die Regionen am Persischen Golf, aber auch für den ganzen Mittleren Osten angesehen werden kann, sollten allein die Anrainerstaaten des Persischen Golfs für die Sicherheit des Persischen Golfes verantwortlich sein. Der Autor dieses Textes hat selbst in einem Zeitraum von fast zwanzig Jahren in vielen Artikeln auf Deutsch, Englisch und Persisch die Perspektive einer solchen regionalen Zusammenarbeit und Sicherheitsstrategie für den Iran herausgearbeitet und unterstrichen.

Im Rahmen dieser Sicherheitsstrategie müsste die Islamische Republik als ersten Schritt ihr Atomprogramm aufgeben, die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen im gesamten Mittleren Osten auf ihre außenpolitische Agenda setzen und die internationale Gemeinschaft auffordern, die regionalen Bemühungen um die Abrüstung der israelischen Atomwaffen zu unterstützen. Als nächsten Schritt sollte die Islamische Republik – oder jede andere Regierung im Iran – die Strategie der Zusammenarbeit und Gemeinsamen Sicherheit in der Region des Persischen Golfs und der gesamten Region mit den Nachbarstaaten diskutieren und ihre Umsetzung vorantreiben. Die Strategie der Zusammenarbeit und Gemeinsamen Sicherheit könnte eine Fortsetzung des Wettrüstens in den Ländern verhindern und dazu beitragen, die Struktur eines dauerhaften globalen Friedens jenseits des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (auf den die Länder mit Atomwaffen das Monopol haben), zu schaffen. Wie bereits erwähnt, hat die Islamische Republik jedoch für die Gewährleistung der Sicherheit in der Region die riskante Strategie der militärischen Konfrontation und der Schaffung teurer und gefährlicher Militärindustrien gewählt und für die nukleare und die nichtnukleare Aufrüstung Hunderte von Milliarden und vielleicht über eine Billion Dollar aus den begrenzten finanziellen Mitteln aufgewendet.

Es kann jedoch nicht verschwiegen werden, dass die Islamische Republik bei der Bekämpfung von gefährlichen Strömungen in der Region wie dem IS, bei der Eindämmung der regionalen Anarchie und Instabilität sowie bei der Wahrung der territorialen Integrität des Irak und Syriens und der Verhinderung der Zerschlagung dieser beiden Länder (was das Ziel der Vereinigten Staaten und Israels war und immer noch ist), eine große Rolle gespielt hat. Außerdem hat die Islamische Republik mit den enormen Investitionen in den Militärsektor Amerika und Israel daran gehindert, einen Krieg mit dem Iran ernsthaft ins Auge zu fassen. Aber eine solche Stabilität, die von enormen militärischen Investitionen begleitet wird und im Grunde genommen von den USA, Israel und dem gesamten Westen als eine Destabilisierung der Region wahrgenommen wird, ist nicht dauerhaft. Eine solche Politik verschärft das Wettrüsten in der Region zusehends und leitet einen Teil der finanziellen Ressourcen der gesamten Region in die Taschen der amerikanischen Militärindustrie um. Die Erfahrung des Wettrüstens in den 1970er Jahren zwischen dem Iran unter dem Pahlavi-Regime und dem Irak unter der Diktatur Saddam Husseins macht deutlich, dass diese Art der Stabilisierung schließlich nur zu neuen Kriegen- wie dem acht Jahre andauernden Iran-Irak Krieg mit beinahe einer Million Kriegsopfern und unvorstellbaren Zerstörungen – führt. Ein gemeinsamer Kooperations- und Sicherheitsplan in der Region sollte daher absolute Priorität haben, da ein solcher Plan einen erneuten Krieg zwischen dem Iran, Saudi-Arabien und den Anrainerstaaten am Persischen Golf rechtzeitig verhindern könnte, wozu die USA und Israel zielstrebig und in großem Umfang investieren.

III. Schlussfolgerungen für die Iraner und die „Straßen Leader“

Es ist notwendig, die Aktivistinnen der „Straßen Leader“ darauf aufmerksam zu machen, dass beide oben genannten Bereiche, d.h. der innenpolitisch strukturellen Veränderungen einerseits und der außenpolitischen Positionierung Irans in der Region und im Transformationsprozess hin zu einer multilateralen Weltordnung andererseits, zwei untrennbare Aspekte einer großen Herausforderung sind. Wenn versäumt wird, die Notwendigkeit einer Änderung der internen Strukturen Irans anzuerkennen und wenn stattdessen – wie das Regime selbst es praktiziert – die militärische Stärke des Iran in der Region überbewertet und dem Sachverhalt große Bedeutung beigemessen wird, dass alle amerikanischen Militärstützpunkte im Mittleren Osten in der Reichweite der iranischen Raketen stehen, kann das angesichts der in den Augen der iranischen Bevölkerung schwindenden Legitimität der Islamischen Republik zu internem Chaos und zum Zerfall des Iran führen. Die Ignorierung der Position des Iran in der Region als bedeutendem Faktor regionaler Stabilität und die Beschränkung der Reformen auf die inneren Strukturen des Landes können andererseits dazu führen, dass ausländische imperialistische Mächte die berechtigten Forderungen der Menschen im Iran missbrauchen, um die Spaltung des Landes voranzutreiben. Die internen Veränderungen und die stabilisierende Rolle des Iran in der Region sind untrennbar miteinander verbunden. Das Ignorieren einer der beiden Aspekte, ist unverantwortlich und steht im Gegensatz zu den nationalen Interessen der Iraner.

Wenn wir die Erfolgsaussichten der Volksbewegung genauer untersuchen, so ist es ganz klar, dass die Volksbewegung allein nicht in der Lage sein wird, einen Sturz der religiösen Despotie im Iran herbeizuführen. In Anbetracht der ungleichen Kräfteverhältnisse wäre die Anwendung von Gewalt, beispielsweise durch die Schaffung einer “nationalen Armee”, sehr gefährlich und wäre ein Schritt zu einem Chaos und Bürgerkrieg sowie zur Entstehung einer neuen Diktatur, die den Wandel um viele Jahre und Jahrzehnte zurückwerfen dürfte. Andererseits lehren uns die historischen Erfahrungen und die Logik der Machtverhältnisse, dass die Legitimitätskrise und der Chaoszustand in einem Land wie dem Iran viele Kräfte innerhalb der staatlichen Institutionen nach einem Ausweg suchen lassen werden, um die aus dem Chaos resultierende Bedrohung für die territoriale Integrität zu verhindern. Ich bin überzeugt davon, dass die Intervention eines Teils der Kräfte aus dem Inneren der Machtstrukturen zusammen mit der Volksbewegung das Chaos und den Zerfall des Iran verhindern kann. Innerhalb der Regierungsstrukturen wird es verantwortungsbewusste, ehrliche und patriotische Menschen geben, die es vorziehen, den Iran vor der inkompetenten Führung der Islamischen Republik zu schützen, die nicht in der Lage ist, die verschiedenen Probleme des Landes zu lösen und deren Macht und Legitimität längst erloschen sind. Diese Personen wären auch in der Lage, die Bedingungen zu schaffen, um die strukturellen Veränderungen in kurzer Zeit in einem gewaltfreien Umfeld und ohne die Einmischung von US-nahen Kräften zu ermöglichen.

Im Folgenden möchte ich einige Vorschläge unterbreiten, die als Strategieplan für die angesprochenen strukturellen Veränderungen Berücksichtigung finden könnten.

Erstens: Auflösung des gleichgeschalteten und indoktrinierten Parlaments der Islamischen Republik.

Zweitens: Freilassung aller politischen Gefangenen und Entschädigung für ihre immateriellen und finanziellen Verluste.

Drittens: Abschaffung aller Handelsmonopole und Durchführung von sofortigen Wirtschaftsreformen zur Umsetzung der Strategie der „Industrialisierung durch Importsubstitution“. Diese Strategie beinhaltet Maßnahmen wie das Einfuhrverbot für alle Waren, die im Iran produziert werden oder produziert werden könnten. Die VR China und die Republik Südkorea haben diese Strategie erfolgreich angewendet, und eine Reihe anderer Länder, darunter Indien, Brasilien, die Türkei und besonders Indonesien, sind dabei sie umzusetzen. Die erste Maßnahme in diesem Zusammenhang wäre die Einführung von neuen Zollgesetzen, um die nationalen Produzenten zu unterstützen. Investoren aus westlichen Ländern und der VR China sollten eingeladen werden, in die heimische Produktion zu investieren. Es muss ein kreatives Wettbewerbsumfeld geschaffen werden, um die iranische Industrie auf den internationalen Märkten wettbewerbsfähig zu machen.

Viertens: Verhaftung der Personen, die in großem Umfang Korruption betrieben haben. Zurückholen des gestohlenen Reichtums und Rückgabe an die wahren Besitzer.

Fünftens: Pressefreiheit und Freiheit für Menschen, deren soziale Aktivitäten in den letzten Jahren gewaltsam verhindert wurden.

Sechstens: Einrichtung eines Spezialgerichts, vor dem alle, deren Hände mit dem Blut des Volkes befleckt sind, zur Verantwortung gezogen werden. Amnestie für ehemalige Regimeangehörig, die bereit sind, sich für ihre Taten zu entschuldigen und mit den neuen Verantwortlichen zusammenzuarbeiten.

Siebtens: Bestimmen einer Frist von mindestens zwei Jahren oder sogar länger für die Vorbereitung und Durchsetzung einer neuen Verfassung in einer demokratisch gebildeten Verfassungsgebenden Versammlung. Parteienfreiheit, die Bildung von Parteien und ihre Teilnahme an der Verfassunggebenden Versammlung. Es ist offensichtlich, dass die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nicht über Nacht geschehen kann. Dieses historische Ereignis erfordert einen tiefen und umfassenden Meinungsaustausch zwischen den wichtigsten gesellschaftlichen Kräften der Gesellschaft und eine nationale Vereinbarung über die Infrastruktur der zukünftigen Gesellschaft des Iran.

 

 

[1] Übersetzung aus dem Persischen auf Initiative von Helga Baumgarten, Professorin der Birzeit Universität in Ramalla, Palästina, und durch Nemat und seiner Frau Ulrike, Islamwissenschaftlerin. Ich danke ihnen allen ganz herzlich.

Anzeigen von 2 Kommentaren
  • Vera Meißner
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    Und wie unterscheiden wir eine legitime Opposition im Iran von einer US-finanzierten Karikatur davon? Bzw. wie verhindert man, daß eine legitime Opposition von US-Interessen manipuliert und instrumentiert wird? Es wäre nicht das erste mal, daß alle an der Nase herumgeführt werden.
    • Taiko W. Harmsen
      Antworten
      @ Vera Meißner: eine sehr berechtigte Frage, Danke!  Ich vermute  allerdings, Herr Masserat wird wenig Substantuielles zur Beantwortung beitragen. Er war lange Jahre Universitätsprofessor in Osnabrück und “Vertrauensdozent” der Heinrich-Böll-Stiftung. Liebe Grüße!

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