Romane in drei Minuten

 In FEATURED, Kultur, Roland Rottenfußer

Ein Versuch, das Chanson zu definieren. Wecker, Wader, Mey, Heller … Deutschsprachige Liedermacher sind einander meist wohl gesonnen und doch sehr verschieden in Temperament und Stilmitteln – Gott sei Dank! Roland Rottenfußer beschreibt zwei „Typen“ des Liedermachers, befasst sich mit den französischen Vorbildern und mit der Frage, wie ein Chanson entsteht.

Wie schwierig es ist, ein wirklich gutes Chanson zu schreiben, hat einer der Meister dieser Kunstform beschrieben, Jacques Brel: „Das Chanson ist weder große Kunst, noch ist es kleine Kunst. Es ist überhaupt keine Kunst. Es ist eine sehr armselige Ausdrucksform, weil es von einer ganzen Reihe künstlerischer Disziplinen beschränkt wird. Ich bezweifle, dass jemand selbst die geringfügigste Idee in drei Versen und drei Refrains ausdrücken kann.“ Müsste Brels Wort für uns nicht Gewicht haben? Oder ist es schlicht Koketterie, zu sagen, dass Chanson „keine Kunst“ sei?

Brel versucht auf jeden Fall auf die Mühen des Produktionsprozesses hinzuweisen – und auf die scheinbare Aussichtslosigkeit des Versuchs, eine „eierlegende Wollmilchsau“ zu gebären. „Gebt mir zehn Seiten, und ich erkläre euch, wie ich die Kindheit sehe. Aber ein Chanson dauert nur drei Minuten. (…) Ich dürfte nicht mehr sagen, ohne mein Chanson aus dem Gleichgewicht zu bringen, und es wäre unmöglich, mich noch präziser, noch dichter auszudrücken.“ Selbst ein strenges klassisches Versmaß sei nicht so einengend wie die Zwänge, von denen ein Chanson regiert werde, sagt Brel. Nichts sei „so langweilig wie eine Musiknote mit einem Wort zu unterlegen“. Musik verliere „einen Großteil ihrer Qualitäten von dem Moment an, wenn man sie in den Dienst eines Textes stellt.“

Sein zynischer Pessimismus, sein Perfektionismus und seine Selbst-Unzufriedenheit haben Jacques Brel offenbar zum äußersten getrieben: zum (so erscheint es uns jedenfalls als bewundernden Außenstehenden) „perfekten Chanson“. Je schwieriger eine Kunstform ist, desto größer der Triumph, der in ihrer Bewältigung liegt. Dennoch sind Selbstzweifel bei Chansoniers eher die Regel als die Ausnahme. Wahlweise fühlen sie sich als Dichter oder als Komponisten unzulänglich. Durch den Zwang zur Anpassung an die eine Kunst, meinen sie die andere nicht so gut bewältigen zu können wie es reine Poesie oder absolute Musik vermag. Dabei fragt der Brel-Biograf Jean Clouzet zu recht: Hätte es der Bedeutung eines großen Lyrikers – etwas Paul Verlaine – in irgendeiner Weise geschmälert, wenn er sich entschieden hätte, zu seinen Gedichten auch eine Musik zu komponieren? In Frankreich ist der Chansonier längst „literaturfähig“. Sein Werk fehlt in keiner Bibliothek für „hohe Literatur“. In Deutschland findet man in Media-Märkten nicht selten die CDs von Konstantin Wecker unter der Rubrik „Schlager“ – gleich neben Westernhagen und den Wildecker Herzbuben. Wahrscheinlich einfach deshalb, weil man nicht weiß, wo man ihn sonst einordnen sollte. Allenfalls Wolf Biermann hat es hierzulande in die Feuilletons und germanistischen Seminare geschafft. Für den aber hat Musik nicht das gleiche Gewicht wie die Poesie. Ungeheuer schwierig wird es erst, wo der Künstler versucht, auf beiden Gebieten gleichermaßen Großes zu leisten.

Im Idealfall, so beschreibt Clouzet den Schöpfungsprozess bei Brel, seien bei ihm Musik und Wort im selben Augenblick geboren worden. Diese Aussage mag überraschen. Deutsche Liedermacher wie Reinhard Mey betonen immer, dass sie meistens zuerst die Texte schrieben. Sogar Konstantin Wecker gab zu Protokoll, dass der Text „immer zuerst“ da gewesen sei. Das überrascht, denn seine Melodien scheinen einer bezwingenden Eigendynamik zu folgen und nicht der Anlehnung an Worte zu bedürfen. Wecker schreibt über den Akt des Schreibens: „Die meisten meiner Lieder kommen aus dem tiefsten Innersten heraus. Man kann sagen, dass ich nicht denke beim Schreiben. Ich warte, bis mir eine Zeile gekommen ist, und am Ende bin ich selbst überrascht, was ich da geschrieben habe. Eine tiefe, andere Ebene wird berührt. So kommt es, dass ich Dinge, die ich vor zwanzig Jahren geschrieben habe, damals noch nicht rational begreifen, geschweige denn leben konnte.“

Das gelungene Chanson, ist über Jacques Brel gesagt worden, sei der Stoff eines Romans, verpackt in einen aufs äußerste konzentrierten Vortrag von drei Minuten. Machen wir vier, fünf oder sechs Minuten daraus – mehr sind es selten. Das Potenzial eines solchen Gesamtkunstwerks im Taschenformat ist enorm. Wenn jemand versucht, die Schwesterkünste Musik und Wort zu verschmelzen, kann dabei Läppisches herauskommen wie Udo Jürgens’ Schlager „Siebzehn Jahr’, blondes Haar“ – oder auch Hochdifferenziertes und Überwältigendes wie „Isoldes Liebestod“ von Richard Wagner. Das Chanson stellt sich auf engstem Raum denselben ästhetischen Fragen wie sie in Wagners Musikdrama im größten Format gegeben sind. In welcher Beziehung stehen Musik und Text zueinander? Welche der beiden Künste ist „Diener“, welche ist „Herr“? Soll die Musik die Aussage des Textes unterstützen, ergänzen, erweitern oder gar widerlegen? (Wenn die Musik zu „Ich lieb dich überhaupt nicht mehr“ von Udo Lindenberg etwa so traurig ist, dass man dem Sänger nicht abnimmt, dass es ihm gut geht). Richard Wagner sagte, die Musik habe stets dem „Drama“ zu dienen, nicht umgekehrt. Mit Drama meinte er nicht allein die Worte, sondern Handlungsverlauf, Aussage und das ausgedrückte Gefühl, das den Menschen mit Hilfe der Musik unmittelbar ergreifen sollte.

Das Brelsche Chanson ist in diesem Sinn ein kleines Musikdrama: Die Musik scheint nicht um ihrer selbst willen geschrieben zu sein, sondern einzig allein, um Aussage und Gefühlsverlauf zu illustrieren. Der ausdrucksstarke, oft theatralische Vortrag des Künstlers tut sein übriges, um die Aufmerksamkeit des Hörers in diesen drei oder vier Minuten durch das Kunstwerk völlig zu absorbieren. Der Text eines Brelschen Chansons ist nicht für jeden zugänglich, das „Drama“ oder ausgedrückte Gefühl jedoch immer. Ich habe Menschen beim Hören von „Ne me quitte pas“ weinen sehen, die kein Wort Französisch verstanden haben. Wenn man des Französischen mächtig ist und den nur kurzen Text aufmerksam „studiert“, ist man nicht nur bewegt, man bewundert auch ganz rational die künstlerische Ökonomie und „Architektur“ des Meisterwerkleins, die Vieldeutigkeit und Tiefe der Bilder, die Perfektion, mit der die Reime gefunden wurden, ohne dem klanglichen Aspekt, der Schönheit und dem Ausdruck Gewalt anzutun. Man bewundert schließlich mit Verstand und Sinnen gleichermaßen die emotionale Kraft und Wahrhaftigkeit des Vortrags.

Der „musikdramatische“ Ansatz des Brelschen Chansons scheint auch den größtmöglichen Gegensatz zur Popmusik auszumachen. In der Popmusik wird der Text nach klanglichen Gesichtspunkten zur Untermalung einer gefälligen Melodie gestaltet. In extremen Fällen gerät er lautmalerisch-rhythmisierend bis an die Grenze des Nonsens wie in diesem Beispiel: „Honey Honey, hold me Baby – aha – Honey Honey“ (Popgruppe „ABBA“). Ein anderes Extrem bilden Chansons, deren Texte so detailverliebt und ausufernd geraten, dass auf die klangliche Qualität und Ausdrucksdichte überhaupt keine Rücksicht mehr genommen werden kann: „Mögen auch allezeit Nägel, Murmeln, Strippe, Litze, Kleister, Brausepulver, Buntstifte und Feuerstein, Schraubenzieher, Isolierband, Knete und Lakritze reichlich in deinen Hosentaschen vorrätig sein!“ Man kann sich, wenn man Reinhard Meys Lied „Menschenjunges“ nicht kennt, gar nicht vorstellen, wie dieses sperrige Gebilde überhaupt verkomponiert werden konnte. Mey schafft es auch nur durch mehrfaches „Schummeln“ bei der Wortbetonung.

Irgendwo zwischen Pop-Klangmalerei und verkomponierter Normalsprache ist das poetische, „musikdramatische“ Chanson angesiedelt wie es etwas von Brel und von Konstantin Wecker gepflegt wird. „Je te racontrai l’histoire de ce roi, mort de n’avoir pas pu te rencontrer“ (ich erzähle dir die Geschichte von dem König, der daran starb, dass er dir nicht begegnen durfte) – da tragen Aussage, Wortklang, deklamatorischer Vortrag und Melodie gleichermaßen zum „Gänsehaut-Effekt“ bei.

Geht man aber den künstlerischen Wurzeln nach, die für deutsche Liedermacher prägend waren, dann muss man neben Brel noch einen anderen Prototypen des Chansonniers anführen: George Brassens. Versucht man, von Brel herkommend, die Chanson-Welt von Brassens zu erkunden, kann man sich leicht ernüchtert fühlen. Brassens’ Stil wirkt karg und minimalistisch, nie versucht er seine Hörer durch Gefühlsstärke zu überwältigen. Seine Texte sind oft dem kleinen Detail mehr als dem Großen und Grundsätzlichen gewidmet. Die Muse, die ihn inspiriert, scheint ein „Gott der kleinen Dinge“ zu sein. Feine Ironie und liebevolle Alltagsbeobachtungen prägen ihn mehr als Pathos, südfranzösische Leichtigkeit mehr als nordische Melancholie, die Gitarre auf seinen Knien mehr als der gewaltige Orchesterapparat im Hintergrund. Als Persönlichkeit tritt er meist ganz hinter dem Gesagten zurück. Wo Brel schwitzt, aufwiegelt und schwärmt, scheint Brassens entspannt in sich hinein zu lächeln. Brel kann uns überwältigen, zum Lachen und zum Weinen bringen, Brassens berührt uns mit leichter, leiser Hand.

Es ist wichtig, sich diesen Gegensatz zwischen den beiden französischen Chanson-Urgesteinen vor Augen zu halten. Es hilft dabei, die Wesensart deutscher Liedermacher zu verstehen. Es gibt in der „klassischen“ Generation der deutschsprachigen Chansonniers im Grunde zwei „Typen“: einen Brassens-Typ und einen Brel-Typ. Franz-Josef Degenhart, Hannes Wader und Reinhard Mey sind Liedermacher, die sich explizit George Brassens zum Vorbild gemacht haben. „Ich höre zum ersten mal Georges Brassens und beginne sofort, selber Lieder zu schreiben“, gibt Hannes Wader in seiner kurzen Internet-Autobiografie an. Bei Reinhard Mey hört man den Brassens’schen Einschlag sehr deutlich durch, z.B. in „Ein Krug aus Stein“. Die „falschen“ Betonungen von Wörtern, die man für Mey-typisch hält („… reichlich in deinen Hosentaschen vorrätig sein …“), sind ursprünglich eine Spezialität von Brassens, ebenso wie das Zerdehnen einer Silbe zu mehreren Silben („… ich gla-ha-hau-be nicht“.)

Liedermacher des Brel-Typus sind z.B. Klaus Hoffmann, Hermann van Veen oder Konstantin Wecker. Allein die Zahl der Brel-Coverversionen ist beeindruckend – von den Aufnahmen singender Schauspielern wie Michael Heltau und Dominik Horovitz einmal abgesehen. Hoffmann sang deutsche Versionen von „Ne me quitte pas“ und „Amsterdam“, van Veen nahm sich „La chanson des vieux amants“ sowie „Voir un ami pleurer“ zur Brust. Torsten Riemann erzielt mit Akkordeon und dramatischen Steigerungen einen Brel-Effekt, und Stefan Sulke wirkt in der Art seiner Melodienführung „französisch-sentimental“ – eher Brel als Brassens verwandt. Konstantin Wecker schließlich machte aus „Jacky“ das leidenschaftlich-melancholische Lied „Damals war i noch da Joe“.

Natürlich hinken solche Vergleiche immer etwas. Herman van Veen hat ein völlig anderes, ein sanfteres, verhalteneres Temperament wie Jacques Brel. Dagegen erreicht Konstantin Wecker dessen aufwühlende Glut durchaus, etwa in dem berühmten „Willy“ oder in „Mei, was is bloß aus mir word’n“. Dabei sind bewusste Anklänge an Brels musikalischen Stil wie das im Musette-Walzer-Stil gehaltene „Wenn die Börsianer Tanzen“, sehr selten. Wecker erreicht mit ganz anderen musikalischen Mitteln die gleiche Intensität wie Brel. Man meint, dass es ihn vor überquellender Emotionalität bald zerreißt. „Aimer jusqu’à la déchirure“ (Lieben bis zum Zerreißen) sang Jacques Brel.

Wer sich ein Bild der von mir angesprochenen „zwei Typen“ des deutschen Liedermachers machen will, dem empfehle ich, das Duett „Liebeslied im alten Stil“ von Wecker und Wader, anzuhören. Wecker hat Musik und Text geschrieben, Wader das Lied für einen gemeinsamen Bühnenauftritt adaptiert. Zuerst singt Wader, sehr zurückgenommen in Stimme und Ausdruck, selbst bei Textzeilen wie „Was für ein Gefühl!“. Dabei plätschert gelassen die Gitarre vor sich hin. Dann setzt Weckers Piano ein, wogend, treibend, aufwühlend. „Nur noch dieses Wollen, das uns drängt“ singt er mit unverhohlener Lebensgier in der Stimme. Man meint als Hörer, dass die dieselbe Gier augenblicklich in einem selbst entzündet wird. Es scheint, als wolle Wecker alle Grenzen sprengen, Wader dagegen nichts weiter als innerhalb der gegebenen Grenzen ein authentisches Leben führen. Wecker erzeugt beim Singen zunächst ein starkes, leidenschaftliches Gefühl in sich selbst und versucht dieses dann auf den Hörer zu übertragen; Wader scheint zu sagen: „Um meine Gefühle geht es nicht. Ich mache Dir mit meinen Texten ein Angebot. Welche Gefühle dabei in dir entstehen, überlasse ich dir.“

Von Reinhard Mey gibt es eine schöne Zeile, mit der er seine eigene Art des Liedermachens in Schutz zu nehmen scheint: „Für dich, der du in deine Bilder die Farben mischst aus sanftem Licht. Die Welt liebt nur die grellen Schilder, doch dein Pastell begreift sie nicht.“ (Lied „Von Luftschlössern, die zerbrochen sind.“) Das Wort „Pastell“ drückt sehr schön aus, worum es geht. Verglichen mit Meys und Waders sehr zurückgenommenem Auftreten ist Weckers Kunst zwar kein „grelles Schild“, jedoch ein expressives Gemälde in leuchtenden Farben. „Schreiben ist Schreien. Wer flüstert ist schuldig. Dezentes Parlando war immer schon Feigheit“, schrieb er in einem Gedicht – sicher nicht als Vorwurf gegen seine Liedermacher-Kollegen gedacht.

Man betrachte die musikalische Gestaltung in großen Mey-Chansons, etwa in „Die Kinder von Izieu“, einem Lied über die Ermordung jüdisch-französischer Kinder, durch die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg. Die leise und unauffällig vor sich hin zupfende Gitarre lenkt in keiner Weise von der Stimme des Sängers und von seinen Worten ab, die tatsächlich Erschütterndes zu berichten haben. Vermisst man bei dem Lied das große Orchester? Nein, vielmehr erfüllt die karge Instrumentierung bei einem solchen Thema eine ähnliche Funktion wie das Schwarzweiß in Spielbergs „Schindlers Liste“. Das ist keine Spaßkultur, scheint der Künstler sagen zu wollen, es ist bitter ernst, und es geht nicht um mich, sondern um die Sache. An dieser Stelle triumphiert das Mey’sche Chanson in größtmöglicher Stimmigkeit von Musik und Text. Würde Reinhard Mey dagegen versuchen, leidenschaftliche Aufwallungen à la „Willy“ zu performen, so würden ihm dafür schlicht die künstlerischen Mittel fehlen. Singt er von Liebe oder von Wut über ungerechte politische Verhältnisse, so klingt es immer ein bisschen als sänge er mit angezogener Handbremse.

Reinhard Mey ist ein genügsamer Künstler – in der Wahl seiner Mittel und in der Philosophie, die seine Lieder transportieren. Damit bildet er den größtmöglichen Gegensatz etwa zur Botschaft von Konstantin Weckers berühmtem „Genug ist nicht genug“. Wecker scheint durch das Überschreiten von Grenzen, durch Ekstase, eine Art Erlösung vom „kleinen Ich“ anzustreben. Der Satz „Ich muss, ich muss im Überschwange noch einmal vorm Vergängnis blühn“ (Gottfried Benn) beschreibt seine Wesensart sehr gut. Ebenso Goethes: „Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Schützlingen ganz. Alle Freuden, die unendlichen, alle Leiden, die unendlichen, ganz“. Während aber bei Wecker die Erlösungssehnsucht ins Ferne und Unendliche strebt, scheint Mey den Alltag selbst als bereits erlösten Raum erschließen zu wollen. In seinen besten Momenten macht er ein subtiles Leuchten spürbar, das die „Banalitäten“ der vordergründigen Realität durchdringt, einen gesättigten Seelenfrieden in der Bescheidung auf das Naheliegende. „Man braucht doch wirklich nur, um keine Not zu leiden, einen Freund, ein Stück Brot, ein Töpfchen, Schmalz und ein Glas Wein. Und all das findet man hier allemal an allen Tagen. Und wenn du klug bist, werden Leib und Seele satt davon“ – so in einem seiner Meisterwerke „Ich liebe das Ende der Saison“.

Reinhard Mey ist in seiner Wesensart oft verblüffend pragmatisch. Will er schweben, nimmt er keine Drogen, sondern macht einen Flugschein. Er ist als Texter ein Realist in Reinform. Selbst bei Hannes Wader findet man noch eher surreale Anwandlungen, die der Logik eines Traumes zu folgen scheinen (etwa in „Der Tankerkönig“ oder „Hotel zur langen Dämmerung“). Mey beschreibt die Welt, die er sieht, als eine beseelte. Aber er verzichtet auf den Anspruch der Kunst, neue Welten erschaffen zu wollen. Als Beispiel für ein Chanson, das bewusst anti-realistisch ist, nenne ich immer gern André Hellers „Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“ Dort wimmelt es von Gestalten, die tatsächlich nur im Kopf des Dichters vorkommen: „Die Maskenhändler mit der Blutmaschine, der Detektiv der kühlen Worte, das Saltorückwärts-Kind mit Bakelitperücke, die Schmerzensdienerin des Hokusei …“.

Auch Konstantin Wecker dichtete gelegentlich bizarr: „Hoch über uns schleichen böse, geharnischte Pferde herum. Und meine Hand pirscht sich leise und bröckelnd an deine heran.“ Surrealismus im Chanson ist allerdings kein bloßer Nonsens, sondern transportiert Stimmungen und Assoziationen, vermählt sich oft wunderbar mit einer Musik, die selbst ihrer Natur nach eher Ahnungen und Gefühlsstimmungen als klare Botschaften vermittelt. Die philosophische Grundhaltung dahinter ist „Idealismus“ im Sinne des Satzes „Das Bewusstsein prägt das Sein“. Der schöpferische Geist bildet die vordergründige Realität nicht nur nach, sondern schafft aus sich heraus eine neue Realität („Questa nuova realtà“). Linientreu marxistisch ist das nicht, denn im Marxismus gilt natürlich der umgekehrte Satz: „Das (gesellschaftliche) Sein prägt das Bewusstsein“. (Hoffentlich gieße ich jetzt kein Öl ins Feuer, denn dem Wecker ist von linker Seite schon bald nach seinem „Willy“-Erfolg in den 70er-Jahren mangelnde politische Linientreue und „Innerlichkeit“ vorgeworfen.)

Nichts gegen den Marxismus und nichts gegen Hannes Waders Arbeiterlieder, sie strahlen gerade angesichts des zerstörerischen globalen Kapitalismus heute eine gewisse zeitlose Würde aus. Aber die Kunst muss frei sein – sogar von ihrer gelegentlich selbst gestellten Aufgabe, der politischen Befreiung zu dienen. Weckers Zeile „Keine Parolen – schenk lieber noch mal ein!“ ist ein nicht untypisches Zeugnis liedermacherischen Savoir-Vivres. Wirklich unpolitisch ist das nicht. Schließlich kann man auch in der Wahl seines Lebensstils und in seinen künstlerischen Mittel ein Revoluzzer sein. Ein Mann, eine Gitarre, Tonika, Subdominante, Dominante, ein Vers, ein Refrain, wieder ein Vers, wieder ein Refrain – manchem künstlerischen Naturell genügt diese einfache Formel nicht. Hört man sich Konstantin Weckers lange und „komplizierte“ Lieder heute an – etwa „Hexeneinmaleins“ oder „Das soll dann alles gewesen sein“ –, so gewinnt man den Eindruck, dass sich da jemand aus dem Korsett hergebrachter, sogar liedermacherüblicher Komponiergewohnheiten befreien wollte.

Und auch Worte können Grenzen sprengen – Grenzen des Rationalen, Wohlabgewogenen, des um jeden Preis Verständlich-sein-Wollens. Dichterische und kompositorische Kühnheit fehlen der heutigen Kulturszene vielleicht mehr als Worte direkter politischer Anklage. Zum Abschluss ein Vers zum Nachdenken von Konstantin Wecker.

Und die Worte streichen aus
was in ihnen ruhte.
Steigen über uns hinaus
heim ins Absolute.


CD-Tipps für den Einstieg:

Jacques Brel: Infiniment – Best of
George Brassens: Brassens (Master Serie)
Reinhard Mey: Über den Wolken. Lieder aus 4 Jahrzehnten
Hannes Wader: Schon so lang (Best of)
André Heller: Ruf und Echo (3-CD-Kompendium mit „Best of“ und neuen Liedern)
Konstantin Wecker: Best. Es geht uns gut

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