Ruhmesblätter mit Linsengericht

 In FEATURED, Holdger Platta, Poesie

Deutsche Geschichte in radikal poetischen Bildern. Es gibt nicht nur diese Zeit, es gibt ein 20. Jahrhundert davor. Es gibt Vorkriege, Kriege und Nachkriegszeiten. Und es gibt Menschen, die durch diese Zeiten gegangen sind. Und die diesen Gang erst noch in eine Sprache kleiden, die mehr fasst als Information. Unendlich viel mehr. Holdger Platta erzählt von der Zeit, als draußen der Winter stillsteht, und vom Jungen, der vor Vergangenheit friert. Und dann war es, „als hätte das Land niemals gebrüllt mit Uniformen“. Holdger Platta erzählt deutsche Geschichte in radikal poetischen Bildern. Corona und Putin tauchen kein einziges Mal auf. Und doch haben Plattas Zeilen mit allem zu tun. Auch mit der Zeit, in der wir leben. „Sie hatten von nichts gewusst / schrien sie. / Ach, was nicht alles nichts ist. / Im Schatten von Auschwitz verschwinden die Gründe.“ Holdger Platta, Einführung: Daniel Sandmann für Poetik-Ecke (Rubikon)

 

Eine kleine Einleitung

Bei „Ruhmesblätter mit Linsengericht“ handelt es sich nicht um ein x-beliebiges Sammelsurium von Gedichten, sondern um Lyrik, die vor allem die westdeutschen Nachkriegsjahre von 1946 bis 1958 wieder ins Gedächtnis zurückzuholen versucht, überwiegend die im Ruhrgebiet. Anfang- und Schlussteil des Gedichtbandes erfassen auch die Zeiten vor und nach dem Dritten Reich, vor und nach diesen Endvierziger- und Fünfzigerjahren.

Es handelt sich um Erzählgedichte. Dabei werden vorrangig Ereignisse und Nichtereignisse dieses Zeitraums aus der Wahrnehmungs- und Erlebnisperspektive eines allmählich heranwachsenden Jungen geschildert, der in lauter Ahnungslosigkeiten herumtappt. Es ist diese kindliche Perspektive, welche das „Beschweigen“ des Dritten Reiches und seiner Bestandteile aufbricht.

Literatur sagt ihre Wahrheit, indem sie ihre Wahrheit erzählt. So weit diese Wahrheit zumindest aufscheint. Und auch in der Lyrik darf es das geben: das Erzählen von Wahrheit, nicht nur deren Beschwörung. Und im Erzählen verschwimmen Zeiten. Plötzlich ist das Jetzt in der Vergangenheit und umgekehrt. Das ist die Leistung einer poetischen Sprache, die Ahnungen zu Kenntnissen formt, bevor diese zu Formeln erstarren, von Geräten lesbar. Und wenn über Bilder der Vergangenheit eine Ahnung bezüglich der Gegenwart aufkommt, dann ist das nicht einfach schön, es ist vielmehr notwendig. Mit der Ahnung setzt Erkenntnis ein. Die Verstandesmühlen dagegen mahlen wohl zu langsam, wenn sie überhaupt noch mahlen.

Holdger Platta ist Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist. Bekannt durch Rundfunksendungen und Sachtextveröffentlichungen arbeitet er immer wieder auch literarisch und veröffentlichte Lyrik in namhaften Editionen. Indes, auch an den verbliebenen Möglichkeiten, Poesie zu veröffentlichen, ist der zivilisatorische Gau abzulesen. Platta schreibt dazu:

„Ich kritisiere, dass es — von zwei, drei positiven Ausnahmen abgesehen — in der bundesdeutschen Verlagsszene für Lyrik keinen Platz mehr hat. Zahlreiche ‚Groß’verlage, die früher auch für Lyrikveröffentlichung standen — Rowohlt zum Beispiel (in diesem Verlag ist vor längerer Zeit sogar ein Sachbuch von mir erschienen) — schreiben bereits auf ihren Websites, dass man bitteschön keine Gedichte zuschicken möge. Lektoren von Hanser und andere Verlagen haben, glaube ich, ehrlich zurückgeschrieben, dass sie persönlich sehr gerne meine Gedichte veröffentlicht hätten (Hanser plant deshalb als Ersatz-Publikation mit einigen Gedichten aus dem obigen Zyklus in der Reihe akzente), aber Lyrik sich halt nicht mehr verkaufe und sie deswegen absagen müssten. Kein Verlag scheint mehr der Maxime zu folgen, betriebsintern durch Quersubventionierung die früheren eigenen Lyrikprogramme — nicht zuletzt von Neuerscheinungen! — am Leben zu erhalten. Kurz also: Zeitgenössische Lyrik findet in den meisten bundesdeutschen Verlagen nicht mehr statt.“

Dafür im Literatur-Salon von Rubikon.

 

Ruhmesblätter mit Linsengericht

Erzählgedichte

Das Glück, ein Davongekommener zu sein

Ein eisiger Wintertag, Mutter gestorben,
der Junge landet bei einem Onkel,
zehn Jahre Leben in einer Tabakwolke.

Güte, die er niemals mehr vergisst, auch
das Mädchen von nebenan nicht, das hellere
Leben, dessen Locken, Schwimmen ist schön.

Und die Neugier, die an einem Herbsttag
aufflammt — Bienengesumm noch immer, Birken,
die immer noch leuchten am Waldrand.

Wieso fliegen, weiter entfernt, die Farben davon?
Die Mappe, der Bleistift von Faber, mit Tusche am Finger
sieht er das Tal gebannt auf dem Papier.

Ernste Gänge, ernste Herren, das Räuspern,
das Murmeln, „Kommen Sie doch
noch einmal rein!“ Prüfung bestanden.

Die weiten Säle, wieder Mädchen, noch mehr Neugier, aber auch
das obligate Frieren, der Hunger. Die Stadt besteht aus
bösartigen Türen, Treppen hören wieder und wieder den Rückzug.

Dann der Wettbewerb, der Brief, die Ausstellung, der Erfolg.
Der Hut schwebt ihm über dem Kopf.
Selbst größere Menschen blicken ihn nun von unten her an.

Knistert sein Mantel nach teurerem Einkauf?
Die Villa im Grunewald schließlich: das Glück?
Er spürt noch immer die Leere auf jeder Leinwand.

Das Flimmern der Welt wie aus dem Effeff,
aber die Schlaflosigkeit oder diese Holzkarrenträume:
das Mädchen auf dem Gefährt, zerlumpt, Eiseskälte, schon wieder.

Und die Marschtritte, die Schreie, die Prügelberichte
im Blatt. Glaubt er manchmal schon selber,
er träte mit falschem Blut vor die Staffelei?

Er legt sich Witze zu, während es in ihm zurückträumt.
Endlich entscheidet er sich. Kein Pfeifenduft mehr,
aber eine wichtige Auskunft in einem begüterten Treppenhaus.

Das Wiedersehen, mitten im Winter, in einem versteckten Lokal.
Welche Liebe allein der Anblick dieser Hände erregt.
Berühren, berühren, während sich draußen die Welt uniformiert.

Sie heiraten mitten hinein in die neue Zeit, längst
kommen nicht mehr alle der alten Gefährten.
Von der Tafel stellt man viele Stühle beiseite.

So sieht der Verrat aus: eine Gruppe Biedermeier in der Ecke
des Salons und dass vom Essen viel übrig bleibt. Und dann endlich
die Flucht. Eine Welt ist krepiert, man landet in der eisigen Schweiz.

Und die Güte? Sie kommt jetzt nur auf noch beim Rotwein,
spätabends. Er hat Glück gehabt. Und das Glück ist fortan,
ein Davongekommener zu sein: mit ihr.

Nacht über dem Atlantik

November, ein Messingschild, die Ostküste einer Geschichte:
Ein rundlicher Professor schiebt die Ärmel seines Pullovers zurück.
In den Lüften die eisigen Schreie der Möwenkolonie.

Kriegsplanungen, eiserne Flüge nach Europa hinüber.
Eine Madame, in schwarzer Pelerine, die in Paris die
Champs Elysees herunterkommt. Flugblätter an der Seine: „Résistez!“

Feines Rokoko zweier Handschuhe in der Luft.
Der Pantomime beugt sich hinunter in seinen Beifall.
Dann explodieren SS-Uniformen im ersten Rang.

„Résistez! Résistez!“ Papiere wie Schneefall im Theatersaal.
Ein Schatten, der über die Rue des Eglises davonjagt.
Kaum hört man den düsteren Angriff vom Himmel.

Rissige Boote schaukeln emsig und lackiert im Morgengrauen.
Vom Schlafzimmer her das ruhige Atmen der Naturwissenschaft.
Cambridge, das Schild an der Tür fast wie aus Gold, Ostküste, November.

Schwarzes Erziehen

Die Kindheit eine Haferbreisuppe
auf dem Tisch, eisige Kälte vorm Haus,
Mutter steht am Küchenherd, streng
wie die Welt, die hinter ihr liegt.

Der Junge sitzt da und isst, die Angst
ein leises Zittern in seinem Körper.
Das Zimmer schweigt, als ob eine Peitsche
hinter dem kalten Vorhangstoff steckt.

„Vater kommt bald wieder heim!“ Der Rücken
der Mutter. „Auch Dein Bruder, Du wirst schon sehen!“
Nähert sich auf dem Korridor
schon dessen Düsternis, um in die Küche zu treten?

Der Februar umkreist das Haus, wie ein Kind,
das seine Mutter sucht, mit Vorsicht und Handschuhen.
Der Junge steht auf, tritt ans Fenster und sieht,
wie draußen der Winter stillsteht.

Der finstere Birnbaum, dünner Schnee
auf dem Hühnerstalldach, erstarrte Zäune,
die ein fremdes Grundstück versperren,
und ein Junge, der vor Vergangenheit friert.

An der Tannenstraße eine bessere Welt

Als ob es ein grünendes Paradies wäre: die herrlichen Villen
unter den alten Bäumen im Wald, ein strahlender
Sonnenglanz, Ruhe allüberall hinter den vornehmen Gittern.

Menschen nie dort gesehen, nur manchmal Lachen gehört
von irgendwelchen Terrassen her, das Gelächter
von Schlotbaronen, wie die Jungen es nannten.

Große Autos vor den sonnigen Villen sahen sie oft,
kaum einer dort, der im Glanz keinen dicken Mercedes fuhr,
Feindesgebiet war es nicht, aber Region einer anderen Welt.

Große Hunde in mächtigen Zwingern gab es fast überall,
kaum auszumachen, ob ihr Bellen Hass verriet oder
Sehnsucht nach den vorüberradelnden Menschen.

Auf irgendeinem Grundstück war der Junge einmal gewesen,
hohes Rhododendrongebüsch überall, Bienengesumm,
er durfte Johannisbeeren dort pflücken, keine Ahnung, wieso.

Ein Waldgebiet, das sich Fuchsgrube nannte, auch so etwas.
Auf alten Fahrrädern fuhren die Jungen an diesen
Glücksgrundstücken vorbei, der eine auf seinem Ballonreifenroller.

Das alles schnell eher denn voll innerer Ruhe,
in der Hitze auf dem Weg zu einem Waldsee. Glückseligkeit,
die kaum einer spürte, der aus den ärmlichen Mietshäusern kam.

Gab es Kinder dort? — Die Jungen kannten sie mit deren
guten Kleidern jedenfalls nicht. Klassenunterschiede erlebten sie hier,
mit Tannenduft, bevor es bei den Jungen das Wort dafür gab.

Später erfuhren sie von einer Mordtat in einer der Villen,
sogar der Chef eines Vaters von ihnen hatte die eigene Frau umgebracht.
Da lebte der Junge längst schon in einer anderen Stadt.

Heute gibt es das alles noch immer, doch die Villen
sehen längst nicht mehr so groß aus wie früher.
Nur die Sonne ist immer noch da, als gehörte sie zum Reichtum hinzu.

Und auch die Sehnsucht spüren sie immer noch
wie einen Irrtum voller Intensität. Dann beugen sie sich
über ihre Kindheit wie über den Garten Eden herab,

der niemals der ihre gewesen war in ihren brennenden Herzen.

Die fünfziger Jahre

Sie lernten in grauen Klassenzimmern
ihre Lektionen, während draußen
der Winter vorbeizog oder einfach das Leben.

Sie lernten das Verstecken des Begehrens
in ledernen Hosen und hinter braven Gesichtern,
während draußen der Frühling aufflog.

Sie lernten an einem Tag im September
endlich das Vergessen und dass von nun an
Vergangenheit das rechte Wort für Hoffnung sei.

Sie lernten, dass im Grauen und im Begehren und
im Vergessen nur klirrend das Verlernen zu lernen sei:

das Verlernen des Sommers, das Verlernen des Himmels,
das Verlernen des Kindes, das sich aufmacht.

Stimmen von früher im Zimmer

Jeden Abend die schwarzen Nachrichten
aus dem Radio hoch oben unter der Decke. Giftig
und düster stand dieser Apparat da aus der blutrünstigen Zeit.

Doch es flogen keine Bomber mehr
draußen am finsteren Himmel über die Dächerwelt weg.
Die Toten waren zu Namenskolonnen geworden.

Vater saß am Tisch und schrieb seine Briefe,
raschelnde Bitten hinaus in die verdunkelte Welt.
Mutter war ein Klirren am Ausguss voller Spülmittelgeruch.

Der Bruder baute an Metallgestellen herum
aus kaltem Grün und eiskaltem Rot. Und der Knabe
entfloh mal wieder in seine Geschichten an die britische Küste.

Das Land lag da in der beginnenden Nacht,
wie begraben in seinem erzwungenen Frieden, ganz so,
als hätte es niemals die Panzer gesehen oder den Tod.

Und es war, als hätte das Land niemals gebrüllt mit Uniformen
und Hass. Düster schwieg es stattdessen sich aus, novemberlang
im verschlafenen Land, über seine begrabene Wut.

Von nichts gewusst

Man trieb sie
an den Leichenbergen vorbei,
in Buchenwald,
und sie schrien,
sie hätten von nichts gewusst.

Im Frühling
durften sie nicht mehr
auf den Parkbänken sitzen,
gelbe Flecken
auf ihren Kleidern.

Schritte im Treppenhaus
während vieler Herztöne der Angst
und dann wieder eine Wohnung
die leer stand.

Ein Arzt montiert sein Praxisschild ab,
zwei, drei leere Stühle
im Klassenraum
von Samstag auf Montag,
und einer hat plötzlich
Tränen im Gesicht,
lautlos und schon mit dem Gesicht
drüben zur Wand.

Ein Freund zieht sich zurück,
seine Frau sieht blass aus,
als man sie zufällig trifft,
doch zum Glück sieht sie weg.

Die Wege werden weiter
zum Kolonialwarenhändler,
zum Bäcker,
vorbei an den alten,
dunkler werdenden Geschäften,
und die Abwehr von Gerüchten
strengt mehr und mehr an
in diesen Kneipen
voller gedämpfter Gespräche.

Auch die Hausdurchsuchungen
bekommt man jetzt mit,
weißlich vergittert
von den Gardinen,
den scheppernden Klang
anspringender Lastwagenmotoren,
die Menschen in dicken Mänteln
auf den Ladeflächen,
und das mitten im Sommer.

Sie hatten von nichts gewusst,
schrien sie. Ach,
was nicht alles nichts ist.
Im Schatten von Auschwitz
verschwinden die Gründe.

Nach dem Erntetag

Sie fahren von den Feldern
zurück, trinken bereits.

Unruhig zuckt
der Abendhimmel über dem Dorf.

Spätnachts ist dann jeder Knecht
dem anderen Knecht eine Faust.

Wenn man das Keuchen hört
aus dem düsteren Schuppen.

Heute eine Arztpraxis und eine Anwaltskanzlei

Das Haus hinter der düsteren Mauer und den Büschen
ist so alt, als wolle es eine Geschichte erzählen.
Von einem Mann, der bleich in einer Küche auf und ab geht,
vom Donnern der Kanonen beim Hafen hinter dem Horizont,
vom Fenster, hinter dem sich die Nacht des Winters 1943 verbirgt.

Dann das schwarze Auto, das vor dem Haus hält,
ohne Beleuchtung, die Männer, die aussteigen in langen
ledernen Mänteln. Schritte, am Haus vorbei, zum Hintereingang.
Die Teppichstange, kaum zu erkennen, der Himmel mit
den Scheinwerfern unter den Wolken, irgendein Rascheln im Gebüsch.

Plötzlich Säuglingsgeschrei vom ersten Stock her und das Scheppern
eines Kübelwagens von der Straße oben zwischen Mülheim und Duisburg.
Die Männer hören Stimmen im Haus, Schritte, dann einen weiteren Schrei.
Drei gezogene Pistolen hinter dem Haus, und im Wohnzimmer
der alten Villa zwei zerbissene Kapseln.

Einen Tag später montiert man das Namensschild
vom Pfeiler vor dem Hausgrundstück ab. Bernstein. Heute
ist dort eine Arztpraxis untergebracht, außerdem eine Anwaltskanzlei.

Berlin, bei den Großeltern zu Besuch

Die anderen wurden von hier aus verfrachtet
in die Ewigkeit, aber

die zwölf Jahre waren heute in diesem Zimmer nur
eine Oma, die leckeren Kuchen zu backen versteht,

Streuselkuchen mit sehr viel Verschweigen darin.
Und sie aßen ihn gern ohne ein Wort über die Güterwaggons.

Wie kann der fröhliche Sommer vorm Haus
nur so strahlend unschuldig tun,

dachten sie in sich hinein und
zogen nicht mal die Gardinen nach links.

„Das Leben geht weiter“, sagte Opa
und meinte natürlich: für uns!

Kein Stein

Dies tobende Jahr 1933 in letzter Sekunde
hinübergehastet auf einen Bahnsteig, von dem noch
ein Zug in die Sowjetunion fuhr, und dass du nicht vergisst,
den Genossen Schaarwaldt zu sprechen! 1937 dann die Flucht
vor der Entdeckungswut der eigenen Freunde in das ferne
Amerika, der Glaube war da schon differenzierter geworden und
heftiger, und seither immer wieder diese halbe Lungenentzündung.

Abgefangen auf ihrer Flucht in einem südfranzösischen
Hafen von der unermüdlichen Treue der Ämter,
die in diesem wunderbaren Mittelmeerlicht nach Pässen,
Affidavits und Visa verlangten. Sie nahm ein Zimmer in
der Rue Éliminaire, spielte mit dem Gedanken an ein Autodafe,
endlich aber doch Mexiko, fast wieder gesund,
eine Zeit wirklicher Freiheit, und schließlich die USA.

Aufatmen auch dort, Freundlichkeit der Leute und das andere Essen, und dann, im frühen Fernsehen und in den kontinentweiten Radioprogrammen, wieder die heisere Stimme eines Idioten, und wieder rollte so mancher ganz schnell seine eigenen Ansichten ein (auf seinem britischen Ross dieser schwarze Filmritter zum Beispiel!). Verschont geblieben von den Ausschüssen 1955 dann Rückkehr, aber die alte Sache sprach inzwischen Sächsisch dort, nicht gerade das schönste,

und trug auch einen anderen Bart. Ein knappes Jahr später das Rasseln in Ungarn. In welchem Hotel, sagst Du, hat der NKWD damals Schaarwaldt entdeckt? Ein weiteres Mal wechselt die nun älter Gewordene ihre Lage, sparsamer geworden mit ihrer Hoffnung und noch genauer als vorher, und saß auf Koffern in einem hellen Zimmer an einem bayerischen Fluss. Kein Verleger wollte mehr mit ihr anfangen,

schon die Nachbarn vorm Fenster verstand sie so schlecht.
ihr Mund war rissig geworden inzwischen, und selten noch
hörte man etwas von ihr. Nur in den Träumen, leise hüstelnd
von ihrer ewigen halben Lungenentzündung, sprach sie noch manchmal
den alten menschenfreundlichen Text. So viele Länder hatte sie
gewechselt auf ihrer Flucht, sie konnte nun schweigen in vielerlei
Sprachen. Ein Stein findet sich auf ihrer Grabstätte nicht.

Ein schöner Augusttag

Der Sommer raucht mit zarten weißen Wölkchen
über der Insel „Wild Cherry“, die Bimmelbahn zuckelt
zwischen den Wiesen und Waldstücken dahin, die junge Frau
in dem blauen Kostüm am Fenster des Zugs
sieht mit zwei Gedichten im Kopf
in die federleichte Landschaft hinaus.

Hinter der warmen Mauer am Friedhof verblutet
in diesem Augenblick ein Berber, gefundenes Fressen
für Schmeißfliegen, und weißgeschnürte Schuhe
stolpern davon, die grünblaue Insel feiert
ihren zehnten Sommer der Freiheit.

In den Reisebüros streichen die Angestellten
in ihren luftigen Blusen die meisten Buchungen
mit fremdländischen Namen aus.

Anzeigen von 2 Kommentaren
  • Schmitz Leonhard
    Antworten
    In der heutigen Zeit ist es schön, etwas geistig niveauvolles zu lesen. Danke dafür!
  • heike
    Antworten
    Vielen Dank für das Veröffentlichen dieser Gedichte hier. Sie beschreiben sehr schön die tiefgehenden Verletzungen, die der Nationalsozialismus in den Menschen hinterlassen hat. Ebenso das Wegsehen und den Versuch, dem Grauen zu entkommen, indem man es nicht wahrnimmt. Wo die Gewalt so groß ist, dass man ihr nicht widersprechen kann, ohne dafür sein Leben in Gefahr zu bringen,versuchten die Menschen, die noch ein Herz und ein Gewissen hatten, blind und taub zu werden oder wurden es sogar.

    ———————

    Man sollte niemals und zu keiner Zeit den Sommer, den Himmel und das Kind verlernen müssen. Dann lebt man in guten Umständen. Und das wünsche ich mir, dass wir alle wieder in Umstände zurückfinden, in der denen der Sommer, der Himmel und das Kind gedeihen können.

     

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