Scheinwelten

 In Allgemein, FEATURED, Politik

Die Arroganz der Macht und die Ohnmacht der Systemverlierer. Sozial blinde Reiche, die sich mit von anderen erarbeiteten Besitztümern brüsten. Korruption und Selbstbedienungsmentalität in der Politik. Flüchtlinge als Prügelknaben und Opfer der in den „Gastgeberländern“ gepflegten Gierkultur. Ein ausgeblutetes Griechenland und Hartz IV als „Drohkulisse“ – Rüdiger Schaller spannt in seinem Essay einen weiten Bogen. Der Autor analysiert die Fehlentwicklungen unserer Zeit aus einem christlich-humanistischen Menschenbild heraus. Bei seinen umfangreichen Reflexionen beginnt er bei sich selbst – seinen Gefühlen in Anbetracht von Not und Unrecht. Sein politisches Erwachen wird so zum Teil einer inneren Reise, die auch spirituelle und therapeutische Stationen umfasst. Ein ehrliches, sehr persönliches Statement. (Rüdiger Schaller, Auszug aus seinem Buch „In die Stille“)

Urplötzlich springt heiße Wut aus meinem Bauch hervor, ich richte mich im Sessel auf. Die Wut rast durch den ganzen Körper: Die Kartelle und Konzerne, deren Pfründe werden nicht angetastet! Ihre Gewinne steigen und  sprudeln weiterhin  kräftig. Kurzfristige Rendite und Mehrung des Kapitals sowie des eigenen Wohlstandes sind wichtiger als soziale Verantwortung! Diese wird nur noch in Sonntagsreden beschworen – doch leider ist der Markt die absolute Macht. Ihr ist sich bedingungslos unterzuordnen, da kann man leider nichts ändern. Viele Manager handeln mit vorauseilendem Gehorsam nach diesem scheinbar unumstößlichen Gesetz.

Ja, die Mächtigen und Reichen haben ihre Lobbyarbeit wieder gut verrichten lassen. Sie profitieren von den Veränderungen und verdienen sich dabei mehr als nur gesund.  Solidarität  und  Verpflichtung  des  Eigentums zum Gemeinwohl – diese früher respektierten und gelebten Säulen, auf denen die Gesellschaft aufbaut, werden brüchig. An vielen Stellen sind die einst tragenden Elemente schon ausgehöhlt, wie lange trägt noch der Rest?

Wer hat eigentlich in Wirklichkeit die Macht in diesem Land? Die Politiker, zuerst vom Volk für das Volk gewählt, sind zunehmend willfährige Diener der Wirtschaft, der Konzernherren und deren Helfer. Längst haben sich die vorgeblichen Volksvertreter ihre Pfründe gesichert und verteidigen diese, parteiübergreifend. Keiner der Politiker wird hart fallen und auf Sozialhilfe angewiesen sein. Sie sind alle finanziell gut abgesichert. Und auch in der Politik gibt es, wie bei vielen Top-Managern, zunehmend

Selbstbedienung – mit schwindendem sozialen Gewissen und ohne wirkliche Konzepte für die Lösung der drängenden Probleme dieser Zeit. Alleine schon der Automatismus, dass sich nach jeder Lohnerhöhung, um die Arbeitnehmer hart gerungen haben, automatisch die Diäten der Politiker erhöhen, spricht Bände. Und immer wird im Grunde der Markt, die Globalisierung, vorgeschoben – wie fantasielos! Ablenkung von nicht wahrgenommener Verantwortung! Vielleicht aber haben sich die Handelnden im Lauf der letzten Jahre schon zu sehr in den Fängen der  Lobbyisten  und  Interessenvertretungen  verstrickt, um wirklich frei und zum Wohle der Menschen, die sie wählen, handeln zu können.

Heute feiert der Neoliberalismus seine Triumphe. Die Umverteilung von den zunehmend Schwächeren und den Armen zu den Besitzenden nimmt stetig zu. Nur ein Aspekt: Nach aktuellen Zahlen sterben Arme in Deutschland im Schnitt ca. zehn bis elf Jahre früher als Reiche.

Gott ist tot und der Teufel – die finsteren Mächte, die in der Bibel erwähnt wurden –, sie wurden im Namen der Wissenschaft abgeschafft, so kann man es verkürzt sagen. Der Gott des Neoliberalismus ist der freie Markt und der schrankenlose  Wettbewerb.  Die  Kirche  ist  das  Kapital und das Glaubensbekenntnis richtet sich an die Kräfte des Marktes, die alles wunderbar regieren, und es endet mit dem Bekenntnis zum ewigen Wachstum – zum Wohle aller Menschen. Zweifler, die Fragen stellen, werden als Störer angesehen. Als Menschen, die noch nicht alles begreifen. Man sollte eben nicht den Finger in die Wunde legen und keine Schwierigkeiten machen.

Der Neoliberalismus, der braucht keine Demokratie, er ist alternativlos, so sagen es seine Hohenpriester. Er braucht  Ruhe  und  Steueroasen  mit  Briefkastenfirmen.

So kann er sich mehr und mehr zulasten der Schwachen ausbreiten. Mithilfe der Vermögensbewahrungsindustrie, im Verbund mit Drogengeldern, schmutzigen Waffengeschäften und der Finanzierung von Kriegen in Ländern, die eigentlich Sanktionen unterliegen.

Die Starken triumphieren und lassen sich feiern. In ihren geschlossenen und illustren Kreisen verleihen sie sich Preise und Auszeichnungen, wie für die europäische Einheit, und man preist deren Werte. Brosamen für die Mittellosen: Zwei Euro mehr Kindergeld im Monat – das macht für eine / einen Alleinerziehenden mit zwei Kindern und Harz IV gerade 13 Cent am Tag. Diejenigen, die dies beschließen, haben sich eine jährliche und automati- sche Gehaltserhöhung zugestanden. Wenn z. B. im Durchschnitt die Löhne um vier Prozent steigen, dann werden auf die ca. 9.000 Euro monatlich nochmals vier Prozent automatisch zusätzlich kassiert. Das sind dann 12 Euro am Tag, zuzüglich 13 Cent am Tag für zwei Kinder. Das ist etwas anderes als beispielsweise der Durchschnittslohn einer Kassiererin, die ca. 1.800 Euro verdient. Und die für die Erhöhung gegebenenfalls noch auf die Straße gehen musste und ihren Job riskiert hat. Nur ein Mechanismus von vielen, der die Schere zwischen Armen und Reichen weiter öffnet. Und die Parteien? Das „C“ wird ausgeblendet, wenn es um Kriege und um das Wachstum der Wirtschaft geht, das „S“ existiert schon lange nicht mehr, verraten und verkauft an CETA. Das Christentum wird nur noch benutzt, wenn es auszugrenzen gilt.

Geierfonds kaufen Kreditschulden für einen Bruchteil ihres ursprünglichen Wertes auf, um die Länder dann mittels privater Schiedsgerichte zur Rückzahlung mit Zinseszins und Verzugszinsen zu verklagen. Einer dieser Fonds hat so Sambia geschädigt, eines der allerärmsten

Länder, bei einer eigenen Rendite von 400 Prozent. Der Schuldenerlass der Weltbank wurde so wieder hinfällig – dringend notwendige Investitionen in mehr Infrastruktur, Bildung und Gesundheit konnten als Folge nicht getätigt werden. So wird die Luft zum Leben genommen.

Auch nutzen die reichen Industriestaaten Afrika als Produktionsbasis für die Bedürfnisse des westlichen Marktes. Während die Bevölkerung hungert und verhungert, lassen multinationale Konzerne Getreide, Mais und Zuckerrohr zu Biosprit für ihre westliche Kundschaft verarbeiten.

Das ganze Spektakel des entfesselten Neoliberalismus ist so richtig machtverliebt und gottlos. So gebiert die Moderne aber auch einen modernen Fundamentalismus. Etliche Menschen, die mit dieser Art von Moderne nicht mehr zurechtkommen, legen sich einen strengen Gott zu. Hier wissen die Vertreter – egal welcher Couleur – genau, was ihres Gottes Wille ist. Das gibt Halt für Verunsicherte, da gibt es klare Lehren, fertige Lebensstile und Erziehungskonzepte und noch manches mehr. Das Fatale daran ist, dass sich die Strenge gegen die anderen richtet; das fasziniert und zieht Menschen magisch an. Doch das kann bis zur Zerstörung des Lebens gehen, manchmal tötet es. Die neue Ausschließlichkeit der Positionen bedroht den Dialog – auch in und zwischen den Religionen.

Und nun bedrohen plötzlich auch noch Flüchtlinge das Selbstbild des Neoliberalismus von Ruhe, Ordnung und Wohlstand. Unsere ach so fragilen reichen Gesellschaften können doch keine weitere Hilfe leisten, auch wenn weiterhin unzählige Menschen ihre Heimat verlieren. Die schwarze Null muss stehen! Doch vor dem Zaun von Idomeni, im Schlamm und voller Verzweiflung, da liegt in dem Schwächsten der Schlüssel zu unserem Heil – was du

dem Geringsten, den Schwächsten getan hast, hast du mir getan, sagte Jesus. Über unsere Art zu handeln machen wir uns schuldig. Schuld: etwas schuldig bleiben, sei es Geld oder seien es Pflichten. Also sündigen dadurch, dass man etwas nicht tut. Der Bruder steht draußen an der Tür und will rein und klingelt. Ich tue so, als hätte ich die Klingel nicht gehört, und mache die Tür nicht auf. Das ist Schuld. Jemand leidet und ich nehme es nicht wahr, weil ich lieblos bin – und sündige durch Unterlassen. Das ist Schuld.

Und an den sogenannten Fluchtursachen, die bekämpft werden sollen, sind wir selbst schuld: Niemand trägt mehr Schuld am Elend zwischen Hindukusch und Levante als die Vereinigten Staaten und die Staaten, die den Pakt der Willigen mit ihnen eingegangen sind. Hunderttausende starben in den letzten Jahren, Millionen verloren ihre Existenz und Heimat.

Oft und gerne wird über Werte und abendländischen Humanismus gesprochen. Doch rein die Logik sagt: Menschen fliehen, weil Krieg, Dürre oder Ausgrenzung ihnen die Lebensgrundlagen nehmen. So wird wieder ein Projekt der Alternativlosigkeit aufgesetzt: Es muss auch weiterhin das Bild der Willkommenskultur in Deutschland aufrechterhalten werden. Die Frage nach der Regulierung des Flüchtlingsstroms wird in ein möglichst fernes Land ausgelagert. Die Türkei, die bisher als zweifelhafte Demokratie und unsicherer Kandidat für einen EU-Beitritt galt, wird über Nacht zum wichtigsten Verbündeten geadelt. Auch wenn die zarte Pflanze der Demokratie zertreten wird, Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden und Menschen ohne Rechtsgrund in Gefängnisse gesperrt werden. Wie lange wird dieses Spiel noch mitgespielt? Wann ist genug der Provokationen und Eskalationen? Schon das Grundkonstrukt des Pakts baute auf Sand.

In diesem Pakt übernimmt dann die Türkei das schmutzige Geschäft der Grenzsicherung. Wenn es dabei zu hässlichen Bildern kommt, wird dadurch nur der unterschwellige Rassismus, den die deutsche Gesellschaft immer noch gegen die Türkei hegt, bestätigt. Man selbst behält die Hände rein.

Schutzmauern müssen her, möglichst weit weg. Da ist es schon fast egal, ob die so hoch gehaltenen Werte des christlichen Abendlandes verraten werden. In diesem Zusammenhang wird nun auch der innenpolitische Gehalt des „Wir schaffen das“ klar: Aus dem „Wir“ wird eine klar benennbare Klasse in unserer Gesellschaft: die Geringverdiener und diejenigen, die schon jetzt am unteren Rand leben. Hier entbrennt der Konkurrenzkampf um die weniger qualifizierten Jobs, bezahlbaren Wohnraum und die letzten öffentlichen Orte, an denen man sich ohne Geld aufhalten darf.

Der moralische Anspruch kommt dort an, wo er die ganze Zeit hin sollte: bei den Verlierern. Die Kosten der Moral werden an die Ränder verteilt, wo es den Gewinnern nicht wehtut und sie weiterhin im Wohlgefühl ihres eigenen Gutseins leben können. Zunehmend breitet sich Verunsicherung und Angst, Zukunftsangst aus.

Auch die Globalisierung wird wie ein Fetisch gehandelt. Aber was interessiert denn beispielsweise Rentner in Amerika, dass ihre Pensionsfonds in anderen Ländern den Wohnungsmarkt ausschlachten, um die ihnen zugesagten hohen Renditen zu erwirtschaften? Bei uns trifft es Familien mit Durchschnittseinkommen oder Alleinerziehende, ganz zu schweigen von sozial schwächeren Men- schen. Wohnraum ist bald nicht mehr bezahlbar.

Wie wird es weitergehen in diesem Land? Auch in der Diskussion sind die noch bestehenden Schutzrechte für Arbeitnehmer. Sie sollen im Grunde möglichst ganz abgeschafft werden. Die Arbeitgeber sollen frei und willkürlich über die Arbeitnehmer verfügen können, so fordern es die Wirtschaftsverbände. Am besten sollen Menschen wieder wie rechtlose Leibeigene funktionieren. Werden bald auch der Sonntag und die Feiertage geopfert? Tage, an denen noch etwas von dem in früheren Zeiten Heiligen in die heutige profane Welt hinüberschimmert, etwas, das auch heute noch Halt und Orientierung geben kann. Tage, an denen Familien zusammen sein können.

Familien als Ort der Geborgenheit für Kinder? Zeit und Raum für Kinder, um sie für das Leben zu stärken und soziale Kompetenz zu lehren? Nein, es wird eine neue Demut gepredigt. Man solle mit dem, was man hat, zufrieden sein. In anderen Ländern, da würden doch auch von den Eltern mehrere Jobs erledigt. Das wäre dort üblich. Doch was für ein Hort der Geborgenheit kann Kindern geboten werden, wenn die Eltern keine Zeit mehr für die Erziehung haben und finanziell um das nackte Überleben ringen? Aber vielleicht ist das die von den Machthabern gewünschte Orientierung für die Gesellschaft: Jeder ist sich selbst der Nächste und nur der Stärkste überlebt. Der Rest ist billige und austauschbare Verfügungsmasse – und Drohpotenzial für die noch in Lohn und Brot stehenden Arbeitnehmer. Haben sich diese Ideen nur Kinderlose in Führungszirkeln ausgedacht, die selbst materiell ausgesorgt haben? Verantwortung für das Gemeinwesen, diese Aufgabe verkommt zu einem reinen Lippenbekenntnis. Für viele wird so der Weg in Armut, nicht nur die Kinderarmut im doppelten Wortsinne, vorgezeichnet. Schamlosigkeit breitet sich aus in unserem Land. Enthemmt geht es derzeit vor allem in der sogenannten „Flüchtlingsfrage“ zu. Nicht nur verbal. Flüchtlinge sind zunehmend Brandanschlägen, Verfolgungen und Drohungen ausgesetzt. Menschen, die ihre Heimat wegen fürchterlicher Kriege verlassen mussten, denen nichts geblieben ist, die ihr armseliges Leben auf Flüchtlingsbooten ein weiteres Mal riskieren mussten, werden nun in unserem Lande weiter terrorisiert.

Schamlos sind Immobiliengesellschaften, die Mieten für ihre Wohnungen am oberen Sozialhilfelimit festsetzen und damit Millionen verdienen – obwohl die Liegenschaften häufig verkommen und verwahrlosen.

Schamlos sind auch diejenigen, die sich als Wohltäter und Moralisten ausgeben und von ihren Mitmenschen strikt die Einhaltung von Recht, Ordnung und Sitte verlangen – die aber das Eingeforderte selber nicht leisten: Alice Schwarzer oder Ulli Hoeneß – mit ihren Steuerhinterziehungen. Der Milliardär Berggruen – anstatt wie versprochen in Karstadt zu investieren, zog er über die Markenrechte jedes Jahr Millionen aus dem Konzern ab. Der Konzern musste sich aus eigenen Mitteln sanieren. Oder Sepp Blatter – ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz, mimt er jederzeit und überall den Ehrenmann – dabei hat er den Weltfußballverband FIFA zu einer Allmachts- und Korruptionszentrale umgebaut, vor der sogar jeder Mafioso ehrfürchtig den Hut zieht.

Man muss aber nicht nur auf Berggruen, Schwarzer, Blatter  und  Co.  schauen.  Beispiele  für  die  grassierende Schamlosigkeit gibt es überall: illegale Waffenexporte, Profite mit verdorbenen Lebensmitteln, Tierquälerei, Enthemmung im Internet.

Trockenes Brot für die Welt – Wurst, Wein und Käse bleiben bei uns. Die Vorboten einer neuen großen Flüchtlingswelle.  Geschätzte  50  Millionen  Afrikaner  werden dies sein.

Ein heftiger Ruck durchfährt mich, mein Kopf wird seitlich nach vorne geschleudert. Mit der Stirn pralle ich gegen etwas Hartes. Noch halb zwischen Traum und Wachsein öffne ich die Augen, grelles Licht fällt mich an, ich muss blinzeln: Es ist hell, es ist Tag und ich sitze in einem Zug. Ich muss wohl tief und lange geschlafen haben, ich war von dem letzten Tag sehr erschöpft. Der Zug hält auf freier Strecke, anscheinend steht ein Signal auf Rot. Mit dem Handrücken fahre ich mir über die Stirn, mit der ich eben gegen die Fensterscheibe gestoßen bin. Sie schmerzt noch etwas und ist schweißnass. Anscheinend habe ich heftig geträumt. Ich bin auf der Heimreise von Julias Beerdigung.

Was habe ich bloß geträumt? Irgendwie lastet der Traum noch auf mir, doch die Erinnerung an ihn ist schlagartig verblasst. Unruhig schaue ich mich im Abteil um. Ich bin alleine. Auf einem der Plätze liegt eine Wirtschaftszeitung, ein Fahrgast hat sie wohl liegen ge- lassen. Zur Ablenkung nehme ich sie mir und fange an zu blättern. Überwiegend handeln die Artikel von Übernahmeschlachten zwischen Konzernen, von gescheiterten Unternehmensfusionen und von Bilanzmanipulationen sowie dem Streuen gezielter Fehlinformationen an die Kapitalanleger. Und der Straffreiheit der Akteure. Ich überfliege nur die Überschriften, dann blättere ich weiter. Auf den hinteren Seiten, gut versteckt, entdecke ich einen Artikel, der über die Notwendigkeit von sozialer Ausgewogenheit berichtet. Bei Vorstandsgehältern muss sie unbedingt herrschen. Ein neues Vorstandsmitglied bekommt 200.000 Euro mehr als seine Kollegen – das ist schreiendes Unrecht! Die Gehälter der Kollegen wurden selbstverständlich umgehend erhöht. Gleichzeitig wurden den Mitarbeitern und den Pensionären 200 Euro Weihnachtsgeld gestrichen, da es dem Unternehmen nicht besonders gut ging. Ein Skandal, ein Aufschrei in der Öffentlichkeit? Nein, nichts davon – gelebte Wirklichkeit.

Es breitet sich ein Ungeist aus, der Menschen zerfrisst und der zur Verwahrlosung der Menschen und der Gesellschaft führt. Dieser Ungeist ist die zerstörerische Variante des Freigeistes. Es ist der Geist der Freiheit, der keine Bindungen akzeptiert und sie zerreißt, es ist der Geist der Hemmungslosigkeit und der Gier.

Ein tiefer Atemzug ergreift mich. Und ich, wie wirke ich in dieser Welt? Ich schüttele unwillkürlich den Kopf. Manchmal kommt mir die Welt wie ein großer Spiegel meines eigenen Schattens vor – ich sehe, was andere nicht tun oder falsch machen. Doch ich lebe in etlichen Fällen genauso wie diejenigen, denen ich das vorwerfe. Nur ist das meist nicht bewusst, das wird mir jetzt klar.

Ich will mich beruhigen, lege die Zeitung beiseite und blicke aus dem Fenster, der Himmel strahlt in hellem Blau. Nur in der Ferne sind ein paar Regenwolken zu sehen. Doch der Anblick beruhigt mich nicht, da ich immer noch viel zu aufgewühlt bin.

Meine Gedanken kommen schon nach einigen Augenblicken wieder auf das eben Gelesene zurück. Auch ich arbeite seit vielen Jahren in diesem Umfeld. Doch erst jetzt fällt mir auf, wie in der sogenannten freien und sozialen Marktwirtschaft immer mehr nur auf Zahlen und Gewinne geschaut wird. Mitarbeiter, Menschen, sie werden zunehmend nur noch als reine Kostenfaktoren angesehen. Mit ihrer Entlassung können die Gewinn- und Verlustrechnungen in den Bilanzen kurzfristig um die eingesparten Gehaltszahlungen aufgebessert und die Bonuszahlungen an die Manager gesichert werden. Weitere Stellschrauben zur Verbesserung der Gewinnzahlen sind die konsequente Kürzung oder Kündigung aller freiwilligen Sozialleistungen, wie beispielsweise der Pensionszusagen an die Mitarbeiter. Verlagerung des unternehmerischen Risikos auf die Mitarbeiter, auch durch variable Vergütungssysteme. Ausgenommen von den Kürzungen werden natürlich die üppigen Zusagen an die Vorstände, die sogar gegen den Konkurs des Unternehmens versi- chert werden können. Bestmögliche finanzielle Absicherung der Verantwortlichen auch im Falle der vielleicht selbst verschuldeten Pleite. Wenn überhaupt, dann fallen sie weich. Selbstbereicherung ohne soziales Gewissen.

Was ist mit den Sorgen und Nöten derjenigen, die sich nach der Decke strecken, um das Einkommen für ihre Familien zu sichern, und keinen Ausweg aus dem System finden? Auf ihnen lastet ein zunehmend größer werdender Druck. Werden sie zerbrechen oder sich verbiegen? Gute Freunde hatten mir erst vor ein paar Tagen berichtet, dass sie von Unternehmen gehört hätten, die Prämien an Gruppenleiter zahlen – wenn sie Mitarbeiter aus der Firma mobben. Denn für Mitarbeiter, die den psychischen Druck nicht mehr aushalten und von sich aus kündigen, fallen keine Abfindungszahlungen an. Diese Zahlungen werden von den Unternehmen in diesen Fällen gespart.

Wem dient all dieses Handeln? Mir geht diese Frage nicht aus dem Kopf, ich gehe ihr nach, doch ich finde im Moment keine Antwort.

Erst nach einer Weile komme ich mit meinen Gedanken wieder auf die Artikel in der Zeitung zurück. Seit Jahren perfektioniert: Unter Einsatz aller Erkenntnisse der modernen Psychologie werden Werbekampagnen ausgetüftelt, mit denen der Umsatz angekurbelt werden soll. Oftmals werden verborgene und nicht gelebte Sehnsüchte genutzt. „Sex sells – Sex verkauft“, dieser alte Leitspruch

wird in immer neue Varianten verpackt. Und er funktioniert genauso gut wie die Aktivierung des Kaufreflexes, der über die „Geiz ist geil“- und über Rabattstrategien ausgelöst wird. Schnäppchenjagd ist Mode – im Kern ist es ein Schnappen aus Affekt, ein „Habenwollen“. Wobei sich der Käufer als Jäger fühlen darf, obwohl er nur die Beute der Marketingstrategen ist. Doch es geht auch anders herum: Nur hohe Qualität zählt, der Kunde ist ja mündig – so werden wieder höhere Preise am Markt durchgesetzt. Das Entscheidende in diesem grenzenlosen Spiel ist, dass im Grunde durch Konsum von tiefer liegenden Sorgen, Nöten und auch Hoffnungen der Menschen schon an der Oberfläche abgelenkt wird. Konsum wirkt so wie die Einnahme von Drogen und als Fluchtmittel vor sich selbst.

Für die Macher der Trends und Produkte zählen nur Macht und Geld. Je mehr Geld in die eigene Tasche gewirtschaftet wird, desto angesehener ist man in dem Kreis der Oberen.

Vor ein paar Wochen kam ich in einem Restaurant zufällig mit einem älteren Herrn ins Gespräch. Er war viele Jahre Privatsekretär in einer angesehenen Privatbank. Ich sprach über meine Sorgen im Blick auf die Entwicklungen in der Wirtschaft und der Gesellschaft. Er hörte mir aufmerksam zu. Nach einer Weile sagte er dann bedächtig: „Früher, in den Familienunternehmen, da sorgte sich der Unternehmer noch um die Firma, um seine Mitarbeiter und sogar um deren Familien. Das Wohl des Ganzen lag ihm am Herzen. Sein Wort galt, es hatte Wert. Heute regieren immer mehr sogenannte Manager. Deren höchstes Ziel ist es, schnellstmöglich das eigene Haus und den Porsche-SUV dazu zu besitzen. Dann kommt lange nichts. Ihre Worte sind reine Lippenbekenntnisse und schwanken je nach Wetterlage wie Fahnen im Wind.“ Ist dies ein weiterer Trend, der in der Öffentlichkeit nicht wirklich wahrgenommen wird? Wird unsere Gesellschaft zunehmend egoistischer und selbstbezogener? Ist dies alles überhaupt zu stoppen und Umkehr möglich? Und wo wird das enden? Steckt hinter diesem Treiben vielleicht doch das, was in der Bibel mit Teufel bezeichnet wird? Die Bibel nimmt die Realität des Bösen ernst. Es hat überwältigende Macht und Gewalt über die Menschen, über ihre Gedanken, ihr Wollen und Tun. Es hat eine überwältigen- de Macht und Gewalt über das Schicksal der Menschen und Völker.

Ein leichtes Rucken lenkt mich ab, der Zug nimmt wieder Fahrt auf. Ich schaue aus dem Fenster. Die Hochhäuser der Stadt, in der dieser Zug endet, sind schon nahe. Sie übertrumpfen einander und es scheint, als ob sie den Himmel berühren wollen. Diesen Anblick habe ich schon oft  gesehen,  heute erschrecke  ich.  Die  Türme  wirken auf mich wie Symbole einer eiskalten und unnahbaren Macht, die sich hinter glitzernden und schon weihnachtlich geschmückten Fassaden versteckt. Es ist eine anonyme Macht, die nichts neben sich duldet und alles gnadenlos vernichtet, was nicht auf ihrer Seite steht und ihr nutzt. Wie moderne Kathedralen stehen die Hochhäuser im Zentrum. In diesen Tempeln werden die Verlockungen der heutigen Zeit hergestellt und angebetet. In einem immer schneller werdenden, besinnungslosen Tanz.

Weshalb wählt sich diese Gesellschaft zum irrwitzigen Höhepunkt des Tanzes um das goldene Kalb ausgerechnet das Christfest aus? Ganz ohne Religion rollt der Rubel wohl nicht – auch wenn dafür das ursprüngliche Fest zum Götzendienst pervertiert wird. Und was passiert, wenn der in Wirklichkeit angebetete Gott Mammon ungnädig wird, sich abwendet und seine Gaben spärlicher verteilt?

Dann werden ihm noch mehr Kraft und Zeit dargebracht und mit an erster Stelle werden die Schwächsten in der Gesellschaft geopfert, diejenigen, die unser Mitgefühl und unsere Unterstützung bräuchten. Es geht im Grunde um die Menschlichkeit, um die Hingabe an den Mitmenschen. Darauf weist in der Bibel schon der Prophet Amos hin, der um das Jahr 750 vor unserer Zeitrechnung von Gott berufen wurde. Nie zuvor wurde damals so viel verdient – nie zuvor gab es aber auch so viel Armut im Land. Manche Familien sind so hoch verschuldet, dass sie sogar ihre Kinder als Sklaven verpfänden müssen. Die Bestimmung, einen gepfändeten Mantel über Nacht zurückzugeben, damit sich sein Besitzer wenigstens beim Schlafen zudecken kann, findet sich sicherlich nicht ohne Grund in der Bibel. Heute müssen wir in diesem Zusammenhang nur den Blick nach Griechenland lenken. Ein Land, das ausgepresst wird und zunehmend in Armut versinkt. Die Mehrheit der Griechen gehört zu den Abgehängten, Verarmten, zum Großteil sogar Verelendeten auf dem europäischen Kontinent. Welch ein Hohn: Es wird zur Beruhigung der Menschen und der Presse in unserem Land ein Hilfspaket für bedürftige Menschen in Griechenland beschlossen – über 200 Mio. Euro. Was für eine stolze Summe. Doch über die Laufzeit und die Anzahl der Bedürftigen verteilt, macht das genau 4 Cent pro Bedürftigem pro Tag! Dazu die Jugendarbeitslosigkeit: Eine verlorene Generation wächst in den südlichen Ländern heran. Die ganze Gesellschaft dort ist überlastet, systematisch ausgepresst. Die Wiege der Demokratie verarmt und verelendet, was in der Presse hierzulande nicht erwähnt wird.

Wie sieht das Bild unseres Gemeinwesens aus? Politiker in Eigeninteressen und Lobbyistentum verstrickt und eine Politik, die sogenannte Reformen zulasten der Schwächsten hervorbringt – beispielsweise lassen Zuzahlungen für die medizinische Versorgung in Pflegeheimen oft von dem kärglichen Taschengeld der Pflegebedürftigen nichts mehr übrig. Es trifft meist alleinstehende Trümmerfrauen, die mit ihrer unermüdlichen Arbeit nach dem Krieg wesentlich am Aufbau der Gesellschaft beteiligt waren. Was bleibt ihnen auf ihre letzten Tage, wenn sie nicht mal mehr einen Kaffee trinken gehen können?

Vorgeblich um den Wirtschaftsstandort zu stärken, müssen gleichzeitig die Konzerne und Großunternehmen von Steuern entlastet werden. Ihre Gewinne sind heilig, unantastbar. Doch parallel dazu nimmt die Zahl Dauerarbeitsloser mit schwindenden Perspektiven zu. Und schon auf Kinder wird Zwang zum Konsum ausgeübt. Althergebrachte soziale Strukturen brechen weg, immer mehr Familien leben am Existenzminimum. Die öffentli- che und private Verschuldung steigt, viele Haushalte sind in der Schuldenspirale gefangen. Dazu eine Wirtschaft, die geführt wird von einer selbst ernannten Elite, die unverfroren eine neue Maßlosigkeit lebt, voller Gier und Bereicherungssucht. Dabei gibt sie vor, „Werte“ zu schaffen – es sind Werte jenseits gesellschaftlicher und sozialer Verpflichtung. Nur geschaffen, um Spekulanten und Aktienbesitzern einen guten Schnitt zu ermöglichen. Gelebtes soziales Gewissen gibt es nicht mehr, davon ist nur noch auf den Hochglanzbroschüren von Unternehmen oder Parteien zu lesen. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander, eine Entwicklung, die von den Politikern und den sie bezahlenden Lobbyisten befeuert und von anonymen Kapitalgebern gelenkt und gesteuert wird. Der Neoliberalismus feiert fröhliche Feste, auch deshalb legt er die Deutungshoheit über den Begriff „arm“ selbst fest – ein Feigenblatt schon mit Blick auf Harz IV-Empfänger wie Alleinerziehende.

Allerdings kann diese Elite von „Leistungsträgern“ selber heftig jammern. Dann, wenn sie für ihr Verhalten an den Pranger gestellt wird. Gleichzeitig klagt sie über zu hohe Sozialpläne für die Mitarbeiter und verfügt über Massenentlassungen. Wenigstens spricht sie deutliche Worte: Vor Gericht tritt sie schon zu Beginn der Verhandlungen lächelnd auf, die Hand mit dem Siegeszeichen erhoben. Offen wird gefordert, auch die wenigen Paragra- fen, aus denen eine etwaige Schuld wie Veruntreuung abgeleitet werden könnte, aus den Gesetzbüchern zu streichen. Sonst würde sie in ihrem unternehmerischen Handeln eingeschränkt. Klare Worte. Sie zeigen an, was uns in Zukunft erwartet. Moral und Anstand werden für sie keine Hindernisse mehr sein, die künftig geltenden Werte werden von diesen Herren in ihrem Sinne definiert.

Wie es aussieht, wird nichts diese Entwicklung stoppen. Das Bild, das sich darbietet, ist ein hartes, kantiges Gemälde. Sperrig und schwer zu verdauen. Mich fröstelt innerlich bei seinem Anblick, Kälte überzieht das Land und hält es mit hartem Griff gefangen.

 

Rüdiger Schaller:

In die Stille. Essay

Ihleo Verlagsbüro

240 Seiten, € 19,95

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