Schwester Tod

 In Allgemein, FEATURED, Gesundheit/Psyche, Philosophie, Spiritualität
Die moderne Gesellschaft pflegt eine ungesunde Beziehung zur Sterblichkeit des Menschen. Der Tod ist in Verruf geraten. Die Menschen meiden den Gedanken an ihn. Taucht er dennoch in ihrer Wahrnehmung auf, dann inmittten des schrillen Getöses der Medien, in Filmen erfinderisch inszeniert, in Nachrichten quotenträchtig und mahnend kolportiert als Folge von Krieg, Seuche und Elend. Gesellschaftlich sitzt der Tod am Katzentisch, in Altenheimen, Hospizen; ausgelagert aus dem Diskurs des guten Tons wartet er auf seine Überwindung durch biogenetische Eingriffe, Gehirnchips und andere Tricks aus der Wundertüte des Transhumanismus. Willy Meyer

 

„Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, den leiblichen Tod;
ihm kann kein Mensch lebend entrinnen.
Wehe jenen, die in schwerer Sünde sterben.
Selig jene, die sich in deinem heiligsten Willen finden,
denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.“

So preist Franz von Assisi (1181 bis 1226) Gott in der neunten Strophe seines Sonnengesangs (1). Er nennt den Tod „unsere Schwester“, erklärt ihn also als Teil der menschlichen Familie, als eine Wesenheit, die ebenso selbstverständlich ist, wie wir ihr ganz natürlich und untrennbar verbunden sind. Er selbst ist schwer krank, als er das schreibt, und er findet Halt und Zuversicht in seinem festen Glauben an Gott, an seine eigene unsterbliche Seele und den ewigen Frieden der Gott Zugewandten. Sein Blick auf das Leben geht also über die rein irdische Existenz hinaus und schließt das Weiterleben der Seele nach dem physischen Tod selbstverständlich mit ein.

Auch wenn Michel de Montaigne (1533 bis 1592) eine solche Sichtweise nicht rundweg zurückweisen wollte, so richtet er sein Augenmerk vor allem achtsam auf das Leben, ohne deswegen jedoch dem Tod angstvoll gegenüberzustehen: „Ce n‘est pas la mort que je crains, c‘est de mourir“ (deutsch: Nicht den Tod fürchte ich, sondern das Sterben) und „Nous troublons la vie par le soin de la mort; l‘une nous ennuie, l‘autre nous effraye“ (deutsch: Wir trüben das Leben mit der Sorge um den Tod; das eine verdrießt uns, das andere erschreckt uns) (2).

Für den Humanisten gilt es vor allem, das Leben zu würdigen und es sich nicht vom Gedanken an den unvermeidlichen Tod vergällen zu lassen. Diese von lebenskluger Innenschau zeugende Erkenntnis stellt eine neue Haltung dar, dem Tod zu begegnen, nachdem er in den Pestzeiten des Mittelalters besonders als erbarmungsloser Sensenmann oder Schnitter die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, wovon die vielen schriftlichen wie bildlichen Darstellungen des Totentanzes beredtes Zeugnis ablegen (3) und worauf Giovanni Boccaccio (1313 bis 1375) in „Il Decamerone“ eine erste hedonistische, sehr diesseitige Antwort gab.

Verabsolutierte Sinnlosigkeit

Den Tod als Ergebnis unkontrollierbarer, düsterer Kräfte inszeniert Herman Melville (1819 bis 1891) in seinem Roman „Moby-Dick“, in dessen letztem Kapitel der weiße Wal alle bis auf den Erzähler, der in einem treibenden Sarg überlebt, ins Verderben reißt, ganz gleich, wie fromm, heidnisch oder egozentrisch die Figuren ihr Leben führten. So muss selbst der Erste Steuermann Starbuck, Inbegriff christlicher Rechtschaffenheit, abtreten und klagt verbittert: „Let not Starbuck die! (…) Is this the end of all my bursting prayers? All my life-long fidelities?“ (4).

Diese pessimistische Sicht auf Leben und Tod wird mit dem Siegeszug der im Materialismus wurzelnden Evolutionstheorie von Charles Darwin schnell prägend für die naturwissenschaftshörigen Gesellschaften des Westens. Religion, Gott, Transzendenz — das sei alles eine bloße Chimäre, erfunden und geeignet, dem einfachen Volk das freudlose Dasein im weltumspannenden Industriekapitalismus mit der Vision auf ein besseres Leben nach dem Leben zu versüßen (5).

Obgleich die Annahme, alles Leben und sogar unser Bewusstsein seien das Zufallsprodukt ungesteuerter materieller Prozesse — und der physische Tod damit das absolute Ende des Individuums —, bis in unsere Zeit eine einzigartige Anziehungskraft auf Philosophie, Soziologie und Wissenschaft ausübt, blieb sie schon im Augenblick ihres Entstehens nicht unwidersprochen.

In bewegenden Worten und mit ergreifender Metaphorik setzen sich beispielsweise die amerikanischen Dichter Emily Dickinson (1830 bis 1886) und Robert Frost (1874 bis 1963) mit einer weiter gefassten, transzendenten Auffassung des Todes und seiner Bedeutung für den Menschen auseinander. In „Because I could not stop for Death“ (deutsch: Da ich für den Tod nicht halten konnte) porträtiert die Dichterin den Tod als Kavalier, der freundlich seine Kutsche in Richtung Unsterblichkeit und Ewigkeit für sie anhält. Auf das lyrische Ich in Frosts „Stopping by Woods on a Snowy Evening“ (deutsch: Innehalten am Waldrand an einem verschneiten Abend) wirkt der Tod wie lang ersehnter Schlaf nach des Lebens Mühe (6).

Mehrdimensionale Sichtweisen

Eine gänzlich andere Antwort auf das Mysterium des Todes gibt Raymond Moody, der sich mit Nahtoderfahrungen verschiedener Menschen befasst (7) und dessen Niederschriften der Erlebnisse Betroffener unzweideutig nahelegen, dass wir neben unserem grobstofflichen Körper auch über einen feinstofflichen Körper und eine Seele verfügen, deren Wege sich im Moment des Todes trennen. Aus dem Nahtod Zurückgekehrte berichten teilweise auch von Begegnungen mit Wesenheiten, die Armin Risi Lichtwesen nennt, welche den Verstorbenen erste Orientierung in einer für sie neuen, höheren Dimension geben (8). Der Tod ist mithin nicht das Ende aller Dinge, sondern ein Portal in eine andere Dimension des Seins, ganz so wie es alle Religionen weltweit verkünden.

Risi und Moody beziehen damit eine der gängigen naturwissenschaftlichen Weltsicht diametral entgegengesetzte Position. Letztere negiert jegliche nicht materialistischen Erklärungsansätze unseres Daseins.

„In einer Welt der Tatsachen ist der Tod nur eine Tatsache mehr. Da er aber eine unangenehme Tatsache ist, (…) versucht die ‚Philosophie des Fortschritts‘, (…) seine Existenz hinwegzuzaubern“ (9).

Was Octavio Paz hier schreibt, deklamierte schon Macbeth nach dem Tod seiner Gattin:

„Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow
Creeps in this petty pace from day to day
To the last syllable of recorded time;
And all our yesterdays have lighted fools
The way to dusty death. Out, out, brief candle,
Life‘s but a walking shadow, a poor player
That struts and frets his hour upon the stage
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury
Signifying nothing“
(Macbeth, V, 5, Vers 19 bis 27).

(„Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,
Zur letzten Silb’ auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gestern führten Narr’n
Den Pfad des stäub’gen Tods. – Aus! kleines Licht! –
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn’, und dann nicht mehr
Vernommen wird: ein Märchen ist’s, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet“ (10).)

Wenngleich Macbeth hier freilich keine neuzeitliche Wissenschaftssicht vertritt, so postuliert er für alles Leben die gleiche lineare Finalität, der auch heutzutage die meisten Menschen spontan zustimmen würden – der Tod ist das Ende von allem und beschließt ein zufällig entstandenes, an sich sinnloses Sein.

Moderne Bemühungen des Verdrängens

Mit diesem dermaßen verabsolutierten Tod möchte der moderne Mensch möglichst gar nichts mehr zu tun haben. So überweist er ihn an die moderne Medizin, in Krankenhäuser und Altenheime, wo das Leben fast um jeden Preis verlängert, das Sterben hinausgezögert wird.

Der Tod wird outgesourct, er ist kein natürlicher Prozess mehr, sondern das Ergebnis medizinisch-betreuerischen Handelns; er möge möglichst schnell, schmerz- und leidfrei, doch würdevoll vonstatten gehen.

Bis dahin blenden die meisten Zeitgenossen ihn aus, es gibt ja so viel zu tun, man ist abgelenkt, gefordert, wird unterhalten und hat nur nebenbei den Kopf kurz frei, um — für den Fall des Falles — mithilfe vieler professioneller Anbieter das eigene Ableben im Vorwege reibungslos zu organisieren.

Dystopisch auf die Spitze treibt die amerikanische Autorin Lois Lowry in ihrem Roman „The Giver“ (1993) das menschliche Unbehagen vor dem Tod, indem sie eine Zivilisation erfindet, in welcher der Tod ganz und gar aus dem menschlichen Bewusstsein getilgt ist. Wofür man keinen Begriff hat, das kann es auch nicht geben. Hier sterben die Menschen nicht mehr, sie verlassen ihre Gemeinde lediglich, um ihr Leben an einem „Elsewhere“ (Anderswo) genannten Ort fortzusetzen, im Alter stets nach einer speziellen Abschiedszeremonie, der die Figuren des Romans durchweg aufgeschlossen und erwartungsfroh gegenüberstehen. Diese hier mit festlicher Feierlichkeit übertünchte staatlich verfügte Euthanasie tritt in all ihrer herzlosen Abscheulichkeit unmissverständlicher zutage, wenn aus Gründen der Gesellschaftsplanung und -kontrolle einer von eineiigen Zwillingen nach der Geburt getötet wird. Selbst die Tötenden begreifen nicht, was sie tun; dies erkennt erst der junge Protagonist, als in ihm durch historisches Wissen ein Gewissen reift.

Der missbrauchte Tod

Dass ein solch marginalisierter, perspektivloser, ungebetener Tod sich hervorragend dazu instrumentalisieren lässt, um Menschen zu lenken, indem man sie in furchtbare Angst vor ebendiesem Tod versetzt, wissen auch Mächtige, Medien und Werbetreibende, wie zum Beispiel die weltweit agierende Werbeagentur Hill & Knowlton, die von der Weltgesundheitsorganisation dafür bezahlt wurde, in der Öffentlichkeit die Angst vor COVID-19 zu schüren (11), oder ungezählte sogenannte Qualtitätsmedien, die mit tendenziös lancierten Fotos aus Lampedusa und Bergamo global gezielt Panik auslösten (12).

Die Menschen fürchten den Tod, denn er ist ihnen fremd geworden, ganz so wie sie sich von sich selbst entfremdet haben. Längst kein Teil mehr ihrer gegebenen Familie, empfinden sie ihn als feindselig und übergriffig – es gilt, ihn endgültig zu besiegen, mit Wissenschaft und Technik, mit hochgerüsteter Medizin, genmanipulierender Pharmakologie oder nanochipgroßen Implantaten.

Immer schneller schreiten Forschung und Technologisierung voran, der Mensch rennt um sein Leben, auf der geraden Linie des unendlichen Fortschritts gibt es kein Links oder Rechts, schon gar kein Zurück, kein Innehalten. Tempus fugit — die Zeit flieht, der Mensch mit ihr. Immer neuere Erkenntnisse müssen her, eine immer schnellere Technik – und so läuft dieser Mensch fort von sich selbst, von seinem eigentlichen Wesen, dessen biologischer — grobstofflicher — Körper hier auf der Erde begann und auch hier auf der Erde enden wird. Doch seine Seele war schon immer da und wird immer da sein in dieser mehrdimensionalen Welt, die im naturwissenschaftlich-technischen Zeitalter auf drei Dimensionen zusammengeschrumpft ist.

Tod als Teil der Einheit

Der Mensch ist mehr als seine biologische Masse; sein Bewusstsein ist kein Zufallsprodukt zielloser Stoffwechselprozesse in seinem Körper, sondern die Manifestation göttlicher Schöpferkraft. Das meint Lukas, wenn er sagt: „Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden; denn ihm leben sie alle“ (Lukas 20, 38). Das physische Leben und der physische Tod gehören zusammen und bilden die zwei Pole unseres relativen Daseins auf Erden. Enden sie, geht unsere Seele dahin ein, woher sie gekommen ist: in die Absolutheit der Ewigkeit.

Vergehen und Sterben sind ebenso Teil der Schöpfung wie Wachsen und Gedeihen. Es ist nicht unsere Aufgabe, diesen immerwährenden Zyklus auf Linie zu bringen. Denn in seiner unendlichen Harmonie übersteigt er unser Begreifen. Doch Leben und Tod sind Teil unserer Natur und gehören zusammen wie Bruder und Schwester. Achten und lieben wir sie, so finden auch wir Frieden und Liebe.

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.franziskanerbrueder.de/sonnengesang
(2) https://citation-celebre.leparisien.fr/auteur/michel-de-montaigne?theme=mort
(3) https://www.emmaus.de/ingos_texte/totentanz.html
(4) Herman Melville, Moby-Dick. Penguin Classics 1986, Seite 682
(5) http://www.dober.de/religionskritik/marx1.html
(6) Emily Dickinson, Because I could not stop for Death;
Robert Frost, Stopping by Woods on a Snowy Evening, in: The Norton Anthology of American Literature Vol. 1 and 2, New York 1989
(7) Raymond Moody, Leben nach dem Tod – Die Erforschung einer unerklärten Erfahrung. Rowohlt Verlag 1977
(8) Armin Risi, Ihr seid Lichtwesen. Govinda Verlag 2013
(9) Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit. Suhrkamp 1998, Seite 62
(10) http://www.zeno.org/Literatur/M/Shakespeare,+William/Trag%C3%B6dien/Macbeth/F%C3%BCnfter+Aufzug/F%C3%BCnfte+Szene
(11) https://uncut-news.ch/wp-content/uploads/2020/07/PR-Agentur-Hill-Knowlton-die-verantwortlich-f%C3%BCr-Brutkastenl%C3%BCge-war-ist-f%C3%BCr-die-WHO-t%C3%A4tig.pdf
(12) https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-movie-theatre/

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Kommentare
  • Marco K.
    Antworten
    Ja, mi dem Angst vor dem Tod kann man die Menschen beherrschen. Unfassbar, was in den letzten 3 Jahren in Deutschland passiert ist. Es kommt mir  gelegentlich vor wie ein Albtraum, aber es ist wirklich passiert, das gab es wirklich,die kleine Begebenheit im Supermarkt ist kein Einzelfall, sondern steht exemplarisch, für die Situation, den Alltag den wir alle erleben durften, in unserem ach so wunderbaren Land, ich werde das niemals vergessen! :

    https://twitter.com/i/status/1622223745275334658

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