Skandinavien macht es besser

 In Buchtipp, FEATURED, Politik (Ausland), Wolf Schneider

Warum stehen die skandinavischen Länder in internationalen Rankings in so vieler Hinsicht immer in den Top-Positionen? Wo sind die Menschen am glücklichsten, wo auf der Welt gibt es am wenigsten Armut und wo den stärksten sozialen Zusammenhalt? Wo die beste Bildung und für alle Schichten gute medizinische Versorgung, und wo funktioniert die Demokratie auch einigermaßen und bringt nicht bevorzugt Psychopathen, Narzissten und zur Autokratie neigende Populisten in die Spitzenpositionen? Wo hat die Bevölkerung Vertrauen in die staatlichen Institutionen? In alledem sind die Länder Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland fast immer in den Rankings der Nationen der Welt ganz oben zu finden. Woran liegt das? Wolf Schneider, www.connection.de

Warum stehen die skandinavischen Länder in internationalen Rankings in so vieler Hinsicht immer in den Top-Positionen? Wo sind die Menschen am glücklichsten, wo auf der Welt gibt es am wenigsten Armut und wo den stärksten sozialen Zusammenhalt? Wo die beste Bildung und für alle Schichten gute medizinische Versorgung, und wo funktioniert die Demokratie auch einigermaßen und bringt nicht bevorzugt Psychopathen, Narzissten und zur Autokratie neigende Populisten in die Spitzenpositionen? Wo hat die Bevölkerung Vertrauen in die staatlichen Institutionen? In alledem sind die Länder Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland fast immer in den Rankings der Nationen der Welt ganz oben zu finden. Woran liegt das?

1830 gehörten diese Länder zu den ärmsten in Europa. Es waren Bauernländer ohne Industrialisierung, und nur die Elite konnte lesen und schreiben. Niemand hätte damals im Verdacht gestanden, wegen des Geldes nach Skandinavien zu fliehen, schon gar nicht bei diesem Klima, schreiben die Autoren Anderson und Björkman zu Beginn ihres Buchs »Das skandinavische Geheimnis«. Doch dann änderte sich etwas. Der dänische Pfarrer, Dichter, Philosoph und Pädagoge Nikolai Frederik Severin Grundtvig initiierte um die Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Land Reformen, welche die skandinavischen Gesellschaften sukzessive so transformierten, dass sie ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den fortschrittlichsten der Welt zählten.

Vom Pfarrer zum Bildungsreformer

Aus einem Pfarrhaus stammend, studierte Grundtvig Theologie, wurde selbst Pfarrer und vertrat zunächst ein bibelnahes, lutheranisches Christentum. Erst um 1832, im Alter von fast 50 Jahren, wandte er sich der Aufklärung und dem Humanismus zu. In dieser Zeit bildete sich sein Grundsatz »zuerst Mensch, dann Christ«. Ab etwa der Märzrevolution von 1848 in Dänemark wurde Grundtvig immer politischer, setzte sich für Religionsfreiheit ein, unterstützte die beginnende Frauenbewegung und statt einer Schulpflicht die Freiheit der Wahl eines eigenen Bildungsweges. 1844 gründete er die erste Folkehøjskole, in der junge Erwachsene nach ihrer Schulzeit, in der Zeit ihrer wichtigsten Lebensentscheidungen, in einer Art Internat zusammenlebten, begleitet von fähigen Pädagogen. Dort wurden die Schüler nicht benotet, und die Lehrer ließen sich in der Wahl der Themen vom Interesse der Schüler leiten. Kreativität, Mitgefühl, Weisheit, Identifikation und Gleichheit waren die hohen Ziele dieser Folkehøjskole, die nur vom Namen her den deutschen Volkshochschulen gleichen; vom pädagogischen Anspruch und der Dauer ihrer typischen Kurse (3 bis 5 Monate) her waren sie was ganz Anderes.

Bildung statt Ausbildung

Inspiriert von den Bildungsideen von Herder, Goethe, Schiller, Fichte, Wilhelm von Humboldt und Pestalozzi wählte Grundtvig für diese Art der Begleitung der jungen Erwachsenen den deutschen Begriff der »Bildung« und führte ihn in die skandinavischen Sprachen ein. Er versteht darunter Prägung des Charakters eines Menschen in sehr vielfältiger Weise, heute würden wir wohl sagen: in ganzheitlicher Weise. Im Gegensatz zum heute in Deutschland dominierenden Begriff der Ausbildung, welche den Erwerb einer beruflichen Kompetenz bezeichnet, ist Bildung in diesem Sinne die Erweckung einer breiten Palette an Fähigkeiten, darunter Selbsterkenntnis, soziale und emotionale Kompetenzen, das Verstehen ethischer Zusammenhänge und der Bedeutung von Politik und Philosophie für den Einzelnen und das soziale Ganze.

Von den skandinavischen Ländern übernahm als erstes Norwegen Grundtvigs Idee der Folkehøjskole, dann Schweden und ab 1920 schließlich auch Finnland. Dieses zwanglose, monatelange Lernen gibt es auch heute noch in den dänischen Folkehøjskole, schrieb Christoph Titz (im Deutschlandfunk 2015) nach dem Besuch einer solchen im dänischen Testrup und wünscht sich das nun auch für Deutschland.

Gibt es sowas auch in Deutschland?

Seit 1919 gibt es solche »Heimvolkshochschulen« auch in Deutschland, allerdings viel seltener als in Skandinavien und in der Zivilgesellschaft weniger akzeptiert und verankert. Nach dem zweiten Weltkrieg sollten diese Schulen wiederbelebt werden, auch um der nationalsozialistischen Erziehung etwas entgegenzusetzen, und es schlossen sich 1951 die von der katholischen und evangelischen Kirche sowie von den Bauernverbänden getragenen ländlichen Heimvolkshochschulen zum Verband der Bildungszentren im ländlichen Raum e.V. zusammen.

An einer dieser Heimvolkshochschulen, in Hermannsburg, einer 8000-Seelen-Gemeinde in der Lüneburger Heide, übernahm die Theater- und Musikpädagogin Imke-Marie Badur 2003 den Winterkurs. Wegen schwindender Schülerzahlen hatte diese Heimvolkshochschule wie so viele andere sich kaum aufrecht erhalten lassen. Imke-Marie übernahm diese Aufgabe jedoch mit so viel Schwung und Überzeugungskraft, dass die jungen Leute auf einmal wieder begeistert dort hinströmten und die Idee dieser Art der Bildung wiederbelebt werden konnte. Fünf Jahre lang führte sie dort den Winterkurs, dann waren die Schranken, die ihr dort durch das lutherische Christentum auferlegt wurden, zu eng.

Die Idee einer solchen Orientierungszeit für junge Erwachsene ließ sie jedoch nicht los, und so begann sie im Jahr 2019 erneut, sich dafür einzusetzen. Aber nun anders: in einer ganzheitlichen und transreligiosen Weise und dem Zeitalter des Internet gemäß. Andere begeisterte Aktivisten einer neuen Art der Bildung – oder viel mehr: einer Besinnungspause auf der landesüblichen Ausbildungsautobahn – schlossen sich ihr an und begannen das Projekt umzusetzen. Daraus ist im Jahr 2021 der Bachelor of Being entstanden, der sich nun auf den Beginn eines ersten solchen Kurses freut: ab Ende Oktober in einem Naturschutzgebiet auf einer Halbinsel bei Kassel. Dort in den historischen Gebäuden des Kragenhofs beginnt nun der erste 5-Monats-Kurs nach diesem ganzheitlichen Konzept.

Bildung? Nein danke

Im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern ist der Begriff der Bildung, umso mehr der der Volksbildung, in Deutschland heute nicht durchweg positiv besetzt. Das liegt teils an der angestaubten Aura des alten Bildungsbürgertums, das sich elitär gebärdete und gerne auf die »Ungebildeten« hinabschaute; teils an der nationalsozialistischen Volksbildung der Jahre 1933 bis 1945; teils auch an den Ent-Bildungstendenzen (»Nothing to lose but your mind«) des Growth Movement in den westlichen Ländern seit den 1970er Jahren. So dass das Wort »Bildung« für heute um die 20-Jährigen nicht mehr so sexy klingt, wie vielleicht noch für Schiller und Goethe.

Ganzheitlich und nachhaltig aber sollen die heutigen Schulen doch sein, das wünscht sich eine große Bandbreite von Reformern. Bildung sollte Kunst und Körper einbeziehen, Liebe und Sex nicht verachten, den Biotop und die Biodiversität schützen und die ‚Auszubildenden‘ nicht zu sehr auszubilden. Ausbildung kann auch eine Einengung des Horizonts sein, deshalb wollen die heutigen Orientierungszeiten für junge Menschen ihnen viel Freiheit lassen, auf je individuelle Weise sie selbst zu sein. Oder besser: sie selbst erst noch zu werden, denn jede Persönlichkeit muss reifen.

Auf in die Metamoderne!

Das »Skandinavische Geheimnis« von der Dänin Lene Rachel Anderson und dem Schweden Thomas Björkman erschien im November 2017 auf Englisch unter den Titel »The Nordic Secret«. Es ist ein in der deutschen Fassung 570-seitiges, gewaltiges sozial- und bildungsgeschichtliches Werk, das die Geschichte der skandinavischen Zivilgesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert ausführlich und kenntnisreich beschreibt. Insbesondere fokussiert es auf die Entstehung und Entwicklung von Grundtviks Folkehøjskolen und den Folgen dieser Idee in den einzelnen Ländern Skandinaviens, und es schließt mit einer Debatte darüber, was wir heute daraus lernen und davon übernehmen können.

»Angesichts der Atomisierung der Gesellschaft, die durch Kulturradikalismus, Postmoderne und Der-Markt-als-Theologie gefördert wird, muss die Metamoderne Wege zur Inklusion in alle Kreise der Zugehörigkeit anbieten, wenn das Heimweh nach ihnen auftaucht oder sich entwickelt«, fordern Andersen und Björkman gegen Ende ihres Buch und beziehen sich mit »Kreisen der Zugehörigkeit« auf verschiedene Stadien der Ich-Entwicklung. Dieses Ich-Entwicklungsmodell hat einige Ähnlichkeiten mit dem Integralen Modell der Spiral Dynamics, v.a. in der Hinsicht, dass es fordert, bei der Entwicklung eines Individuums alle Kreise einzubeziehen. Alle diese Kreise behalten ihre Gültigkeit, auch wenn das Individum sich höher bzw. zu mehr Komplexität hin entwickelt und dürfen nicht verachtet werden.

Andersen und Björkman schließen mit den Worten: »Unser Ziel mit diesem Buch war und ist ein zweifaches: eine Erfolgsgeschichte über den gesellschaftlichen Wandel vorzustellen und ein Gespräch zu beginnen, vielleicht das wichtigste in unserer Generation: Was für eine Art von Spezies wollen wir sein, und wie machen wir das rund um den Globus sinnvoll? Wie werden wir zu einer unsere eigene Identität selbst erschaffenden (im Original: self-authoring) Spezies, und können wir uns selbst transformieren?«

 

Das skandinavische Geheimnis – eine europäische Geschichte von Schönheit und Freiheit. Von Lene Rachel Anderson & Thomas Björkman. 2020 im Phänomen Verlag erschienen. 570 Seiten, SC, 24.95 €.

Spender von 200 € in unserem Crowdfunding für den Bachelor of Being erhalten auf Wunsch ein Exemplar dieses Buchs als Zeichen unseres Dankes für ihre Spende.

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