Tanz im Dunkeln
Bruce Springsteen resümiert Leben, Liebe und Rock’n’Roll in seiner Broadway-Show, die nun auf Netflix beguckt werden darf. Wer ein gewisses Übermaß an Sentimentalität aushält, bekommt gute Tipps, wie die eigenen Teufel gebändigt werden können und sich guten Geistern huldigen lässt. Frank Jödicke, www.skug.at
Ein erfolgreicher Künstler habe die rechte Mischung zwischen Heiligem und Krawattenverkäufer zu finden, sagte einst Frederico Fellini. So war das in den guten alten Tagen, heute sind die meisten Stars leider reine Krawattenverkäufer. Bruce Springsteen entstammt aber noch dieser goldenen Generation, die von sich selbst eine gewisse existenzielle Tiefe erwartete und diese auch ihrem Publikum zumutete. Dafür muss man ihn natürlich ein bisschen liebhaben. Und für seine herzige Aufrichtigkeit. Gleich zu Beginn seiner Show »Springsteen on Broadway« (Netflix) gibt er zu, er exerziere einen Zaubertrick und der müsse eben als Trick, Kniff, ja sogar Betrug begriffen werden. (Also Dinge, die man halt macht, wenn man Krawatten verkaufen will.) Er habe nämlich nie das Innere einer Fabrik gesehen und nie einen »honest job from nine to five« gehabt. Gleichwohl habe er immer darüber gesungen. »That’s how good I am.« Stimmt. So ist das mit der Kunst. Dilettant*innen werden nie verstehen, warum die Einfühlung wichtiger als das persönliche Erleben ist. Was man selbst erlebt hat, ist unbedeutend gegenüber dem, was imaginiert werden kann. Dass dieses reine Imaginieren gelingt, ist allerdings wiederum ein wenig »echter Zauber« und den hat der Herr Springsteen und deswegen ist er eben auch ein wenig ein Heiliger.
1 + 1 = 3
Springsteen erzählt das Drama seines Lebens als eine Selbstermächtigung durch Rock’n’Roll und die ist natürlich relativ gut ausgegangen für jemanden, der es gewohnt ist, vor 80.000 Menschen zu trällern. Auf die Gefahr hin, an dieser Stelle alle Springsteen-Fans als Leser*innen zu verlieren (bitte unbedingt trotzdem weiterlesen, denn der Gedanke endet äußerst Bruce-freundlich), muss gesagt werden, seine Musik ist ja gar nicht sooooo umwerfend. Mit musikalischen Einfällen hat er es sicher nicht übertrieben und irgendwelcher Innovation hat er sich auch nicht schuldig gemacht. Er ging mit Gitarre und Mundharmonika einen relativ eng abgesteckten Weg, den er mit vergleichsweise austauschbaren Songs pflasterte. Aber das war nicht so wichtig, denn er hat dabei immer feste nachgedacht und sorgfältig gelauscht auf das, was ihn anflog. Weil ihm dies einzufangen gelang, ist er ein wirklich guter Künstler.
Er selbst wundert sich, was dies Einfangen eigentlich war. Das Leben, das er nicht mochte und vor dem er ein Leben lang wegrannte (genau: »Born to Run«), ist eines einer simplen Addition. Hier wird aus eins und eins zwei. Ohne klare Ahnung, wie es anders gehen könnte, aber mit der Gewissheit, dass dies nicht ausreicht, hatte er sich auf die Suche nach der Magie und dem Zauber der Kunst begeben, der es erlaubt, aus eins und eins drei zu machen. Erklären lässt sich dies natürlich nicht so leicht. Auch schlichte Gemüter begreifen, dass dies nicht mehr Mathematik ist und es somit auch keinen Versuchsaufbau geben kann, der die Übersumme im Ergebnis nachvollziehen lässt. Allerdings gibt Springsteen ein paar Hinweise aus seinem eigenen Erleben und die sind (Achtung!) echte Praxistipps für Musiker*innen. Worum es letztlich geht, ist menschliches Zusammensein in der Kunst, für die Kunst und durch die Kunst.
Bei einer Band sei es nicht so wichtig, wie gut die einzelnen Mitglieder ihre Instrumente beherrschen. Entscheidend sei, wie weit man einander verstehe. Und dies in einem feinstofflichen, fast magischen Sinn. Wenn Springsteen den Saxophonisten der E Street Band Clarence Clemons spielen hörte, dann hörte er darin eine Story, die ihm dieser erzählte und die von Clemons selbst gar nicht als solche begriffen werden konnte. Aber Springsteen konnte einen Song draus machen. Die beiden waren zusammen eben drei, ohne je sagen zu können, woher dieses zusätzliche Element je kam. Bands sollten einzig anhand dieses Kriteriums zusammengestellt werden. Nur – zugegeben – diese Art interpersonaler Harmonie ist selten und halt ein bisschen magisch.
Der Schatten des Vaters
Springsteens Lebensweg war geprägt von einem strengen Grundsatz. Er wusste, er würde nur Kunst machen können, wenn er immer seiner Lust folgen würde. Nur der Fun, die Musik und das Tanzen sind entscheidend. Sobald er anderen Kriterien folgte, war er als Künstler aufgeschmissen. Seitdem der »deutsche Idealismus« die ästhetische Urteilskraft aufgeschlüsselt hat, wissen wir, dass dies ohne Frage stimmt. Springsteen lernte dieses Prinzip nach eigenen Angaben von seiner Mutter. Allerdings verläuft so kein Leben, als ein einziger Zuckerschleck, nicht mal das des erfolgreichsten US-Rockers. Es kommen die Stürme, es kommen die Traurigkeit und der Verlust. Springsteen konnte irgendwann sehr klar erkennen, welche Bedrohungen ihn tief treffen würden und warum dies so war. Eine psychologisierende oder gar pathologisierende Exegese eines Künstlers ist immer ein wenig öde und distanzlos. Allerdings, wenn der Künstler sie selbst anbietet, dann muss sie wohl auch ernst genommen werden.
Vor der Realität der Dunkelheit in den Augen seines Vaters habe er sich immer gefürchtet. Dabei war sein Vater immer sein Held gewesen. In ihm habe er »manhood« vorgelebt gefunden und dieses männliche Leben voller Bewunderung nachahmen wollen. Die Depression des Vaters entdeckte er erst spät. Deswegen konnte diese in Springsteen hineinsickern und Besitz von ihm ergreifen. Er musste die Trauer seines Vaters an dessen Stelle ausleben und jetzt verstehen wir jede Zeile von »Dancing in the Dark«. Es ist die Beschreibung einer ererbten Depression. Der starke, mächtige Ire war in den Fabriken von Ford und Nestlé eines Tages kaputt gegangen. Sein Sohn hat dies den Werkshallen und ihrem »Grind« nie verzeihen, weshalb er folgerichtig niemals einen Fuß in die Folterkammern setzte. Es musste anders gehen, mit spät aufstehen und Rock’n’Roll die ganze Nacht.
Kurz bevor Springsteen, der zu dieser Zeit hunderte Meilen von seinen Eltern entfernt wohnte, selbst Vater werden sollte, setzte sich sein alter Herr ins Auto, fuhr die ganze Nacht und besuchte unangekündigt den Sohn. Zu sagen hatte er nur einen einzigen Satz: »Ich habe dich nicht gut behandelt und ich bitte dich, wiederhole bei deinen eigenen Kindern nicht meine Fehler.« Alle Menschen, die einen Vater haben (somit die meisten im Publikum), werden verstehen, weshalb Bruce Springsteen auch bei der hundertsten Aufführung dieser Satz nicht leicht über die Lippen geht. Für die beiden war es ein einzigartiger Moment, der beste, den Springsteen mit seinem Vater hatte. Der Moment, in dem jener generationenwährende Fluch, der auf den irischen Arbeitervätern lag, gebrochen wurde. Leben ist nicht nur dieses vermaledeite katholische Leid. Der Vater gab den Sohn frei aus der Knechtung der verrückten Erbschuld.
Niemals geht man so ganz
Springsteens Flucht endete in einem Haus, das heute zehn Minuten entfernt von dem seiner Eltern steht. Der katholische Ire, der in jungen Jahren bald kapierte, dass es in New Jersey keine Rettung geben kann, kehrte somit zurück. Heute ist er ein kritischer Intellektueller, der sich mit vollem Recht um all die Errungenschaften sorgt, die seine Generation und vorherige teils mit Blut erkaufen mussten und die heute sowohl aus Blödheit, als auch aus Bosheit hergeschenkt werden. Trauernd wandert er auf den alten Pfaden seiner Heimatstadt und muss sehen, wie sich vieles gewandelt hat. Die Leute, die er kannte, sind tot oder weggezogen, aber die Gegenwart ihrer Seelen scheint Springsteen immer noch zwischen den alten Häusern gegenwärtig. Ein großer Baum, der in der Nähe jener Kreuzung stand, an der sich sein Elternhaus befand, wurde vor Kurzem gefällt. Springsteen greift in den Staub, wo der Stamm des Baumes gewesen sein muss und wo nun im Erdreich die toten Wurzeln liegen mögen. Er erinnert sich jener Sprüchlein, mit denen er in seiner katholischen Schule zu Tode gelangweilt wurde: »Vater unser im Himmel«. Wenn er sich etwas wünschen dürfe, dann dass sein Dad diese Show sehen könnte. Nach dem Rezitieren des »Vater unser« spielt Bruce Springsteen noch »Born to Run« und die Chose ist aus. Das Publikum nimmt mit nach Hause, dass manche Flucht im Kreis verläuft und dennoch sinnvoll und gut sein kann.