Tausche Leid gegen Glück

 In FEATURED, Politik, Umwelt/Natur, Wirtschaft

Rund um den Globus wächst die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Die Psychologie hat angesichts der Ratlosigkeit, in der sich die Menschheit zurzeit befindet, den Begriff der kognitiven Dissonanz geprägt. Wir sehen uns einem Übermaß an Problemen gegenüber, während wir gleichzeitig glauben, dass es dafür keine Lösungsmöglichkeiten gibt. Kognitive Dissonanz. Ein unangenehmes Gefühl. Vor allem, wenn es sich wie ein schleichendes Gift in die Gesellschaft frisst. (Dirk C. Fleck)

Um dieses Gefühl abzumildern, um an ihm also nicht verrückt zu werden, bleibt uns nur eines: die Probleme in ein anderes Licht zu rücken. Wenn wir sie schon nicht lösen können, so unsere stille Übereinkunft, können wir doch wenigstens unsere Einstellung zu ihnen ändern. Also verharmlosen, vertuschen und verdrängen wir pausenlos, darin sind wir wirklich brillant.

Veranschaulichen wir uns unser Verhalten einmal bildhaft: Wir haben Jahrzehnte lang in unser Wohnzimmer uriniert. Anstatt aber unsere Lebensweise zu hinterfragen, diskutierten wir lieber über die Saugfähigkeit des Teppichs. Erst jetzt, da der Sättigungsgrad des Teppichs erreicht ist, beginnen wir allmählich aufzuwachen. Dabei hätte es nicht zwangsläufig so weit kommen müssen.

Wir hatten unsere Chance, wir hatten sie immer. Wir konnten sie nur nicht nutzen, weil wir als politisches Gemeinwesen keine Idee besaßen, was und wer wir eigentlich sein wollten – jenseits unseres immer kümmerlicher werdenden Konsumentendaseins im Scheinpluralismus weniger Konzerne.

Eigentlich wissen wir es immer noch nicht. Deshalb glauben wir, dass die Lösung unserer Probleme ein Fall für die Wissenschaft geworden ist. Unsere Hoffnungen ruhen auf neuen Wissenschaftszweigen wie der Bionik, dem Geo-Engineering oder der Evolutionstechnik; wir träumen von molekularer Selbstorganisation und versuchen uns an der Züchtung von Stopfkrebsen zum Abdichten unserer Deiche. Wir hören von lernfähigen neuronalen Netzen und einer neuen Computer-Architektur, in der Hardware und Software zu einer Persönlichkeit verschmelzen. Aber verstehen tun wir nichts von alledem. Und wie immer, wenn wir nichts verstehen, wird es auch diesmal schief gehen.

Mit allem, was wir Menschen bisher angefangen haben, sind wir nämlich in die Absurdität des Gegenteils geraten. Mit dem Versuch, die Äcker fruchtbarer zu machen, haben wir sie zu Tode gefoltert. Mit dem Versuch, uns vor Feinden zu schützen, sind wir so nahe wie möglich an den großen Weltbrand, den dritten Weltkrieg, geraten. Selbst der Versuch zu heilen und zu helfen geriet immer mehr an die Grenzen der Unmenschlichkeit.

Unsere Aussichten, so könnte man angesichts der verheerenden Faktenlage meinen, sind alles andere als rosig.

Vielleicht braucht es die ultimative Katastrophe

Wie es aussieht, stellen die Meere und Wälder ihre globalen Dienstleistungen, die bislang jedem Menschen zugute kamen, demnächst ein. Damit würde der Klimastress zum Dauerzustand werden. Und wie es um das kapitalistische Wirtschaftssystem bestellt ist, brauche ich niemandem zu erklären. Schon jetzt fühlen sich Milliarden Menschen rund um den Globus betrogen und verarscht, sie sind frustriert, ausgebrannt und ohne Hoffnung. Es mag sarkastisch klingen: Aber vermutlich geht es nicht ohne eine so abgrundtiefe Enttäuschung, um eine wirkliche Bewusstseinsänderung herbeizuführen.

In den Herzen der Menschen sitzen nicht nur Wut und Enttäuschung, in Milliarden Herzen wächst etwas heran, was von unschätzbarem Wert ist: die Sehnsucht nach einer besseren Welt! Diese Sehnsucht ist schon heute mit Händen zu greifen und zwar überall auf der Erde. Die Menschen haben die Seele der Gier-Kultur endgültig satt.

Jetzt braucht es nur noch diesen einen berühmten Schmetterlingsflügelschlag, um das gewaltige Sehnsuchtspotenzial kurzzuschließen. Genau aus diesem Grunde ist es so wichtig, den Menschen positive Perspektiven zu bieten. Sie müssen wissen, dass es genügend Alternativen gibt, um sich aus den Fängen einer erbarmungslosen Wachstumsgesellschaft zu befreien. Sobald sie verstehen, dass es ohne weiteres möglich ist, sich gegenüber den Kapitalinteressen zu emanzipieren, dass es möglich ist, eine Gemeinschaft nach eigenen Vorstellungen aufzubauen, um wieder in den Genuss von Kommunikation und Mitmenschlichkeit zu kommen, werden sie auch den Mut finden, etwas Neues zu wagen. Diese Neuorientierung wird nicht gradlinig verlaufen und viele Irritationen mit sich bringen, aber sie wird den Menschen von Anfang an und bei jedem Schritt etwas zurückgeben, was ihnen solange gefehlt hat: Lebensfreude.

Es ist allemal besser, mit der Natur zu leben als gegen sie

Ich mag gar nicht daran denken, was an kreativen Kräften alles freigesetzt wird, wenn sich die Gemeinschaften auf regionaler Ebene neu organisieren. Wenn immer mehr Menschen verstehen, dass es allemal besser ist, mit der Natur als gegen sie zu leben. Wenn wieder natürliche Kreisläufe in Gang gesetzt werden und eine nachhaltige Wirtschaftsordnung entsteht. Wenn Strom zu 100 Prozent aus regenerativen Energien gewonnen wird. Wenn eine neue Geld- und Bodenordnung vor Spekulanten und Übervorteilung schützt. Wenn ein transparentes und gerechtes Steuersystem allein der Zukunftssicherung verpflichtet ist, weil die Bemessungsgrundlagen nicht mehr am Umsatz, Verdienst und Gewinn orientiert sind, sondern am Verbrauch natürlicher Ressourcen. Eine Rohstoff- und Energiesteuer zum Beispiel würde den Ressourcenverbrauch auf ein erträgliches Maß senken.

Ich bin fest davon überzeugt, dass es Spaß bringen würde, auf unserer versauten Erde gemeinsam aufzuräumen und sich neu einzurichten. „Tausche Leid gegen Glück“ – so etwa könnte das Motto heißen, nach dem die gewaltige Aufgabe gestemmt werden muss.

Und wenn erst einmal der wahnsinnige Geld- und Warentransfer rund um den Globus eingestellt ist, wenn die Menschen wieder die Lebensmittel kaufen, die in ihrer Region angebaut werden – um nur ein Beispiel zu nennen, dann besteht sogar die Chance, dass sie ihre kulturellen Wurzeln wiederentdecken, was wiederum zu mehr Vielfalt und Verständnis führen würde.

Mit einem Sprung zurück ins Mittelalter, wie uns die Verfechter des alten Systems immer wieder weismachen wollen, hat das alles nichts zu tun. Die globalisierte Welt lässt sich nicht auf Knopfdruck abstellen. Globalisierung bedeutet per se ja nichts Schlechtes. Es ist von enormem Vorteil, wenn sich die Menschheit ihrer gemeinsamen Verantwortung für den Planeten bewusst wird. Wenn sie im gleichen Geiste wirtschaftet und sich rund um den Globus auf das neueste Niveau der Umwelttechnik begibt.

In der Verkehrspolitik zum Beispiel, im Nahverkehr ebenso wie im Fernverkehr. Die Flugzeuge würden mit kalt gepresstem Öl fliegen und in den Städten würde ein Netz hochmoderner Kabinenbahnen gespannt, die auf Magnetstreifen dahin schweben, wo einst die Autos stinkend im Dauerstau standen. Auch in der Landwirtschaft und im Bauwesen könnte man weltweit sehr schnell zu gemeinsamen Standards kommen.

Die zu Zwangsernährern mutierten Bauern wären nicht länger Sklaven der Banken, der Maschinenfabriken und der Chemieindustrie. Permakultur hieße das Zauberwort.

Ein gesunder Boden enthält pro Kubikmeter 60.000.000.000.000 Bakterien, 1.000.000.000 Pilze und 600 Regenwürmer. Diese betreiben ihre eigene Landwirtschaft, die brauchen keine Chemiebomben. Im Bauwesen würden die Gesetze der Baubiologie angewandt: nachwachsende Rohstoffe statt Beton – leicht zu verstehen, leicht umzusetzen. Nachwachsende Rohstoffe würden auch für die Kleidung benutzt, eine Hose aus den seidenen Fäden der Brennnesselpflanze trägt sich ungleich angenehmer als irgendein textiler Kunststofffummel.

Die Alternativen liegen auf der Straße, wir müssen sie nur aufheben

Ich könnte hunderte von Lösungsmöglichkeiten benennen, für jeden Lebensbereich gleich mehrere. Sie sind bereits vorhanden. Erforscht und erprobt. Ob es sich um alternative Antriebstechnik oder um gesunde Nahrung handelt, um Vorschläge für ein zukunftsfähiges Krankenversicherungssystem oder die Neuordnung der Demokratie durch Expertenparlamente – alles ist vorhanden oder angedacht, wir müssen uns nur bedienen.

Der Mensch ist schlau, er hat immer Auswege parat gehabt, wenn es zur Krise kam. Aber nie zuvor in seiner Geschichte ist seinem Erfindungsreichtum ein solcher Riegel vorgeschoben worden, wie zu Zeiten der kapitalen Gier. Kaum zu glauben aber wahr: Das Profitinteresse einer kriminellen Finanz- und Wirtschaftselite hat in den letzten Jahrzehnten jede langfristig vernünftige Problemlösung im Ansatz blockiert. Jetzt haben sie den Salat, jetzt doktern sie hysterisch an den Symptomen herum. Dabei verkennen sie eines: Sie haben es nicht mit einem Fehler im System zu tun, ihr ganzes verdammte System ist ein Fehler! Gut, dass sich dies inzwischen herumgesprochen hat, dass die Menschen ihnen nicht mehr glauben, dass sie bereit sind, etwas Neues zu wagen.

Ich bin nicht sicher, wie sich die Dinge im Einzelnen entwickeln werden. Aber ich bin sicher, dass wir in Zukunft wieder in einer Gesellschaft leben, die ihr vermeintliches Glück nicht aus pausenloser Mobilität und der 24-stündigen Beleuchtung des gesamten Planeten herleitet. Der Umbau unserer globalen Konsumkultur wird vielleicht das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Menschheit sein.

Diese Aufgabe können wir aber nur lösen, wenn wir uns als politisches Gemeinwesen verstehen. Weltweit. Die Chancen stehen gut, denn die Verletzungen, die uns der alte, auf Raubbau getrimmte Suprakapitalismus zugefügt hat, sind weltweit zu beobachten. Grund genug, sich weltweit zu solidarisieren. Vielleicht kriegen wir ja tatsächlich zustande, was Stanislav Lem der Zivilisation mit Recht absprach: spirituelles Bewusstsein. Respekt vor der Schöpfung, Demut und Toleranz im Miteinander – damit könnte ich leben…

 

Dirk C. Fleck, Jahrgang 1943, studierte an der Deutschen Journalistenschule in München, volontierte beim Spandauer Volksblatt in Berlin, kreierte dort mit dem „Magazin“ die erste Wochenendbeilage einer deutschen Tageszeitung, war Lokalchef der Hamburger Morgenpost, sowie Redakteur bei Tempo, Merian und Die Woche. Er arbeitete als regelmäßiger Kolumnist für Die Welt und die Berliner Morgenpost und war für den Stern, den Spiegel und Geo als Autor tätig. Sei dem Jahr 2000 widmet sich Fleck ausschließlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Für seine Romane „GO! — Die Ökodiktatur “ und „Das Tahiti Projekt“ erhielt er den renommierten Deutschen Science Fiction Preis. Flecks Hauptthema ist der drohende ökologische Kollaps und die Neuordnung der globalen Zivilgesellschaft.

 

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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