Traurige Tagesschau
Was wir eigentlich in Nachrichten „nachgerichtet“, d.h. nachträglich zurechtgebogen? Tagesschau & Co. wählen aus den unzähligen Geschehnissen der Welt diejenigen aus, die wir wichtig finden sollen und interpretieren sie so, dass sich bei den Zuschauern die erwünschte Meinung im Kopf formt. Daher sind politische „Infomationssendungen“ auch Säulen der gelenkten Demokratie. Schon mit der Benennung von Vorgängen wird manipuliert. Je nachdem, ob jemand im Rahmen einer holzschnittartigen Weltsicht als gut oder böse eingeordnet wird, verändern sich die Bezeichnungen, die für bestimmte Handlungen gefunden werden. Die „friedensschaffende Maßnahme“ hier, kann dort unversehens zum „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ werden. Wenn wir uns solcher Sprachtricks stärke bewusst werden, können wir unsere geistige Unabhängigkeit wenigstens teilweise wahren. Mladen Savic
Dass Nachrichten im Deutschen so heißen, wie sie heißen, nämlich Nach-Richten, hat mich seit Langem beschäftigt, allem voran aus Interesse am Begriff. Worten nachzuspüren, macht mir Spaß. Die Neuigkeiten, von denen berichtet wird, sind, streng genommen, keine Berichte, sondern Nachrichtungen: eine Art der Berichterstattung, bei der Informationen weggelassen und zurechtgemacht, eingefärbt und neu geordnet, also nach-gerichtet werden. Verantwortlich dafür sind angestellte, journalistische Handwerker, die Meister der Krokodilstränen und Halbwahrheiten, liebevoll auch Presse-Pack genannt.
Meistens sind Nachrichten teils Polittheater, teils Öffentlichkeitsarbeit. Abgemacht werden die Dinge hinter verschlossener Tür und präsentiert vor laufender Kamera. Wer sich hier Erkenntnisse erwartet, hat schlichtweg die falsche Sendung geschaut. Wer wiederum auf Widersprüche aufmerksam macht, läuft Gefahr, dem Wahrheitsministerium zu widersprechen und gesellschaftlich Ächtung zu erfahren. Wie einst im Osten die Partei, hat im Westen heute die Tagesschau immer Recht. Dieser Staat und seine Organe lügen nicht. Der Staat hat noch nie gelogen, denn er will nur mein Bestes: meine Arbeitskraft, meine Lebenszeit, mein Geld. Dementsprechend liegt ihm das Kapital, dessen Sprachrohr die kapitalistischen Leitmedien sind, sehr am Herzen.
Wer es bezweifelt, gilt alsbald als Verschwörungstheoretiker oder Kreml-Troll, oder als beides. Da hat man gar nichts mitzureden. Njet. Da ist sogar egal, was für Argumente man vorbringt. Yes. So etwas passiert wie von selbst und schneller, als man meinen würde… Geschichtlich ist der Ablauf dieser Dynamik bekannt: Zuerst muss man sich zum richtigen Lager bekennen, indem man seine Ansichten an die staatlichen und allgemeinen angleicht. Ansonsten gelangt man zuletzt an den falschen Ort, ins wirkliche Lager, wo Ausgegrenzte und Andersdenkende auf eine verkehrte Weise endlich zusammenfinden. Die Gegenwart ist noch nicht dermaßen dramatisch; zwischen damals und heute besteht ein gewaltiger Unterschied. Die mentalen Blockwarte indes, die uns mahnend daran erinnern, dass vor dem Wegsperren die Vorverurteilung kommt – sie haben als brave Bürger Rückendeckung von oben, wie in der Vergangenheit.
Dabei ist es interessant, dass ein Messen mit zweierlei Maß neuerdings zum guten Ton gehört. Es genügt, sich auf eine staatliche oder sonstige Autorität zu berufen, um augenblicklich von der Last selbständigen Denkens entbunden zu sein. Kritik, das ist Schnee von gestern! Die sogenannte Wertegemeinschaft will keinen kritischen Geist, keinerlei Einwände, sondern Stellvertreter- und Handelskriege gewinnen und ihren Machtzirkeln den Anstrich von Moral geben. Wer weiterhin die Profite anspricht, um die es dann dennoch immer irgendwie geht, ist ein Spielverderber und daher ohne wahre Werte. Die Arschlöcher aus den Nachrichten vermitteln dieses Bild. Wenn sie reichlich gefüllter Taschen eines Tages weg sind, füllen andere Arschlöcher die entstandene Lücke. Wenn überhaupt, machen sie, bevor sie zurückkehren zum Politik-, Firmen- und Börsengeschäft, unschön Urlaub, bei dem sie nicht Berufung einlegen können.
Und folgendermaßen funktioniert das Spiel der Pressefreiheit: Wenn ein Obdachloser im Supermarkt ein Käsebrot oder, was wahrscheinlicher wäre, ein Bier stiehlt, wird die Polizei gerufen, um den Schuldigen abzuführen. Auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen warnt man am nächsten Tag bereits vor mehr und mehr Kriminalität in der Stadt. Wenn ein Manager den Staat um Millionen Euro Steuergeld bestiehlt – siehe Cum-Ex & Co. –, hat er das Recht, sich bei einer Befragung an nichts mehr zu erinnern und folglich freizukommen. Obdachlose genießen, wenn man den Nachrichten lauscht, ebenso wie die Flüchtlinge ihre “soziale Hängematte” auf Staatskosten, sprich, Steuergeschenke, Saunas und Whirlpools, Nutten und Koks, Champagner und Kaviar. Was wissen denn die Manager davon, wie gut und entspannt die Ärmsten der Armen leben! Manchmal erfrieren diese Armen im Schnee, manchmal ertrinken sie im Meer. Hängematten sind neben ihren Leichen bislang noch nicht gefunden worden…
Selektiv zu urteilen, ist en vogue. Wenn in Deutschland jemand jahrzehntelang Kanzler ist, zeugt das von stabiler Demokratie. Wenn anderswo jemand genauso lang Präsident bleibt, ist es Anzeichen für eine brutale Diktatur. Überhaupt sind deutsche Maßstäbe am reinsten und demokratischsten, weil das Land seinen Nazismus aufgearbeitet und längst bereut hat. Nur den Russen haben sie nicht verziehen, dass sie ihnen verziehen haben… Und wenn die Vereinigten Staaten Todeslisten für verfahrenslose Drohnenmorde führen, daheim das Abtreibungsrecht abschaffen, ihren Eisenbahnern das Streiken verbieten und Schwarze straflos auf der Straße abknallen wie Freiwild, stehen sie weiterhin als ein Hort der Freiheit da. Wenn irgendwo in Lateinamerika dieselben menschenfeindlichen Zustände herrschen würden, hätte die Europäische Union sie sicherlich öffentlich verurteilt. Das bürgerliche Recht verkommt zum toten Buchstaben, das man nur kurz wiederbelebt zum Zweck einer Verurteilung anderer.
Wenn sich, wie gewohnt, Frankreich wieder zu einem militärischen Ausflug nach Afrika entschließt, hat es höchstens humanitäre Gründe oder den Kampf gegen den Terror zum Anlass. Wenn ein afrikanisches Land seine Bomben und Soldaten plötzlich nach Paris schicken würde, wäre es ein noch nie gesehene, inakzeptable, militärische Aggression. Es leuchtet allen ein, und das ist, für sich genommen, problematisch. Wenn die Nato Völkerrecht bricht, ohne UNO-Mandat Serbien angreift und ein Protektorat namens Kosovo erschafft, heißt das offiziell nicht “Angriffskrieg”, sondern “Intervention”. Wenn Russland die territoriale Integrität der Ukraine missachtet zwecks Entnazifizierung, heißt das umgekehrt sehr wohl “Angriffskrieg” und nicht “Spezialoperation”. Als Oligarchen bezeichnet man zwielichtige Multimilliardäre in Osteuropa. Philanthropen sagt man dazu in Europa und Amerika. Aus dem gleichen Grund ist russisches Öl böse und saudisches oder aserbaidschanisches so lieb und schön kuschelig… Aber genug für heute, und Danke für die Aufmerksamkeit. Dies war meine traurige Tagesschau, und auch sie hat natürlich Recht.
(gelesen bei Konzert & Lesung: Kammerlichtspiele Klagenfurt, 4.2.2022)
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/vandana-shiva-gentechnik-101.html
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Es lohnt sich m. E. , diesen Artikel zu lesen, denn er dokumentiert exemplarisch den rasanten Niedergang von allem, was wir einmal unter dem Stichwort „kritischer Journalismus“ in diesem Land verstanden und für unabdingbar gehalten haben.