Es spricht für die Philosophie, dass man in ihr ganz anderer Meinung sein und doch voneinander lernen kann. Von Olaf Müller, einem an der Humboldt-Universität Berlin lehrenden Professor für Wissenschaftstheorie, kann man einiges lernen, ohne ihm Recht zu geben. Das war schon bei meinem Erstkontakt so. 2004 hatte er einen Essay zum Kosovokrieg verfasst, in dem er der Frage nachging, welchen Wahrheitsgehalt die Begründungen hatten, die von westlicher Seite für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien 1999 vorgebracht wurden. Die Beweise für ein Massaker, das in Račak stattgefunden haben soll, erwiesen sich genauso als Lüge wie die Behauptung des Westens, dass im Stadion von Pristina ein Konzentrationslager eingerichtet worden sei, in dem 100.000 Albaner zur „ethnischen Säuberung“ zusammengetrieben wurden.
Olaf Müller ging aber einen Schritt weiter und führte jenseits der empirisch-historischen Klärung der Fakten moralisch-philosophische Gründe an, die den Kriegseinsatz verurteilen lassen. Das hatte mich schon mächtig beeindruckt. Vollends begeistert war ich dann von seinem wunderbaren Buch zu Goethes Farbenlehre „Mehr Licht, Goethe mit Newton im Streit um die Farben von 2015“. Darin liefert er eine völlige neue Perspektive auf Goethes Farbenlehre und hat tatsächlich „mehr Licht“ in meine Sicht auf die sichtbaren Dinge gebracht hat. Es sei jedem Naturfreund ausdrücklich empfohlen.
Aber in vielem, das ahnte ich schon — Stichwort „Wissenschaftstheorie“ — sind wir doch wohl völlig anders gesinnt. In seiner Verteidigung des Pazifismus (1), die jetzt, 2023, erschienen ist, musste ich mich immer wieder kopfschüttelnd wundern, wie ein solch heller Kopf und toller Autor so schrecklich danebenliegen kann. Natürlich geht es dabei um den Krieg in der Ukraine. Zu seiner „Verteidigungsschrift“ sah er sich nun durch den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine genötigt: Denn wie kann man, so fragt sich Olaf Müller, angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine pazifistisch bleiben?
Fast alles, was Olaf Müller in seiner Apologie des Pazifismus über den Ukrainekrieg schreibt, halte ich für falsch oder doch zumindest stark verzerrt. Er zeichnet darin das Bild eines imperialistisch agierenden Russlands, das von einem bösen Putin ohne Not und völlig grundlos in einen Krieg geführt wurde.
Olaf Müller zeigt sich auf Grund seines Russlandbilds vom Ukrainekrieg auch keineswegs überrascht. Dass Putin (!) die Ukraine überfällt, damit oder jedenfalls „mit etwas Ähnlichem“ habe er gerechnet. Er hat — wie Olaf Müller sich ausdrückt — „seine mörderischen Truppen auf ukrainisches Territorium losgelassen“. Das hat einen kulturchauvinistischen Unterton, der Olaf Müller eigentlich fremd sein dürfte. Ich kann darin freilich schon die alte Unterscheidung von europäischen Mächten und asiatischen Horden hören, die im Sturm die vernünftige westliche Ordnung zu nehmen drohen.
In Interviews ist denn auch neben dem stakkatoartig vorgebrachten Textbaustein vom „brutalen, unprovozierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ vom „barbarischen“ Angriff die Rede, bei dem also eine Hochkultur von kulturlosen Mächten überrannt wird. Der Clash of Civilisations ist also eigentlich einer zwischen unzivilisierten Angreifern — den Russen — und der davon bedrohten Zivilisation — der Ukraine und dem Westen?
Sein Bild eines imperialistischen Russlands hat, wie er schreibt, „auch damit zu tun (…), dass ich mit einer Polin verheiratet bin und dass mir die blanke Angst ihrer Landsleute aus Freundeskreis und Familie vor der toxischen Aggressivität Russlands vor Jahr und Tag in die Knochen gefahren ist“ (2). Von der NATO-Osterweiterung und dem damit verbundenen Bruch der Gorbatschow gegebenen Versprechungen ist bei Olaf Müller nichts zu lesen. Der Bruch der Minsker Abkommen, die rund 14.000 Toten durch den Beschuss der Teilrepubliken oder die Vorbereitung der Stationierung atomwaffenfähiger Waffensysteme in der Ukraine bleiben bei Olaf Müller außen vor. Und Olaf Müller lässt auch unkommentiert, wie sich das westliche Vorgehen für Russland und seine durchaus berechtigten Sicherheitsinteressen darstellen musste.
Olaf Müller plädiert für Sanktionen, und dabei ausdrücklich „für das Maximum, und zwar selbst dann, wenn es dadurch bei uns ungemütlich wird“ (3) — ich verkneife mir da mal die Nachfrage, wen er mit „uns“ meint und was er unter „ungemütlich“ (!?) versteht. Nur möchte er fast alles vermeiden, was als Kriegshandlung oder als eine Beteiligung am Krieg verstanden werden kann. Von der Bundesaußenministerin spricht er lobend — wie immer das „philosophisch“ und mit guten Gründen zu rechtfertigen ist. Nur ihrer Kriegsentschlossenheit möchte er trotz „der toxischen Aggressivität Russlands“ eben nicht zustimmen.
Für die Bewertung des Ukrainekonflikts ist das aus meiner Sicht verheerend. Und „trotz alledem“ soll das kleine Bändchen lesenswert sein? Ja, gerade deshalb. Wer von einem „brutalen, unprovozierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ durch militärisch organisierte Mörderbanden ausgeht, der tut sich schwer, seine pazifistische Einstellung zu rechtfertigen. Nehmen wir einfach mal an — gleichsam im Gedankenexperiment —, Olaf Müller hätte mit seiner Einschätzung des Konflikts recht: Wie könnte er eine pazifistische Einstellung rechtfertigen und eine Beteiligung am Krieg und alles, was mit guten Gründen dafür gehalten werden kann, ablehnen? Das ist genau der Vorwurf, dem er sich stellen will.
Olaf Müllers Pazifismus hat noch ein weiteres Begründungsproblem: Für Olaf Müller ist Pazifismus keine Frage einer friedlichen Gesinnung „gefühlsduseliger Gutmenschen“. Einen „pazifistischen“ oder „gesinnungsethischen Rigorismus“ lehnt er rundheraus ab: „Diese Haltung ist so inakzeptabel wie jede Form von Gesinnungsethik.“ „Pazifistische Gesinnungsethiker“ gehen, wie er sagt, „entweder mit geschlossenen Augen oder mit verschlossenen Herzen durch die Welt“ — sie sind also entweder dumm oder herzlos. Gesinnungsethik sei schlicht nahe am Unsinn; Gesinnungsethiker hätten einfach die falsche Gesinnung. Er setzt vielmehr auf einen „verantwortungsethischen Pazifismus“, den er auch einen „pragmatischen“ nennt.
Auch hiergegen mag man philosophisch einiges einwenden. Aus meiner Sicht ist — fast spiegelbildlich zu Olaf Müllers Kritik an der Gesinnungsethik — die Verantwortungsethik nicht verantwortbar. Sie steht philosophisch auf ziemlich wackligen Stelzen. Verantwortungsethik, das ist eine Wortprägung, um nicht „Erfindung“ zu sagen, von Max Weber, einem Soziologen ohne philosophische Ambitionen. In einem Essay mit dem Titel „Politik als Beruf“ (!) hatte er ethische Verantwortung als das tatsächliche Einstehen für die Wahl der Mittel sowie für die Folgen und Nebenfolgen von Handlungen verstanden. Die ethische Beurteilung einer — politischen — Handlung richtet sich nicht auf die Absicht, die sie leitet, sondern die Folgen, die sie hervorbringt (4).
Die Entgegensetzung von Verantwortung und Gesinnung hat freilich etwas Künstliches. Sie ist vermutlich eine soziologische, um nicht zu sagen ziemlich dilettantische Verkürzung ethischer Fragen. Handlungen beabsichtigen nämlich immer Folgen in der Welt, die anderen Zuständen in der Welt vorzuziehen sind, und Handlungsfolgen werden immer mit Blick auf beabsichtigte Werte beurteilt.
Aber auch das können wir dahingestellt sein lassen und Olaf Müller pragmatisch auf seinem Weg eines „pragmatischen Pazifismus“ folgen, um zu sehen, wie weit er führt. Olaf Müller hat nämlich durchaus recht, dass „gesinnungsethischer Rigorismus“ auch für eine „gesinnungsethische Befürwortung von Krieg“ taugt. Olaf Müller nennt das „gesinnungsethischen Verteidigungsbellizismus“, der es für gerechtfertigt hält, mit militärischen Mitteln gegen das vorzugehen, was als ungerechtfertigter Angriff verstanden wird — koste es, was es wolle.
Für den „verantwortungsethischen Pazifismus“ à la Olaf Müller kommt alles auf die Folgen an. Kriege wären nicht grundsätzlich und in allen Fällen zu verurteilen. Was als Krieg oder Kriegshandlung gelten soll, muss dabei nicht abschließend beantwortet werden, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
„Aus zwei Gründen (nämlich) benötigen wir keine theoretische Definition dessen, was (…) Handlungsweisen zu Kriegshandlungen macht. Erstens wissen wir genau genug, was typische Fälle von Kriegshandlungen sind — zweitens wird es bei jeder noch so präzisen Definition Grenzfälle geben, bei denen nicht klar ist, ob sie unter die Definition fallen oder nicht.“
Die Suche nach „präzisen“ Definitionen führt meist auf Abwege und dazu, dass die Entscheidung getroffen wird, sich lieber nicht zu entscheiden. Man wollte etwas besser verstehen und bleibt am Ende verwirrt zurück. „Genau genug“ ist genau die Präzision, die wir brauchen, um uns über die in Rede stehende Sache zu verständigen.
Wie bei allen Handlungen sind somit auch „Kriegshandlungen“ danach zu beurteilen, welche Folgen sie zeitigen. Ein Krieg wäre gerechtfertigt, moralisch erlaubt oder sogar geboten, wenn die Folgen eines Krieges besser bewertet werden müssten, als ihn unterlassen zu haben.
Solche Kriege mag es in Ausnahmefällen geben, aber „Ausnahmen kommen selten oder nie vor“. Dennoch braucht es auch für Olaf Müller „ein Kriterium, um zwischen moralisch einwandfreien und moralisch unzulässigen Kriegen zu unterscheiden“. Und dieses Entscheidungskriterium liefert die „verantwortungsethische Folgenabschätzung“: „Ein Krieg ist nur dann zulässig“, meint Olaf Müller, „wenn seine Vermeidung einen inakzeptabel größeren Preis an Menschenleben, Verletzungen, Traumatisierungen und so weiter nach sich zieht als seine Durchführung.“ Auf der „Waagschale“ der moralischen Beurteilung eines Kriegs sollen also die „Übel bei Kriegsverzicht“ mit den „Kriegsübeln“ verglichen werden. Das folgt zwar einer gewissen Intuition, hört sich aber dennoch sehr, sehr wackelig an: Was ist die „Maßeinheit“, die bei der Waage zur Geltung kommen soll, und durch welchen moralischen Eichmeister ist sie zur Bewertung freigegeben? Wie viele Schwerverletzte und Verstümmelte wiegen wie viele Tote auf?
Aber auf diesen Einwand muss sich Olaf Müller gar nicht einlassen. Er entgeht ihm durch eine grundsätzliche Überlegung, die er Kritik entlehnt, welche die klassische Ethik gegenüber der Verantwortungsethik vorgebracht hatte. Diese Kritik verwandelt er höchst elegant geradezu in eine Stütze seines „verantwortungsethischen Pazifismus“. Die Kritik besagt, dass eine „verantwortungsethische Folgenabschätzung“ gar nicht vollständig gelingen kann, eine sinnvolle Unterscheidung von Folgen und Nebenfolgen geleistet werden müsste und bei der Bewertung der Folgen auf Werte zurückgegriffen werden muss, die nicht wiederum verantwortungsethisch begründet sein können, ohne in einen „regressus ad infinitum“ zu geraten.
Dem Einwand begegnet die Verantwortungsethik mit Normalitätserwartungen und objektivierbaren Regelmäßigkeiten, die bei der Beurteilung von Handlungsfolgen unterstellt werden dürfen oder müssen: Bei einer „kontrafaktischen Wenn-dann-Aussage“ der Form „Wenn wir einen Zuckerwürfel in einen heißen Tee werfen, dann wird er sich darin auflösen“ dürfen wir mit Blick auf objektivierbare Erfahrung „guten Gewissens“ zustimmen. In anderen Fälle mag das weniger sicher sein: „Wenn er ihn nicht verraten hätte, dann wäre er nicht gekreuzigt worden“ ist doch weit weniger zwingend — zwischen dem Verrat, der Gefangennahme, der Verurteilung und der Vollstreckung hätte ja noch einiges passieren können, das man beim Verrat nicht mit gleicher Gewissheit voraussehen konnte. Der Verrat mag getadelt werden, ohne dass wir dem Verräter doch die alleinige Schuld für die Tötung geben könnten.
Völlig unvorhersehbar freilich sind die Folgen eines Krieges. Der Krieg ist — wie Olaf Müller sagt — „das krasseste Chaos überhaupt“. An ihm versagt die „verantwortungsethische Folgenabschätzung“ und wird damit ethisch unsinnig.
Der pragmatische Verantwortungsethiker gesteht damit ein, dass eine „folgenorientierte Ethik auf Fragen von Krieg und Frieden“ anzuwenden „zu einer völligen Überschätzung menschlicher Erkenntnismöglichkeiten“ führt. Wer aber die Folgen einer Handlung nicht abschätzen und sie insbesondere nicht mit allen infrage kommenden Handlungsalternativen abgleichen kann, der kann sie moralisch nicht beurteilen.
Olaf Müller hat — ohne dass er ihn ausdrücklich nennt — einen bedeutenden Vorgänger, nämlich keinen Geringeren als Leo Tolstoi. Tolstoi hatte in „Krieg und Frieden“ nicht nur die Sinnlosigkeit des Krieges erlebbar gemacht, sondern in manchmal etwas sperrigen Exkursen den Wahnsinn der Kriegsführung thematisiert. Der Wahnsinn des Kriegs liegt im Glauben der Kriegsherren, ihn vernünftig führen zu können. Die Ausnahme ist nur der „Durchlauchtigste“, Michail Kutusow, Oberbefehlshaber der russischen Truppen, der im Zweifel auf Zurückhaltung setzt, weil er weiß, dass er im Krieg nichts wissen kann.
Im Falle des Ukrainekriegs kommt noch etwas hinzu, von dem man im 19. Jahrhundert noch nichts ahnen konnte: Es droht die atomare Eskalation. Das wäre das Inferno, das sich jeglicher rationalen Abschätzung entzieht und — nicht nur deshalb — unbedingt vermieden werden muss. Atomare Abschreckung kann nur bedeuten, den Einsatz von Atomwaffen unbedingt zu vermeiden und also von ihrem Einsatz abzuschrecken. Der Einsatz von Atomwaffen ist schlechterdings und per se unmoralisch.
Den pazifistischen Kritikern der atomaren Abschreckung wird vorgeworfen, sie seien unverbesserliche Optimisten, die aufgrund eines idealistischen Menschenbilds die Notwendigkeit einer wirksamen Abschreckung als Mittel der Friedenssicherung leugnen. Demgegenüber macht Olaf Müller geltend, dass jeder Optimismus einen Pessimismus mit sich führt et vice versa. Dem pessimistischen Abschreckungspropheten, der nicht vom Guten im Menschen ausgehen will, aber optimistisch von der Beherrschbarkeit des Krieges ausgeht, steht der optimistische Pazifist gegenüber, der lieber vom Guten im Menschen ausgeht, weil er es pessimistisch „als Hybris (und) jedenfalls als Selbstüberschätzung“ wertet, „wenn jemand verspricht, Kriege mit hinreichender Sicherheit vorhersagen, steuern, begrenzen und siegreich beenden zu können“ — was immer „siegreich“ im Falle einer atomaren Eskalation heißen mag.
„Für den pragmatischen Pazifisten der Gegenwart“ ist deshalb folgendes „Leitprinzip“ maßgeblich: „Schärfen Sie Ihren Blick für die unkontrollierbaren, irreversiblen Nebenfolgen eines militärischen Einsatzes, und achten Sie insbesondere auf die leisesten Anzeichen jedweder Gefahr, dass ein weiterer Weltkrieg ausbrechen könnte, ja, ein Atomkrieg.“ Und deshalb kann und muss Olaf Müller auch — trotz seiner verhängnisvollen Einschätzung des Ukrainekriegs — eine Kriegsbeteiligung Deutschlands und des Westens strikt ablehnen.
Die Leistung des kleinen Bändchen von Olaf Müller liegt darin, dass er Gründe für eine Verteidigung des Pazifismus liefert, denen man jenseits des Streits über die Fakten und die Grundlegung der Ethik zustimmen kann. Es ist der gelungene philosophische Versuch, in der Vielfalt sich widerstreitender Ansichten das Gemeinsame stark zu machen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Olaf Müller, Pazifismus, Eine Verteidigung, 2023
(2) Und wer sollte nicht Angst vor „toxischer Aggressivität“ haben?
(3) „Ich halte maximale Sanktionen für das Mindeste an Solidarität, die wir den Angegriffenen schulden (…).“ Ein wenig schräg scheint mir das schon formuliert, maximale Sanktionen als das Mindeste zu veranschlagen — aber man weiß ja so in etwa, was er sagen will.
(4) Es ist, wie Weber sagt, „ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt — religiös geredet: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘ — oder unter verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“. Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: Gesammelte Politische Schriften, 1980, 551 folgende.
Darübert braucht man überhaupt nicht hin- und her didkutieren.