Unsanfte Landung
Die Linke zeigt sich heute zersplittert und ihrer utopischen Substanz beraubt — will sie noch eine Zukunft haben, muss sie aus ihren typischen Fehlern lernen. Sie wollten die Welt verändern — was aber wenn sich die Welt hartnäckig gegen Veränderung sträubt? Viele linke Utopien der 1960er- und 1970er-Jahre scheiterten am Allzumenschlichen, versandeten auf Grund der Undurchführbarkeit gewisser Maximalforderungen. Wer begonnen hatte, daraus zu lernen, argumentierte, man dürfe durchaus weiter Utopien haben, diese müssten jedoch „geerdet“ werden. Die Folge: Beim „Marsch durch die Institutionen“ wurden weniger die Institutionen als die Marschierenden verändert. Das Joschka-Fischer-Syndrom, das heute in einer grünen Partei gipfelt, die dem Krieg zugetan ist wie keine andere. In der Coronakrise indes kam es zu einem für viele irritierenden Gleichklang linker mit konservativer Systemanpassung. Freiheit und Menschenrechte waren passé, „links“ war an all dem nur noch die hartnäckige Feindschaftspflege mit Blick auf das vermeintlich „Rechte“. Wie konnte es dazu kommen? Und wie vermeiden neue Oppositionsbewegungen, dieselben Fehler wie die 68er zu machen? Verbissene Weltbeglückungsambitionen sind dabei ebenso wenig hilfreich wie resignatives Verliebtsein in das eigene Scheitern. Werner Köhne
1978 traf ich zufällig in der italienischen Toskana auf einen ehemaligen Studienkollegen, den ich acht Jahre zuvor noch als eifrigen Verfechter einer radikalen politischen Gruppierung kennengelernt hatte. Er ging damals ganz in seiner Mission auf, suchte mich vergeblich für seine Leninistenclique zu gewinnen. Es ging irgendwie immer um die Massen, die es in Bewegung zu setzen gelte. Nun stand er mir plötzlich in Florenz gegenüber, wo es damals viele „Ehemalige“ nicht von ungefähr hinzog, jenem Land wo frei nach Goethe die „Zitronen blühn“. Unser späterer Student hatte sein fiebriges Sendungsbewusstsein eingebüßt; er wirkte eher abgeklärt, dabei wenig Worte machend. Hatte er zu Erkenntnis und zu sich gefunden? Nein, sicher nicht: Sein nach wie vor vorhandenes Überlegenheitsgehabe ließ nichts zu wünschen übrig — diesmal richteten sich seine Angriffe gegen die 68er. Dafür gab es Gründe.
Wie ich schon bald erfuhr, war er auf die Systemphilosophie des Soziologen und Professors für Verwaltungswesen Niklas Luhmann gestoßen und von diesem und dessen Lehre hatte er die Lakonie, ja mehr noch den Zynismus übernommen, der damals in bestimmten intellektuellen Zirkeln angesagt war.
Ebenso angesagt war zu Ende der 1970er Jahre eine ungewöhnliche Neigung bestimmter linker Studenten zur italienischen Toskana, woraus sich bald die Erzählung von der Toskanafraktion entwickeln sollte — ein Kollektivverbund, der weniger einem politischen Konzept verpflichtet war, als vielmehr einem neuen Lebensstil frönte. Und es gab die Pointen von Peter Sloterdijk, die er in seinem Kultbuch „Kritik der zynischen Vernunft“ in einigem Wohlbehagen und treffsicher platzierte. Übrigens auch gegen die Achtundsechziger. Mir schien, es war so etwas wie der Beginn einer sich bohemehaft gebenden Aristokratie mit undeutlich werdenden politischen Zielen.
Es braute sich da etwas an Neuorientierungen zusammen in „those Days“. Gemeinsamer Nenner einer neu entstehenden alternativen Halb-Linken: Rudi Dutschke war out, jener Rudi, der 1968 noch in Hochspannung mit abgewetzter Tasche voller Bücher durch Berlin radelte und klare Kante zeigte, von der sich andere schon längst verabschiedet hatten. 1978 sah ich Rudi noch einmal auf einem von den Grünen anberaumten Podium im Audimax der TH. Man beachtete ihn kaum, er war zu einem Auslaufmodell geworden. Zwischen dem „Deutschen Herbst“, den RAF-Eskapaden, den ersten Berufsverboten und Demos gegen die AKWs schlingerte ein schwer dingfest zu machendes Kollektivsubjekt namens „Die Linke“ ein wenig launisch durch die Zeitläufte, lechzend nach Orientierung und Sinn.
Doch zurück zu unserem Spätstudenten unter Michelangelos David Statue in Florenz. Sein Rückblick, den er mir aufdrängte, war eine einzige Verhöhnung der linken 68er Protagonisten, wobei er sich selbst aus diesem Narrativ herauslog. Derartige Verdrängungen funktionieren in der Regel recht passabel; die damit gemeinten Wendehälse müssen allerdings — ungewollt zumeist — lange Zeit noch ein untergründiges Gefühlsleben mit sich herumschleppen, meistens übrigens in Form von Ressentiments, die irgendwann aufbrechen und dann oft blindwütig gegen nichts und irgendwas sich richtend.
Linke und halblinke Soziotope
Dem Erfinder der Theorie vom Soziotop und Milieu der 70er Jahre, nämlich Michael Rutschky, wird folgende Sentenz zugeschrieben: „Wenn eine Geschichte zu Ende geht, beginnt Erfahrung.“ Sie entstammt seinem Buch „Erfahrungshunger“ — einem Essay über die 70er Jahre. Unbedingt lesenswert für die, die etwas über linken Zeitgeist und Mentalitätsgeschichte erfahren wollen, in deren Schatten wir heute noch stehen.
Erfahrungshunger steht für einen Grenzübergang von der Ideenwelt der 68er, mit deren Eros für Theorie, hin zu den Selbsterfahrungsstrategen, die dann folgten — mit all den „Beziehungskisten“ (Kleinkriegen zwischen Partnern und Genossen) —, aber auch den ersten Leuchtzeichen einer neuen „Bewegung“, die sich weniger aus politischen Zielen ableitete, als vielmehr aus Lebensformen — später aus Formen des „Life Styles”—, angesiedelt zwischen Politik und Privatheit, insofern aber auch enorm anfällig für zersetzende Gruppenprozesse. Das wichtigste Vorhaben damals: Man wollte nach den verbissenen Kämpfen der Linken untereinander die Utopie nicht ganz abschaffen, aber „erden“ — ein gar nicht so schlechter Gedanke, der jedoch bald schon durch narzisstische Gestalten wie Joschka Fischers und Daniel Cohn Bendit ad absurdum geführt wurde.
Die linke Utopie erden — das wollte auch eine akademisch in sich gefangene Linke um Professor Jürgen Habermas. Habermas hatte zusammen mit anderen Geistesgrößen — alle links einordenbar — 1978 einen Sammelband herausgebracht mit dem Titel „Zur geistigen Situation der Zeit“. Habermas sah sich inmitten einer Linken, die sich die Wunden leckte, und er hatte im Vorwort die Notwendigkeit der Veröffentlichung damit begründet, dass eine ramponierte Linke sich nach dem Abgesang der marxistischen Utopien neu auf das Projekt Aufklärung konzentrieren müsse.
Habermas selbst allerdings steuerte dann mit seinem Riesenwälzer „Theorie des kommunikativen Handelns“ einen so zeittypischen wie auch peinlichen Beitrag zu dieser Neubesinnung. Im Zentrum stand für ihn die Theorie der idealen Sprechsituation, die sich als Muster eines bürgerlich toleranten Zuhörer-Dialogs erweisen sollte und Besinnung auf Werte wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit in allen wichtigen Fragen anbot. Diese Theorie zog zwar erfolgreich in die universitären Seminare ein und bereicherte etliche Suhrkamp-Reihen, aber ihre Abstraktheit und Menschengutgläubigkeit konnte nicht verhindern, dass hier linke Essentials aufgegeben wurden, sich indes in den dadurch entstandenen Leerstellen Gefühle aufstauten, die — wie schon erwähnt — gefährliche Rückstände an Ressentiments bildeten.
Politische Bewegungen — und ich meine hier konkret links-alternative Bewegungen — scheitern oft, wenn sie in bestimmte Milieus abdriften, wenn vor allem Menschen mit überhöhten Selbstfindungsansprüchen als Drahtzieher dieses Scheiterns auftreten und eben nicht der klassische politische Gegner.
Es geht in einem erweiterten Sinne um gruppendynamische Prozesse, die am Ende Bitterkeit sowie Sieger und Besiegte zurücklassen, — ein Geschehen, das recht schmutzige Gefühle hervortreibt und, statt im aufklärerischen Geist der Zeit verankert zu sein, im launigen Zeitgeist gründet.
Man kann diesem Zeitgeist, der ohnehin erst seit jenem 68 sein Unwesen treibt, nur schwer beikommen. Er setzt sich zusammen aus Versatzstücken von Meinungen und Gefühlen, sich verstärkend in einer zunehmend medial gepuschten Ökonomie der Aufmerksamkeit.
Wir und Corona
Womit wir in der Gegenwart gelandet wären. Niemand wird nach zweieinhalb Jahren Corona-Szenario noch bestreiten wollen, dass die Gesellschaft als Ganzes einer Zerreißprobe ausgesetzt war und ist — durch einen Trennungsvorgang, der quer durch Familien und Freundeskreise verlief und ein Klima des Misstrauens, der Verschleierung und des Hintergedankens schuf. In so einem Milieu verbinden sich Attitüden moralischer Entrüstung und Argumente auf unheilvolle Weise. Es geht vielfach um ein Rechthabenwollen um jeden Preis — ja vielfach steht die immer gefährdete Identität selbst auf dem Spiel, wenn um die Frage gestritten wird, ob man die Oma nicht tötet, wenn man sich nicht impfen will oder Sonderlinge nicht dingfest macht, die der Wahrheit des Ganzen und des Gemeinwohls abschwören. Da kennen dann auch die meisten Linken keine Verwandten mehr.
Das scheint umso trauriger, als in den hier schon oft zitierten 70ern das Milieu noch für Gemeinsamkeit stand. So wenn in einer Kreuzberger Kneipe der promovierte Taxifahrer, der Studienrat und der Erbe aus Tübingen sich ein allabendliches Stelldichein gaben — man teilte dieselben Meinungen, trank dasselbe Bier, hörte dieselben Songs — aber dies war auch der Beginn einer großen Lüge, wie sich bald herausstellen sollte: Der linke Erbe aus Tübingen kaufte sich später eine Penthousewohnung, der promovierte Taxifahrer schreibt auch heute noch an einem Werk, das nie veröffentlicht wird. Vor allem aber: Der linke Besitzer der alternativen Kneipe, stieg binnen zwei Jahren zum Millionär auf. All dies Entwicklungen, die nicht gut sind für eine Linke. Indes erklärt das hinreichend, was da seit zwei Jahren abgeht?
Wie konnte es gerade im Corona-Zeiten zu solchen nie für möglich gehaltenen Verwerfungen und Trennungsakten innerhalb der Linken kommen? Verwerfungen, die geradezu selbstmörderisch ausarten, wenn darin nicht einmal die üblichen politisch-ideologischen Gefechtsstellungen eine Rolle spielen — und wohl auch nicht die ebenso üblichen narzisstischen Grabenkämpfe am immer aktiven Ich-Pol. (Siehe dazu Klaus Theweleit „Buch der Könige”).
Zeigen sich hier Ursünden der Linken — hier ein Messianismus der Massenbeglückung, die sich dem System beugt, dort ein anarchisches Verliebtsein ins Scheitern?
Was hat dies alles noch mit Selbstzuschreibungen der Linken zu tun, wie man sie von früher kannte — etwa aus der Stalinzeit oder in Zeiten des Eurokommunismus?
Offensichtlich bildet die Linke und ihre wechselvolle Geschichte kein kontinuierliches Narrativ mehr aus, sondern lässt viele daran zweifeln, ob sich da der Teufel Mephisto durchgesetzt hat, mit seiner sehr ernüchternden Rede an Faust: „Du bleibst doch immer, was du bist.“ Bleiben wir als Linke immer, wer wir sind und wer wir waren?
Kurze Phänomenologie einer vergebenen Chance
Das seit Corona sich vollziehende Trennungsgeschehen überraschte in seiner Plötzlichkeit. Über Nacht geriet im linken Boot quasi alles Denken, Sein und Handeln in Turbulenzen. Ja es wurde regelrecht um Identität gerungen. Vieles an der Verbissenheit ums Wahre und Richtige erschien so absurd, dass niemand es zuvor hätte glauben können. In Windeseile standen Namen und harmlose Begriffe für Wahrheitswerte und sich gegenseitig ausschließende Positionen mit hohem Denunziationspotenzial: Kaum je hatte man einen solchen Wortschwall an Verdächtigungen und Inkriminierungen erlebt: ihr Schwurbler, ihr Leugner, ihr Esoteriker, ihr Verschwörungstheoretiker.
Merkwürdig, dass die Mehrheit der Linken am heftigsten in diese vom medial ausstaffierten System verfügte Zurichtungsorgie einstimmte — und dabei sich einig fand mit den blindwütigen Managern der Corona-Krise.
Man traf sich da, wo man hinter aller Kritik an den Maßnahmen die „Rechten” vermutete. Ja, die Rechten da draußen mit ihren Fahnen und die in den eigenen linken Reihen. Hier wurden dann gar Antisemiten aufgespürt und von einer schnell installierten „Antifa” auch als Faschisten tituliert, ausgerechnet dann, wenn ein Demonstrant mit dem Grundgesetz in der Hand sich auf der Straße Gehör verschaffen wollte. Wie war all das möglich — und warum machten fast alle da mit? Gab es so wenig an linker Substanz, die die Linken in dieser Frage hätte einigen können?
Schon schier unfassbar, dass nach der ersten großen Demonstration am 1. August 2020 ein lebensfroher Gang der augenscheinlich Hundertausenden schon am Abend als Marsch der 17.000 ausgewiesen wurde, wobei darunter — so das Narrativ vom Tag — viele „Rechte“ gewesen seien.
Dass eine Politik und ein Medienapparat diese bewusst lancierte Lüge streute — geschenkt. Dass aber mehr als 80 Prozent der klassischen Linken dieses Spiel mitspielten — mehr durch Verschweigen als durch falsche Rede — das könnte man mentalitätsgeschichtlich als unverzeihliche Verfehlung betrachten. Was brachte Linke dazu, sich mit dem System und den Volksgesundheitsappellen gemeinzumachen? Wie soll man/frau mit solchen Personen wieder an linken Projekten arbeiten können. Ist also das Projekt Linke am Ende? Es muss darüber unbedingt diskutiert werden.
Epilog
Hier die Antifa, die staatlich subventionierten Künstler; dort alternative Netzgemeinschaften, die ihre eigene Rangordnung mit fast sektenförmigem Zuschnitt etablieren; hier die Faktenchecker der „Taz“ und des „Spiegels“, dort immer noch die ehernen Streetfighter — ach, man könnte die Aufzählung der Aufsplitterungen schier unendlich weiterführen. Was versammelt sich da alles unter einem Begriff wie „Die Linke”?
Ich erinnere hier noch mal an die 70er Jahre. Die Anmutung „Erdung der linken Utopie” wurde damals von Hüttenbauern in Gorleben — ich zählte dazu — konkret gelebt. Auch heute treffen sich Gleichgesinnte in den alten sowie neuen Bundesländern und suchen als Alternative zu ermüdenden Diskursen und polizeilich eingeschränkten Demos im zurückgezogenen ländlichen Leben mit Selbstversorgung ihr Leben in Freiheit. Soll man sie deshalb des Eskapismus zeihen? Nein. Geschichte wiederholt sich — als Tragödie oder als Farce, wie Marx vermutete. Ist dies das letzte, was man von „der Linken” sagen kann? Hoffentlich nicht!
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Du bleibst doch immer, was du bist“ bei ViER.
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„Hubertus Heil hält jetzt eine Flasche Rotbäckchen-Gesundheitssaft in der Hand, die ihm jemand aus dem Giffey-Wahlkampfteam in die Hand gedrückt haben muss, und klopft an eine Tür. Irena Walentowsky wohnt hier, eine 90-jährige Witwe, die sich bereit erklärt hat, von sich zu erzählen…“
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/nachfolge-christine-lambrecht-spd-altersheim-lichtenberg-besuch-franziska-giffey-wahlkampf-wie-eine-berliner-rentnerin-als-erste-erfuhr-dass-hubertus-heil-nicht-verteidigungsminister-wird-li.307705