Unsere stärkste Waffe!
Ein Aufruf zu Menschlichkeit und Solidarität — und zum Tragen einer gelben Weste. Die Polizei schoss direkt auf friedliche Demonstranten oder schlug sie brutal zusammen. Sie verloren ein Auge, eine Hand, den Halt. Und das in unserem Nachbarland Frankreich. Mitten in Europa mit seinen hoch gehaltenen Werten von Demokratie und Freiheit. Die Bilder dieser durch Polizeigewalt verletzten Franzosen schmerzen. Und sie zeigen die wahre Fratze der europäischen Demokratie. Die französischen Gelbwesten versetzen die Eliten in Angst und Schrecken, also schlagen diese brutal zurück. Ein Aufruf zur Unterstützung der Bewegung — zur Verteidigung der Menschlichkeit und des Friedens. Kerstin Chavent, Elisa Gratias
Die Polizei schoss direkt auf friedliche Demonstranten oder schlug sie brutal zusammen. Sie verloren ein Auge, eine Hand, den Halt. Und das in unserem Nachbarland Frankreich. Mitten in Europa mit seinen hoch gehaltenen Werten von Demokratie und Freiheit. Die Bilder dieser durch Polizeigewalt verletzten Franzosen schmerzen. Und sie zeigen die wahre Fratze der europäischen Demokratie. Die französischen Gelbwesten versetzen die Eliten in Angst und Schrecken, also schlagen diese brutal zurück. Ein Aufruf zur Unterstützung der Bewegung — zur Verteidigung der Menschlichkeit und des Friedens.
Mein Magen knotet sich zusammen, als ich auf KenFM ein Video der französischen Website Le Vent se lève ansehe. Die Warnung, dass die Bilder „auf sensible Menschen verstörend wirken können“ ignoriere ich. Als ich am Ende des Videos fassungslos im stillen Zimmer sitze und aus dem Fenster hinter meinem Schreibtisch starre, breche ich in Tränen aus. Traurigkeit und Angst mischen sich mit Wut. Was ist denn los in dem Land, wo ich neun Jahre lang lebte? Was ist los in unserer Welt? In unserem privilegierten Europa?
Mich überrascht meine Reaktion. Schließlich hatte ich schon einiges über die Bewegung der Gelbwesten und die brutalen Reaktionen der französischen Ordnungskräfte gelesen. Doch die Bilder und vor allem die Stimmen und Worte der Menschen, die der Polizeigewalt zum Opfer fielen, sind etwas anderes. Wenn wir diese Opfer tatsächlich sehen und hören, statt nur über sie zu lesen, werden sie zu Menschen wie wir und berühren unsere Emotionen.
Beklommen fahre ich ins Büro und denke die ganze Busfahrt an dieses Video und die Situation in Frankreich. Fühlt es sich näher für mich an, als für andere Deutsche, da ich die Sprache verstehe und selbst dort gewohnt habe? Ich erinnere mich an die schon damals unfreundliche und beängstigende Polizei, die bei allen Franzosen, die ich kennenlernte, einen schlechten Ruf hatte.
Als ich einmal mit Freunden in der Innenstadt von Lyon von einer Truppe gewalttätiger Jugendlicher verfolgt wurde, wurde einem von uns mit einer Eisenstange der Arm gebrochen. Selbst eine Stunde nach unserem Anruf kam kein Streifenwagen, um uns zu helfen oder Anzeige erstatten zu lassen. Das sind längst verdrängte Erinnerungen, die nun im Bus wach werden, wenn ich die Erzählungen der Opfer Revue passieren lasse.
Wind kommt auf
Als ich im Büro ankomme, beginne ich mir die Seite „Le Vent se lève“ anzusehen und bin beeindruckt. Sie ist ein mit Rubikon vergleichbares Projekt, das sich für unabhängigen Journalismus einsetzt, sich aus Spenden finanziert und gegen den Neoliberalismus engagiert. Auf Facebook haben sie bereits über 80.000 Abonnenten. Die Gründer der Website sind gerade einmal zwischen 21 und 26 Jahre alt und studieren zum Teil noch.
Ich fühle mich mit diesen jungen Franzosen verbunden und denke an den Abgeordneten und Journalisten François Ruffin, seinen berührenden Film über die Gelbwesten und seine unabhängige Zeitung Fakir.
Bei meinen Recherchen rückt ein weiterer, beeindruckender Mann in mein Bewusstsein: Juan Branco. Er besuchte die gleichen Schulen und Elite-Unis wie die Mächtigen und Ultrareichen Frankreichs, stellt seinen scharfen Geist jedoch in den Dienst der Gelbwesten und engagiert sich für mehr Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Der 29-Jährige ist Anwalt von Julian Assange und schrieb das Buch „Crépuscule“ (deutsch: Dämmerung), in dem er sein Insiderwissen zu den Eliten um Emmanuel Macron preisgibt und ihre menschlichen Schwächen offenbart. Da er zunächst keinen Verlag dafür fand, stellte er es im Dezember 2018 kostenlos zum Download ins Netz. Es wurde bereits über 150.000 Mal heruntergeladen.
Der Krieg wird sichtbar
Das Schlimmste, so sagen die Opfer aus dem Video, ist es, von den Medien ignoriert zu werden. Es ist in der Öffentlichkeit so, als gäbe es sie gar nicht. Es erschreckt sie, dass es keinen Skandal gibt, schlimmer noch, dass die Politiker und Mainstream-Medien die Polizeigewalt leugnen und stattdessen — auch bei uns in Deutschland — auf die mutmaßliche Gewalt von Seiten der Demonstranten fokussieren.
Es herrscht Krieg in Frankreich. Und auch bei uns in Deutschland und überall auf der Welt: Der Krieg des Neoliberalismus gegen die Menschlichkeit.
Noch ist er für die meisten unsichtbar. Das Video über die verletzten Gelbwesten jedoch macht ihn sichtbar. Es zeigt auch, dass wir inzwischen viele sind, die sich gegen das menschenfeindliche System und seine Nutznießer wehren. Menschen, die in Frieden leben möchten, die nicht von Gier und Machtgeilheit angetrieben sind und die sich gegenseitig respektieren.
Und so offenbart das Video vor allem eines: Die Eliten sind in der Minderheit und sie haben Angst. Immer offener greifen sie auch mitten in Europa zur Gewalt gegen die eigene Bevölkerung, während sie sich heuchlerisch von Staatsoberhäuptern abgrenzen, die sie als Diktatoren bezeichnen. Damit zeigen sie, was Juan Branco in einem Interview zum Ausdruck bringt: Auch sie sind Menschen.
Engagieren im Sinne der Menschlichkeit
Das Erkennen der Menschlichkeit auf beiden Seiten ist die einzige Möglichkeit, den Frieden zu wahren und inmitten des Chaos aus Gewalt und Manipulation nicht selbst kriegslüstern zu werden. Es fühlt sich anders an zu sagen oder zu denken: „Ich bin wütend auf die machtgierigen Menschen, die in ihrem realitätsfernen Dunstkreis das Leben von Millionen anderen Menschen zerstören“ als „Wir müssen gegen die Eliten kämpfen, die uns alle ausbeuten.“ Denn Krieg ist ja genau das, was die Ausbeutenden, Unterdrückenden und Zerstörenden wollen.
So bleibt uns, uns im Alltag wieder zu begegnen. Uns in die Augen zu sehen, fremde Menschen zu grüßen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, soziale Kontakte — und seien sie noch so flüchtig — zu pflegen und Verbindungen zu knüpfen, die uns alle zu einer stabilen und gesunden Gesellschaft vereinen. Auch mit Menschen, die andere Meinungen vertreten als wir oder die woanders leben. Wenn wir schon mit Billigflügen die Umwelt verpesten, dann sollten wir diese Aufenthalte wenigstens dazu nutzen, mit den Menschen dort in Kontakt zu kommen. Das macht uns als Zivilbevölkerung stark.
Und wer ein sichtbares Zeichen im Sinne von Gemeinschaft und Solidarität setzen möchte, der ziehe sich selbst die gelbe Weste an (1). Wer hält uns davon ab?
Unser innerer Zweifler? Dem können wir antworten, dass etwas nur utopisch ist, solange wir denken, dass es das wäre. Ziehen wir uns eine gelbe Weste an, wenn wir im Alltag unterwegs sind. Erzählen wir unseren Bekannten davon und hören wir nicht sofort auf, nur weil nicht gleich eine Wirkung zu sehen ist. Ein Schneeballeffekt braucht seine Zeit. Es reichen ein paar Influencer, die es an ihre Follower weitergeben. Die Modebranche funktioniert doch auch so. Es ist möglich.
Vom einzelnen Tropfen zum mächtigen Fluss
Handeln wir im Einklang mit unseren Werten von Friedfertigkeit und Respekt für alle menschlichen Wesen. Auch unter den Eliten gibt es — wie Juan Branco beweist — Hoffnungsträger. Sie gilt es zu ermutigen, aus dem Schatten der Machthaber herauszutreten. Gemeinsam schaffen wir das.
Eine Massenbewegung kann gespalten, eine Demonstration gewalttätig niedergeschlagen werden — aber gegen viele einzelne Menschen, die geistig miteinander verbunden sind, kann keine Regierung, kein Kriegstreiber, kein Manipulator etwas tun. Wir sind wie ein Rinnsal, dass sich nach und nach durch das Gestein gräbt und am Ende in einem reißenden Strom seine volle Lebenskraft entfaltet. „Be water, my friend“ – so lehrte es Bruce Lee, der aus dem Kampf eine Kunst machte.
Sehen wir hin. Nehmen wir unseren Mut zusammen und schauen uns das Video mit den verletzten französischen Demonstranten an; stellen wir uns diesen Bildern. Eines Tages könnten wir selbst einer dieser verletzten Menschen sein, wenn wir uns nicht zu einem langsam, aber beständig fließenden Fluss aus gelben Westen und Menschlichkeit verbinden.
Be water, my friends!