Unsichtbare Hände

 In FEATURED, Politik (Inland), Wirtschaft

Zwei Behauptungen – oder moderner: Narrative – strukturieren so ziemlich alle wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten dieser Zeit. Die eine geht von einem Arbeitskräftemangel aus, der gegenwärtig das Wirtschaftswachstum beschränke und zukünftige Rentenzahlungen bedrohe. Rückläufige Geburtenraten werden als Hauptursache dieses Mangels genannt. Die politischen Schlussfolgerungen: Anhebung des Renteneintrittsalters, Verlängerung der Arbeitszeiten, Erhöhung der Zahl der Erwerbstätigen. Insbesondere Frauen sollen statt oder zusätzlich zur Hausarbeit Erwerbsarbeit leisten. Arbeitskräfte werden im Ausland angeworben. Gewerkschaftsforum

 

Andererseits wird als Folge der Digitalisierung ein drastisch sinkender Bedarf an Arbeitskräften vor­aus­gesagt. Es werde zu technologischer Arbeitslosigkeit kommen. Verlängerte Lebens- und Wochenarbeitszeiten, höhere Erwerbsquoten und Einwanderung würden diese nur schlimmer machen. Eher sei über eine Entkopplung von Arbeit und Einkommen nachzudenken. Stichwort garantiertes Mindesteinkommen, möglicherweise finanziert durch Maschinensteuern.

Sinkende Geburtenraten verringern das Arbeitsangebot, Digitalisierung verringert die Arbeitsnachfrage. Je nachdem welcher dieser beiden Faktoren stärker ist, steigt oder sinkt die Arbeitslosigkeit. Insbesondere die Effekte der Digitalisierung sind kaum seriös vorherzusagen. Im politischen Raum wird denn auch munter drauflos spekuliert.

Überhaupt wird dort wenig auf der Grundlage halbwegs gesicherter empirischer Kenntnisse und, soweit möglich, Voraussagen argumentiert. Stattdessen wird beliebig entweder auf den Arbeitskräftemangel oder auf ein technologisch bedingtes Ende der Arbeit hingewiesen, um die jeweils präferierten Forderungen stark zu machen.

Arbeit: Ein Gespenst

Die sich jeweils daraus ergebenden Forderungen lassen sich nicht eindeutig der politischen Linken oder Rechten zuordnen. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters wird von links kritisiert, in der Mitte lauthals gefordert und rechts stillschweigend befürwortet. Die Anhebung der Frauenerwerbstätigkeit wird von links bis in die Mitte gefordert, rechts eher skeptisch gesehen, aber auch nicht rundheraus abgelehnt. Verstärkte Einwanderung wird auf der Linken mehrheitlich und in der Mitte durchgängig positiv gesehen, von der Rechten dagegen fast durchgängig abgelehnt. Ein garantiertes Mindesteinkommen findet sowohl in Teilen der Linken als auch der liberalen Mitte Unterstützung, rechts gibt es an dem Thema wenig Interesse.

Eine eigenständige Positionierung der Linken findet nicht statt. Auch hier dominiert der Bezug auf technologische und demographische Entwicklungen. Die tatsächlich verrichtete Arbeit, ohne die die Reproduktion von Individuen und Gesellschaft nicht möglich wäre, bleibt weitgehend unsichtbar.

Anknüpfungspunkte für eine arbeitszentrierte Politik gäbe es schon. Doch Arbeit und gesellschaftliche Arbeitsteilung treiben hier und dort Theoriezirkel und Publikationsprojekte um, dringen aber nicht in die breite Öffentlichkeit und den politischen Raum vor. Woher rührt diese Blindheit der Linken für die arbeitenden Hände, deren Organisierung sie einstmals zu einer politischen Kraft gemacht hat und die weiterhin für das tägliche Brot sorgen?

Verbindende Klassenpolitik

Vor der Pandemie, in etwa zeitgleich mit den Kandidaturen und Kampagnen Jeremy Corbyns und Bernie Sanders, flackerte in der Linkspartei und ihrem intellektuellen Umfeld eine Debatte über »verbindende Klassenpolitik« auf. Sie nahm die Erfahrungen aus Arbeitskämpfen und Organisationsprojekten verschiedener Beschäftigtengruppen auf und versuchte, diesen eine gemeinsame Richtung zu geben. Auch Themen, die selten bis gar nicht mit den Beziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital in Verbindung gebracht werden: Naturzerstörung, Sexismus und Rassismus, sollten in der neuen Klassenpolitik ihren Platz finden.

Die Debatte versandete schnell. Sie war zu sehr mit den Strömungsauseinandersetzungen innerhalb der Linkspartei und zu wenig mit tatsächlichen, aber isolierten Arbeitskämpfen und Organisationsansätzen verbunden. Die Trennung zwischen alter Klassenpolitik und den Themen der neuen sozialen Bewegungen wurde reproduziert und prägt weiterhin die Fraktionskämpfe innerhalb der Linkspartei, aber auch der Linken in anderen Ländern. Sie sind selbst Folge und Ausdruck des Fehlens einer gegenüber Liberalismus, Konservatismus und Neofaschismus eigenständigen linken Strategie. Eine neue Klassenpolitik könnte das Vakuum auf der Linken füllen, ist aber offenbar schwer zu machen. Wieso eigentlich?

Klassenkonstitution und Arbeiterpolitik

Mit der Entwicklung des Kapitalismus wurde die Lohnarbeit immer mehr zur dominierenden Form gesellschaftlicher Arbeit. Und mit ihr der Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft. Dieser beruht auf der Vorstellung, die Arbeitskraft würde wie jede andere Ware zwischen rechtlich gleichen und freien Marktteilnehmern getauscht. Dass diese Arbeitskraft Mehrwert produziert, wird durch den Kauf und Verkauf von Arbeitskraft auf dem Markt unsichtbar gemacht, Marx hat dies treffend als Warenfetischismus bezeichnet.

Die Frage, weshalb eine neue Klassenpolitik so schwer zu machen ist, könnte daher auch anders gestellt werden: Wie konnte sich trotz Warenfetischismus überhaupt jemals eine Klasse herausbilden, die zu kollektivem Handeln fähig war?

Die liberale Vorstellung von Freiheit und Gleichheit wurde mit der Entstehung des Kapitalismus zur ideellen Geschäftsgrundlage der neuen Produktionsweise. Dennoch verschwanden die Moralvorstellungen, die die vorangegangene feudale Produktionsweise ideologisch stabilisiert hatten, nicht über Nacht. Vielmehr wurden insbesondere dissidente, Gleichheit betonende Bibelauslegungen zu einem gemeinsamen Bezugspunkt für vom Lande vertriebene Bauern und von der aufstrebenden Industrie niederkonkurrierte Handwerker.

Hier fanden sie eine verbindende Moral, um die herum sich Arbeiterklassen als, wie man in Anlehnung an Benedict Andersons Definition der Nation sagen könnte, vorgestellte oder eingebildete Gemeinschaften bilden konnten. Die damit verbundene Entstehung von Arbeiterorganisationen und eigene Theorieproduktion führten schließlich zu einer eigenständigen, in sich aber vielstimmigen, moralischen Ökonomie der Arbeiterklasse. Hieraus schöpften Arbeiter, trotz unterschiedlicher Tätigkeiten, kultureller und ethnischer Hintergründe, ihr Selbstbewusstsein, hieraus entwickelten sie politische Strategien. Beides zusammen machte die Arbeiterklasse zu einem Machtblock, der die kapitalistische Herrschaft herausforderte.

Ein Machtblock mit begrenzter Reichweite allerdings. Arbeit außerhalb der industriellen Lohnarbeit fand darin wenig Raum. Das gilt für die unbezahlte Hausarbeit in den Kernländern des industriellen Kapitalismus ebenso wie für die bäuerlichen Mehrheiten in den Peripherien des globalen Kapitalismus. Es entstanden neue soziale Bewegungen, die, wäre es zu einer Synthese mit der Arbeiterbewegung gekommen, die Herrschaft von Kapitalismus, Imperialismus und Patriarchat hätten überwinden können.

Obwohl diese Synthese nicht zustande kam, fühlten sich die herrschenden Klassen der Welt so sehr herausgefordert, dass sie einen Umbau des Kapitalismus vorantrieben, der mindestens so tiefgreifend war, wie jener, aus dem der Kapitalismus ein paar hundert Jahre früher entstanden war.

Die im Zuge der zwischenzeitlichen Entwicklung entstandene moralische Ökonomie und Infrastrukturen aller sozialen Bewegungen wurden ausgehöhlt, zerstört oder marginalisiert. Lange gepflegte Denkmuster auf der Linken greifen nicht mehr. Deshalb hatten es Liberale längere Zeit einfach, ihr Projekt kapitalistischer Erneuerung als eines der Befreiung der Individuen von sozialstaatlicher Bevormundung und erst recht »kommunistischer Parteidiktatur« zu verkaufen. Deshalb haben es Rechte so einfach, vermeintlich auf vorkapitalistische Zeiten zurückgehende Gemeinschaften, Nation und Rasse, aufzurufen, seit der erneuerte Kapitalismus seinen Glanz verloren hat.

Elend, Entfremdung und Verunsicherung, die der kapitalistische Alltag produziert, werden durch die Anrufung von Nation und Rasse aber nicht überwunden. Die Ahnung, dass die in sie gesetzten Hoffnungen das Elend nicht überwinden, transformieren Entfremdung und Verunsicherung in (Selbst-)Hass, Angst und Aggression.

Nur eine Politik der Arbeit oder genauer der Arbeitenden, unabhängig von der Form, in der sie arbeiten – bezahlt, unbezahlt, auf dem Acker, in der Fabrik, im Büro,in sozialen Einrichtungen oder im Transportwesen –, kann neue Formen des Zusammenarbeitens schaffen, Formen in denen sich die Menschen nicht fremd sind, nicht im Krieg mit der nichtmenschlichen Natur befinden und deshalb geschwisterlich untereinander teilen können.

Anzeigen von 3 Kommentaren
  • Dr. Werner Schwebt
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    Vor der Pandemie, in etwa zeitgleich mit den Kandidaturen und Kampagnen Jeremy Corbyns und Bernie Sanders, flackerte in der Linkspartei und ihrem intellektuellen Umfeld eine Debatte über »verbindende Klassenpolitik« auf.

    Großartig, das hätte SZ Journalist Heribert Prantl ja nicht besser formulieren können. Oder hieß er Herbert? Ich komme mit den Vornamen nicht mehr klar.  Albrecht von Lucke wäre vielleicht auch einverstanden? Die Pandemie hat auch mich schwer durcheinandergebracht! Vielleicht habe ich Long-Drosten, ich weiß es nicht, die Sympthomatik ist mysteriös. Wenn bloss die KI nicht wäre, und die Robotik! Ich bin mir immer noch  nicht sicher, ob die geschwisterlich mit uns teilen wollen, die Roboter? Bei Marx bin icht nicht fündig geworden!  Naja, Hauptsache eine Politik der Arbeitenden  trägt uns. Aber noch immer wird das Dasein des Hausmanns der auch einmal selbst das Klosett repariert nicht hinreichend gewürdigt, da sind wir uns einig. Ich denke hie müssen  Herr Sloterdijkt und Herr Welzer  noch Überzeugungsarbeit leisten, im Sinne des  emanzipatgorischen Klassenbewusstseins, aber das sind nur romantische Überlegungen eines priviligierten Aussenseiters am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit.

    • Esmeralda Sanchez-Brandow
      Antworten
      Ick habe eben och noch mal Bildschirmreiniger aufgertragen, extra dick.  Aber neee, Anführungsstriche kamen nicht zum vorschein, die sind bei mir auch nicht zu sehen, in diesem Absatz des Artikels. Das P-Wort steht da so, wie es sich gehört, also RKI- und Fauci-konform. Auch ein vorangestelltes “sogenannte” konnte ich mit meiner  Lupe nicht ausmachen. Und das bei diesem Autor. Es muss irgendwas bedeuten. Im Sinnedes Klassenkampfs. Oder nich?  Ich weiß nur nicht was. Sorry. Aber dafür gibt’s ja Euch!?
  • Reinhilde von der Utz
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    Isch denke das einzige, wat uns  jetzt hilft wäre  eeen Höchtsmaß an Intellektualität, gepaart mit einer guten  Currywurst rotweiß, und das nicht nur an der Universität Basel sondern weltweit, isch denkeder  gut frisierten Sozilogen Olli Nachtwey geht da konform. Er reflektiert als Professor  auch den Klassenkampf und ähnliche Themen, wie etwa die Wirkmächtigkeit der Philosphie Siegmar Gabriels und das moderne Staatsrecht im Sinne von Carl Schmitt. Die Pandemie hat bewiesen, wir brauchen mehr  soziologische Experten wie ihn, um eine Erklärung der Narrative im Sinne der Geisteswissenschaften nachhaltig und divers  zu inkludieren und das unter den Bedingungen der Klimakrise und einer im mehr an Beliebtheit gewinnenden rechtspolulistischen Sahra Wagenknecht, deren  Ex-Mann dem Reichbürgermilieu zuzurechnen ist, und dessen ehemann etwas von einer globalen weltregierung raunte, so Olli kürzlich in der FAZ. (“BRD noir”, Hinter der Bezahlschranke). Servus.

    https://www.youtube.com/watch?v=IAkJQi2MGQk

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