US-Außenminister James Baker: «Keinen Inch weiter nach Osten»[1]
Die Eskalation des Konflikts mit Russland wurde von den USA und der NATO systematisch betrieben. Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat die NATO ihren Einflussbereich immer weiter nach Osten verschoben. Gleichzeitig hat sie ihre Propaganda gegen ein “aggressives” Russland verstärkt. Der neue Kalte Krieg ist das Ergebnis einer mit langer Hand vorbereiteten Eskalationsstrategie. Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“, das im Westend Verlag erschienen ist. (Florian Rötzer)
Der neue Konflikt zwischen dem NATO-Westen und der Russischen Föderation reicht bis zum Ende des Kalten Krieges zurück, genau in die Zeit, als sich die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow dem Westen öffnete und schließlich unter Boris Jelzin mit dem neoliberalen Crashkurs der Chicago Boys und der daraus folgenden Privatisierung in eine tiefe Krise gestürzt wurde.[2] Während dieser Zeit verarmten große Teile der Bevölkerung, und einige wenige, oft skrupellose Geschäftemacher scheffelten Milliarden, die sie vielfach ins Ausland schafften und selbst gerne nach Großbritannien umsiedelten, wo das russische Geld, egal wie es gewonnen wurde, willkommen war.
Ähnlich machten es Krisengewinnler wie der amerikanische, aus Steuergründen zum Briten gewordene Investor Bill Browder, der sich, nachdem er Russland mit seinem Unternehmen »Hermitage Capital Management« zugunsten von Investoren ausbeutete und reich wurde, zum seiner Ansicht nach größten Gegner Putins erklärte und mit der – vermutlich weitgehend manipulierten – Erzählung über seinen im russischen Gefängnis gestorbenen Steuerberater Sergei Magnitski weltweit antirussische Kampagnen inszeniert. Bislang ist seine Dämonisierung dank der scheinbar überzeugenden Geschichte des aufrechten Whistleblowers gegen das korrupte System Putins nicht nur erfolgreich und wird von zahlreichen Politikern unterstützt, sondern gleichzeitig ein Paradebeispiel dafür, mit welchen Mitteln politische Interessen verfolgt werden. Browder blockierte die Ausstrahlung der investigativen Dokumentation »The Magnitsky Act. Behind the Scenes« (2016) von Andrei Nekrassow durch Arte und verhindert auch weiterhin, dass der Film veröffentlicht wird. Dort wird ziemlich überzeugend dargestellt, dass die Magnitski-Geschichte zumindest viele Ungereimtheiten hat.
Schon am 18. April 1991 hatte Gorbatschows Berater Valentin Falin diesen in einem Memo gewarnt, dass der Westen die Sowjetunion isolieren wolle. Er schlug ein formales und legal bindendes Abkommen vor, das die sowjetischen Sicherheitsinteressen garantieren sollte. Und er forderte Gorbatschow auf, nicht zu naiv in Anbetracht der amerikanischen Interessen zu sein: »Der Westen spielt uns aus, verspricht die Achtung der Interessen der UdSSR, aber in Wirklichkeit trennt er uns Schritt für Schritt vom ›traditionellen Europa‹.«[3]
Während die Sowjetunion implodierte und Gorbatschow Glasnost und Perestroika einführte, den »Bau eines neuen europäischen Hauses« vorschlug und begann, die Verbrechen und Fehler der Stalinzeit aufzuarbeiten, beendete er 1988 offiziell die Breschnew-Doktrin, sodass die Staaten des ehemaligen Ostblocks ihre eigenen Wege einschlagen konnten, ohne eine Militärintervention fürchten zu müssen, auch wenn es wie in Aserbeidschan und den baltischen Ländern noch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam.
Damit ging der Kalte Krieg zu Ende, was sich auch daran zeigte, dass Gorbatschow der Wiedervereinigung Deutschlands zustimmte, während sein Einfluss in Russland immer weiter schwand, auch weil der Westen nicht ihn unterstützte und Russland entgegenkam, sondern auf Jelzin setzte, der sich eine Zeit lang besser lenken ließ, die vom kapitalistischen Westen gewünschten »Wirtschaftsreformen« gegen das Parlament durchsetzte und unter dem nicht nur die Rolle des Präsidenten, die heute so gerne beklagt wird, gestärkt wurde, sondern in dem auch das Oligarchensystem entstand. Beides wird mittlerweile Putins Machenschaften zugeschrieben, ist aber das Ergebnis der Interventionen des Westens. Die westlichen Interventionen haben schon oft, letzte Beispiele sind Afghanistan, Irak, Libyen oder Syrien, eben jene Verhältnisse und Kräfte geschaffen, die dann als neue Feinde des Westens auftreten.
Mit der deutschen Wiedervereinigung, gegen die sich Großbritannien und Frankreich zunächst vehement stemmten, beginnt bereits der Versuch des NATO-Westens, die Schwäche von Russland, von Gorbatschow und schließlich von Jelzin auszunutzen, um die eigenen Interessen durchzusetzen, allen voran die Einbindung des wiedervereinten Deutschlands in die NATO. Mit Tricks und wahrscheinlich auch wegen eines zu hohen, naiven Vertrauens von Gorbatschow wurden in den Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag die Weichen für die NATO-Osterweiterung gestellt, die vom Westen dann Schritt für Schritt unter der »Partnerschaft für den Frieden« verkauft und weiter verfolgt wurde, um den eigenen Einflussbereich in ganz Europa bis an die Grenzen Russlands auszudehnen. Schon 1993 visierte man auch die Integration der Ukraine und sogar von Weißrussland an, Russland sollte von Europa abgespalten werden.
Noch 2001 hoffte der russische Präsident Putin, gerade nach den Anschlägen vom 11. September, auf eine enge Zusammenarbeit mit der EU. Das brachte er in seiner Rede im Deutschen Bundestag klar zu Ausdruck. Doch die amerikanische Reaktion bestand darin, 2002 aus dem ABM-Vertrag auszusteigen und mit dem Aufbau eines Raketenabwehrsystems an der russischen Grenze zu beginnen. Das war ein entscheidender Grund für die Eskalation des Konflikts zwischen Russland und der NATO sowie zum Rüstungswettlauf, auch wenn Washington und die NATO bis heute völlig unglaubwürdig versichern, dies habe nichts mit Russland zu tun.
Die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo, der auf die Osterweiterung angelegte NATO-Gipfel in Bukarest, auf dem George W. Bush die Aufnahme von Georgien und der Ukraine – Janukowitsch war damals für den NATO-Beitritt, die Mehrheit der Ukrainer nicht – forcierte, was aber gerade noch, auch durch den Widerstand Deutschlands, scheiterte, der kurz darauf von Georgien angezettelte Krieg 2008 und, nachdem der Westen massiv die Euromaidan-Proteste unterstützt hatte, der Sturz der Janukowitsch-Regierung 2014, einen Tag nachdem im »Normandie-Format« ausgehandelten Übereinkommen für eine friedliche Übergangslösung, waren Ereignisse, die den russischen Sicherheitsinteressen zu nahe kamen und zu militärischen Reaktionen führten.
Da weder von der neuen, im Westen schnell anerkannten und unterstützten ukrainischen Regierung, die sich gleich in einen Krieg gegen als Terroristen bezeichnete prorussische Ukrainer stürzte, ein Dialogangebot kam, wie der unlängst erst verlängerte Vertrag über den Stützpunkt der Schwarzmeerflotte auf der Krim fortgeführt werden könnte, kam es zu der provozierten Reaktion Russlands, auf welche die NATO wiederum mit Sanktionen und Truppenaufstockungen sowie Militärübungen an der russischen Grenze reagierte. Man muss nicht fragen, wie sich die USA nach einer solch langen Geschichte zunehmender Einschnürung verhalten hätten, einer Taktik, die die USA mit ihrer weltweiten Truppenpräsenz im Übrigen auf ähnliche Weise gerade auch mit China versucht.
Kurz gesagt, mir scheint ziemlich offenkundig, dass die amerikanischen Regierungen mit der Hilfe der NATO den Konflikt mit Russland lange vorbereitet und dann Schritt für Schritt umgesetzt haben, auch wenn vielleicht anfänglich darauf gesetzt wurde, dass Russland zu schwach war und sich immer weiter zurückdrängen und einschnüren lassen würde. 2001 kam für die USA der Umstand zugute, dass die Anschläge vom 11. September für bedingungs- und besinnungslose Solidarität der NATO-Länder sorgten, was seitdem mit der Kampagne der Dämonisierung Russlands und Putins weiter vorangetrieben wurde. Die NATO, die sich immer auch als eine Wertegemeinschaft propagiert, aber keine Probleme mit völkerrechtswidrigen Kriegen und Interventionen hat und tatenlos zusieht, wie sich Länder wie die Türkei, aber auch Ungarn und Polen von der Demokratie und dem Rechtsstaat verabschieden, griff dabei, wie man massiv vor dem Irak-Krieg und zuletzt am Skripal-Fall gesehen hat, immer wieder zur Verbreitung von Lügen, unbewiesenen Unterstellungen und Übertreibungen, um Russland zu isolieren und – selbst angesichts der Brüche der transatlantischen Verbindungen durch den Brexit, die Eskapaden Erdogans und Donald Trumps – die Einheit wiederherzustellen und die Aufrüstung, inklusive der Erhöhung der Wehretats und der Wiederaufnahme des atomaren Wettrüstens, zu verstetigen. Ob es Donald Trump gelingt, eine Wende des Verhältnisses zu Russland einzuleiten, ist fraglich. Schon zuvor war Barack Obama am Widerstand der transatlantischen Kreise und des Sicherheits- und Rüstungskomplexes gescheitert, den Aufbau des Raketenabwehrsystems in Polen und der Tschechischen Republik einzustellen.
Man will uns suggerieren, dass wir im demokratischen, freiheitsliebenden Westen durch das Verhalten Russlands – die »russische Aggression« – gezwungen seien, militärische Stärke zu zeigen und uns auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten, während die NATO immer versucht habe, den Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten und die Beziehungen zu verbessern. So heißt es typisch für die NATO: »Wir suchen nicht die Konfrontation, aber wir können nicht ignorieren, dass Russland internationale Regeln bricht und unsere Stabilität und Sicherheit unterminiert.«[4] Seit 2014, vor allem aber seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2017 (und dem Präsidentschaftskandidaten Trump, der zunächst den Geheimdiensten skeptisch gegenüberstand und auf Russland zugehen wollte) wurde der Konflikt mit Moskau noch einmal eskaliert.
Es ist, wie man uns sagt, die Zeit der hybriden Kriege und der Verbreitung von Desinformationen oder Fake News, die gegnerische oder konkurrierende Gesellschaften destabilisieren sollen. Man unterstellt damit eine Amnesie, als wäre die Manipulation der öffentlichen Meinung, was man seit Jahrzehnten als psychologische Kriegsführung bezeichnet, im Verein mit ausgestreuten Gerüchten und nationalen Medien, früher keine geläufige Strategie gewesen und als gäbe es keine Kenntnis mehr von den Zeiten des Kalten Krieges, als der Konflikt zwischen dem kapitalistischen Westblock und dem kommunistischen Ostblock loderte und mit allen, auch geheimdienstlichen und medialen, Mitteln geführt wurde, während jetzt der bröckelnde Westblock, dem unter Donald Trump die USA als Führungsmacht abhanden kommt, mit Russland im Kampf um Einflusszonen liegt.
Dabei geht es nicht mehr, wie einst im Kalten Krieg, um »Links« oder »Rechts«, um Kommunismus oder Kapitalismus, sondern nur noch um wirtschaftliche und geopolitische Interessen. Schließlich ist die Wirtschaftsform in Russland mittlerweile dieselbe wie im Westen, seitdem die Chicago Boys in einer Schocktherapie das alte staatskommunistische Planwirtschaftssystem nach der Perestroika durch Privatisierung zerbrachen. Es geht um Macht, wobei nur noch manche der früheren ideologischen Bruchstücke ein vermeintliches Narrativ des kapitalistisch-demokratischen Guten gegen das einst kommunistische, jetzt diktatorische und korrupte Böse simulieren. Aber diese Simulation einer schicksalhaften Dichotomie ist für viele Menschen bereits nach den Eskapaden des angeblich epochalen Krieges gegen den Terrorismus bereits im Leerlauf gelandet, die suggerierte Alternativenlosigkeit greift immer weniger. Der Kampf der selbst ernannten Guten gegen das Böse hat die Welt nicht besser gemacht, sondern sie nur stärker fragmentiert und polarisiert. Daher greift die mit immer denselben Mitteln von Politikern, sogenannten Thinktanks (die man eher Beeinflussungsorganisationen nennen sollte) und Medien betriebene Konstruktion des bösen Despoten, den Wladimir Putin zu spielen hat, nicht mehr wirklich.
Zu der wachsenden Indifferenz, die einhergeht mit zunehmendem Nationalismus selbst in den traditionellen Einwanderungsländern, die sich als »melting pot« verstanden haben, gehört natürlich auch, dass die simple Aufteilung in zwei sich bekämpfende Blöcke längst Vergangenheit und einer multilateralen Welt mit mehreren Spielern gewichen ist. Das sorgt für Unübersichtlichkeit, schnell wechselnde Allianzen, für ein permanentes Ausspielen von Vorteilen, schwindende Stabilität, flüchtige Deals – kein Zeitalter der Ideologen mehr, die die Welt in »gut« und »böse« einteilen wollen. Eine Wiederannäherung an Russland, wie das auch im Kalten Krieg möglich war, scheint derzeit nur zu dem Preis des inneren Zerfalls der NATO, vielleicht auch der ebenfalls vor allem durch die Osterweiterung erodierenden EU möglich zu sein. Das beschwört die Gefahr neuer Konflikte herauf, die vom Trump-Amerika bereits mit Handelskriegen gefördert werden. Desto wichtiger wären jetzt Versuche, auf multilateraler Ebene aus der Eskalation auszusteigen und Wege zur Kooperation auszuloten. Wahrscheinlich wäre jetzt noch Zeit, solange der offen kühl und machtstrategisch kalkulierende Wladimir Putin noch Präsident ist und die Zügel – wenn auch wenig demokratisch – in der Hand hat. Wie es im Post-Putin-Russland weitergehen wird, ist kaum abzusehen. Es könnte dann aber wirklich gefährlich werden.
[1] https://nsarchive2.gwu.edu//dc.html?doc=4325679-Document-05-Memorandum-of-conversation-between
[2] Vgl. dazu: Wedel, Janine: The Harvard Boys Do Russia. In The Nation, 14.05.1998. https://www.thenation.com/article/harvard-boys-do-russia/
[3] Siehe dazu: Rötzer, Florian: »Keinen Inch weiter nach Osten«: Was den Russen zur Wiedervereinigung über die NATO versprochen wurde. In Telepolis, 15.12.2017. https://www.heise.de/tp/features/Keinen-Inch-weiter-nach-Osten-Was-den-Russen-zur-Wiedervereinigung-ueber-die-Nato-versprochen-wurde-3918651.html
[4] Siehe dazu: Brussels Summit Declaration, 11.07.2018. https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_156624.htm
Adelheid Bahr (Hg.): „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen. Ein Aufruf an alle von Matthias Platzeck, Peter Gauweiler, Antje Vollmer, Oskar Lafontaine, Gabriele Krone-Schmalz, Peter Brandt, Daniela Dahn und vielen anderen“, 208 Seiten, Westend Verlag, Oktober 2018
Buchinfo:
94 Prozent der Deutschen halten gute Beziehungen zu Russland für wichtig. So das Ergebnis einer umfangreichen Studie des forsa-Institutes für Politik und Sozialforschung aus diesem Jahr. Die aktuelle Politik der deutschen Regierung missachtet diese überwältigende Mehrheit jedoch sträflich. Mehr noch: Seit dem Konflikt in der Ukraine eskaliert die Konfrontation zwischen Ost und West zunehmend. Dabei waren wir schon so viel weiter: Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr machte einen Dialog mit Russland möglich, der den Frieden und gute partnerschaftliche Beziehungen mit Russland sicherte. Ganz im Sinne Ihres verstorbenen Ehemanns setzt sich Adelheid Bahr für eine neue Entspannungspolitik ein und mit ihr eine Vielzahl von Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Kunst.
Mit Beiträgen von Adelheid Bahr, Egon Bahr, Wolfgang Bittner, Peter Brandt, Mathias Bröckers, Daniela Dahn, Friedrich Dieckmann, Frank Elbe, Justus Frantz, Sigmar Gabriel, Peter Gauweiler, Richard Kiessler, Gabriele Krone-Schmalz, Wolfgang Kubicki, Harald Kujat, Oskar Lafontaine, Albrecht Müller, Matthias Platzeck, Detlef Prinz, Herwig Roggemann, Florian Rötzer, Evgeniya Sayko, André Schmitz-Schwarzkopf, Hans-Joachim Spanger, Antje Vollmer, Konstantin Wecker und Willy Wimmer.