Utopia oder: Ich hatte heute Nacht einen Traum

 In FEATURED, Holdger Platta, Kurzgeschichte/Satire

Ich hatte heute Nacht einen Traum. Die Athener Regierung, berührt von der wachsenden Flüchtlingsnot an der Grenze zur Türkei, entschloss sich am gestrigen Tage, die notleidenden Menschen hereinzulassen ins eigene Land, sie erst mal mit allem zu versorgen, was zur Wiederherstellung ihrer Menschenwürde aufs dringlichste erforderlich ist, mit Essen, mit Kleidern, mit guter Unterkunft, nicht zuletzt auch mit ärztlicher Hilfe. Zu meiner großen Überraschung äußerte Kyriakos Mitsotakis in meinem Traum: „Für mich ist das ein selbstverständlicher Akt der Mitmenschlichkeit!“ Träume, die auf Humanität bestehen, haben immer Recht gegenüber der Wirklichkeit! Holdger Platta

Aber in meinem Traum ging es noch weiter – weiter mit einem Beschluss, den ebenfalls Mitsotakis in seiner Fernsehrede bekanntgab: „Und diesem Akt der Mitmenschlichkeit wird nun eine Großaktion der Mitmenschlichkeit folgen. Wir bringen alle Flüchtlinge nach Piräus, wir ziehen dort alle Fährschiffe zusammen, die uns zur Verfügung stehen, bestens ausgerüstet mit allem, was für eine längere Fahrt erforderlich ist, damit es den Menschen gut geht auf unseren Schiffen, und wir werden mit diesen Schiffen aufbrechen zu allen Häfen des europäischen Kontinents. Denn Mitmenschlichkeit, das ist nicht nur das, was kennzeichnend ist für unsere Nation. Mitmenschlichkeit ist auch kennzeichnend für den gesamten europäischen Kontinent. In einer Schaltkonferenz heute Nacht haben wir uns mit allen Ländern Europas verständigt, dass wir die Flüchtlinge zu ihnen bringen können“. Und dann zählte Kyriakos Mitsotakis einen Großteil dieser Länder mit ihren Häfen auf: Frankreich und Italien waren dabei, Spanien und Portugal, Belgien und die Niederlande, Großbritannien und Deutschland sowie sämtliche skandinavischen Länder. Wie viel Namen von Häfen fielen da, auch Namen von Häfen, die mir bis zu meinem Traum völlig unbekannt gewesen waren. Aber Träumer wissen oft mehr als die Realisten. Ganz offenkundig: der Geist der Mitmenschlichkeit hatte das gesamte Europa erfasst, ganz Europa war zu Utopia geworden, und das über Nacht!

Italien, so der griechische Ministerpräsident, warte bereits in Civitavecchia, in Palermo, in Genua, in Ancona und Bari, in Tarent, Livorno und Triest auf die geflüchteten Gäste. Frankreich habe unter anderem die Häfen von Nizza und Marseilles, von Toulon und Cannes, sogar von Villefranche-sur-Mer, für die notleidenden Menschen geöffnet. Selbst das kleine Monaco sei mit von der Partie bei dieser Hilfsaktion. Auch Le Havre, Calais, Brest und La Rochelle würden angesteuert werden. Spanien würde helfen – Barcelona und Vigo und Valencia seien vorbereitet -, selbstverständlich auch Portugal mit Aveiro, Sines, Setúbel, mit Porto und Lissabon. Weiter entfernt bereiteten sich auch die Niederlande auf diese Großaktion der Mitmenschlichkeit vor, in Rotterdam und Amsterdam, desgleichen Belgien mit Antwerpen, Zeebrugge, Brüssel und Gent. Und schließlich erwähnte Mitsotakis nach Dänemark mit Aarhus und Esbjerg, nach Norwegen mit Bergen, Oslo und Narvik, nach Finnland mit Helsinki und Schweden mit Trelleburg und Stockholm auch die Bundesrepublik (mit Bremerhaven und Hamburg). Und selbst Großbritannien habe sich dieser Großaktion der Mitmenschlichkeit nicht verschlossen: die Häfen von Dover und London warteten auf die griechischen Schiffe mit all den Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan, aus dem Iran und aus Irak und aus zahlreichen afrikanischen Ländern an Bord. „Wir haben begriffen, Europa hat begriffen“, so der griechische Regierungs-Chef, „ein Erdteil mit über 500 Millionen Menschen wird ohne große Mühen imstande sein, den Zehntausenden von Flüchtlingen helfen zu können. Alles andere wäre nur selbstmitleidig-sentimentales Geschwätz, um es nicht gleich Lüge zu nennen“. In welchen Wahrheiten bewegte sich da mein Traum?

War das noch der Ministerpräsident, den ich zu kennen glaubte? War das noch das Europa, das in den letzten Jahren so erbärmlich versagt hatte? – Nein, es war die Stimme der Mitmenschlichkeit, die im Traum nichts anderes als selbstverständlich war. Es war die Stimme der Humanität, die auch nach meinem Erwachen nichts von ihrer Selbstverständlichkeit verlor.

Ich hatte heute Nacht einen Traum. Nur einen Traum? Einen Traum, der nicht stimmt? Einen Traum, der verrückt ist?

Nein, wenn dieser Traum verrückt war und nicht stimmt, dann stimmt auch die Wirklichkeit nicht und ist verrückt, gegen die in diesem Traum anfantasiert wird!

Ich wachte auf mit Tränen des Glücks. Muss ich nun Tränen vergießen wegen des Unglücks auf dieser Welt?

Als ich aufgestanden war und zum ersten Mal aus dem Fenster sah, erblickte ich ersten Sonnenschein zwischen den Bäumen. Da kam es mir vor, die Sonne schiene an unserem Erdball vorbei. So kann es, bei aller Helligkeit, sehr dunkel sein bei uns, bis mitten in unsere Zimmer und Herzen hinein.

Die Helferschiffe sind aber immer noch in meinem Kopf unterwegs und steuern die europäischen Häfen an. Was wird sie dort erwarten? Welches Europa erwartet sie da?

Etwas später holte ich dann die Zeitung herein. Erfreulich war nicht, was ich da las.

Aber wer kennte das nicht.

Anzeigen von 6 Kommentaren
  • Volker
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    Lieber Holdger,
    leider nur ein  flüchtiger Traum aus der Tiefe der Seele Menschlichkeit, der sich auflöst und in die Fratze unmenschlicher Politik sieht, deren Verachtung der Mitmenschlichkeit mit brutalster Gewalt fortschreitet.
    Ich bin fassunglos, dass Menschen, deren Leid kaum zu beschreiben ist, noch mehr Leid sowie Missachtung erfahren, weil im politischen Machtwahn flüchtenden Menschen, Opfer westlicher Gewaltausübung, jegliche Mitmenschlichkeit verweigert wid.
    Ich lese, mit dem Gefühl mich übergeben zu müssen, dass gerade Deutsche Politik – im angeblich zivilisierten Europa – humane Werte besudelt und mit Füßen tritt. Besser ausgedrückt: Den verzweifelten Schrei nach Menschlichkeit mit bewaffneter, zunehmender Gewaltbereitschaft erstickt und niederkämpft. Tränengasgranaten gegen flüchtende Familien mit Kindern!, Angriffe auf überfüllte Boote!, rechte Schlägerbanden! und Militär – dies ist die Antwort auf humanitäre Selbstverständlichkeit.
    Diese geschundenen Menschen fliehen aus Kriegsgebieten, die Deutsche Politik mitzuverantworten hat, Menschen, deren Seelen verstümmelt wurden, Kinder, die nicht anderes kennen, als Krieg und Tod. Die Antwort darauf, als tödliche Botschaft “demokratischer Friedensbringer”: Bleibt wo ihr herkommt. Oder verreckt.
    Merkel und Co. haben mehr Verständnis dafür, einen möglichen Weltkrieg vorzubereiten, als das zu tun, was von Menschen, die sich als solche bezeichnen, zu erwarten wäre: Menschlichkeit behüten.
  • Rocco
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    Jeder darf träumen
  • heike
    Antworten
    Schön, wenn Menschen noch Träume haben und den Glauben an Gerechtigkeit nicht velieren.

    Ich war auch lange Zeit meines Lebens ein Optimist und der Meinung, dass die Menschheit sich insgesamt hin zum Besseren entwickelt. Vielleicht tut sie das insgesamt ja sogar – aber leider immer auf die Kosten von Menschen, die dafür viel Leid erfahren müssen.

    Wieviele Kurden hat man gefoltert, ermordet, deren Familien gequält? Es interessiert fast niemanden. Julian Asange droht ein lebendiges Grab in den Fängen derer, die die Verbrechen begangen haben – das interessiert nun glücklicherweise schon ein paar mehr.

    Die Freiheit wird täglich errungen ode verloren – und diejenigen, die sich für andere einsetzen, sind die, die dabei vor die Hunde gehen. Früher oder später.

    Diejenigen, die sich ausschließlich um sich und ihre eigenen Familien kümmern, sind da besser dran. Denen geht es vielleicht ein bisschen besser.

    Wie auch immer: das Leben ist meiner Meinung nach doch nicht gerecht. Wie soll ein Julian Assange das Leben gerecht finden? Welche vergangenen Karma- “Verbrechen” soll er begangen haben, dass ein solches Vorgehen berechtigt wäre? Die Ungerechtigkeiten werden von Menschen begangen und die Mörder leben immer am längsten – und dazu oft noch nicht mal gar nicht so schlecht. Pinochet und seine Folterknechte sind auch unbehelligt steinalt geworden – ihre Opfer sollten am besten aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwinden.

    Ein Mensch, der ausreichend ganz ist, kann gute Träume für die Zukunft haben. Das ist sehr gut, dass es solche Menschen gibt. Aber Menschen, denen ständig Unrecht widerfährt und die dadurch innerlich immer kaputter werden, die können keine guten Träume für die Zukunft mehr haben. Die weichen nur noch weiteren Verletzungen aus, soweit es ihnen möglich erscheint: “Weil man Frierende besser regieren kann …” Und dann wird ihnen von den Satten noch vorgeworfen, dass sie nicht mehr so ein einnehmendes, entgegenkommendes Lächeln besitzen.

    Keine Ahnung, wie das hier weitergehen soll. Wahrscheinlich mache ich das, was auch die chilenischen Folteropfer getan haben: untertauchen, still sein und die Klappe halten. Ich bin ziemlich enttäuscht von diesem Leben.

     

     

  • Ruth
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    „Träumer aller Länder, vereinigt euch!“

    Ich gehöre dazu!

    Denn die Welt schaut weg und zeigt ihr schrecklichstes, inhumanstes Gesicht!

    Europa wird zur Festung und rüstet auf! Frau von der Leyen schwor einmal den hypokratischen Eid; weißer Kittel weg, Haltung weg!

    Nun vertritt sie die Interessen der EU – Grenzen dicht, auch mit Gewalt! Medienwirksame Bilder und schnell zurück ins sichere, heimelige Brüssel. Erdogan erhält weitere Milliarden, Mitsotakis schickt 1000 weitere schlagkräftige Soldaten an die Grenze, Flüchtlinge werden ins Elend zurückgetrieben!

    Eine EU, die ihren Namen nicht wert ist; geschweige ihrem eigenen Anspruch folgt und danach handelt!

    • Ruth
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      Ich bin so erzürnt: Erdogan schickt 1000 Soldaten!!
  • Jan
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    Sehr schön,

    denn wer weiß schon was Traum, was Realität.

    “Der Krieger erwacht. Er wurde über Nacht zum Krieger gemacht. Macht sich bereit….Zeit mit Warten verbracht, Zeit mit Worten verbracht, es uns bequem gemacht….Der Schläfer erwacht….und sein Traum geht weiter weil der Zauber wirkt…

    Freier Frieden, Licht und Liebe

    Danke

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