Verachtung der Armen – Eine linke Kritik der „Bürgergeld-Reform“

 In FEATURED, Politik (Inland)

Bildquelle: Paritätischer Wohlfahrtsverband

Die vollmundigen Prophezeiungen der SPD, mit einem neuartigen „Bürgergeld“ Hartz IV überwinden zu wollen, waren von Anfang an ein Etikettenschwindel. Denn inzwischen dürfte offensichtlich sein, dass an dem Verarmungs- und Repressionsprogramm „Hartz IV“ in allen wesentlichen Punkten festgehalten wurde. Keiner der zentralen Kritikpunkte der letzten Jahre fand Eingang in das nunmehr vom Bundestag verabschiedete Konzept: weder die seit Jahren geforderte deutliche Erhöhung des Regelsatzes, noch die bedingungslose Abschaffung des Sanktions-Systems oder die Abschaffung des Zwei-Klassen-Systems in der Arbeitsförderung sind auch nur ansatzweise berücksichtigt worden. Gewerkschaftsforum

 

Hartz IV ist Armut per Gesetz

Bereits unmittelbar nach der Einführung von Hartz IV zum 1.1.2005 („4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“) wurden zahlreiche Stimmen laut, dass der damals in Höhe von 345 € bemessene Regelsatz, der durch die Abschaffung der bisherigen Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau gekürzt wurde, erheblich zu niedrig sei und nicht ansatzweise eine soziale und kulturelle Teilhabe ermögliche. Weder die Anteile für Ernährung, Stromkosten oder Mobilität deckten annähernd die tatsächlichen Kosten. Ebenso wenig entsprachen die Wohnkosten den tatsächlichen Kosten, sondern die dafür zuständigen Kommunen beauftragten private Firmen, die die Mietkosten in der Regel am unteren Niveau der in den jeweiligen Kommunen ermittelten Grundmieten orientierten. Diese Unterdeckung führte in den Folgejahren zu einer massiven Verschuldung von Grundsicherungs-Betroffenen, weil die von den Jobcentern bewilligten Mietkosten zumeist nicht den tatsächlichen Kosten entsprachen, so dass z.B. im Jahre 2017 die betroffenen Mieter*innen ca. 627 Mio. € (!) aus ihrem Regelsatz aufbringen mussten. Ebenso verhält es sich mit den unzureichenden Stromkosten im Regelsatz, die ständig mit einer zusätzlichen Verschuldung verbunden sind und darüber hinaus dazu führen, dass die Versorgungs-Unternehmen nicht nur Stromsperren androhen, sondern diese auch in einem dramatischen Ausmaß durchführen (2014: ca. 325.000 Stromsperren).

Insbesondere das Thema „Sanktionen“ war von Beginn an ein medial stark aufgegriffenes Thema, da in Spitzenzeiten mehr als 1 Mio. Sanktionen verhängt wurden, wobei die meisten davon auf die 10%igen Sanktionen wegen sog. Meldeversäumnissen entfallen und der geringere Teil die 30%igen, 60%igen oder 100%igen Sanktionen bisher betreffen. Die breite Protestwelle gegen das bis zur Einführung von Hartz IV unbekannte Sanktions-System führte nach langjährigen Auseinandersetzungen zu einem eher bescheidenen Erfolg, als das BVerfG im November 2019 die Sanktions-Regeln grundsätzlich für verfassungswidrig erklärte, aber den Standpunkt vertrat, dass Sanktionen i.H. von 30% noch verfassungsgemäß seien. Diese wurden zwar während der Pandemie durch ein Moratorium zeitweise ausgesetzt, blieben aber grundsätzlich in Kraft.

Kapitalvertretungen fordern Verschlechterungen

Doch es waren nicht nur kritische Stimmen von links, die das „Hartz IV-Modell“ kritisierten, sondern auch das rechte Lager von Konzernen, Banken und ihren Interessenverbänden versuchte von Anfang an, die bescheidenen und unzureichenden Hartz IV-Sätze als arbeitsmarktfeindlich zu attackieren. So war es kein Geringerer als der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, der forderte: „Das Niveau der Lohnersatzleistungen muss reduziert oder es müssen die Bedingungen für den Anspruch auf diese Leistungen verschärft werden (Passauer Neue Presse 02.08.2006). Auch seine Erfüllungsgehilfen in der Politik wollten dem nicht nachstehen, wie z.B. der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle, der den historischen Ausspruch prägte: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ Ergänzend sei der Präsident der Gesamt-Metall Chef Stefan Wolf zitiert: „Wir brauchen eine Reform analog zur Agenda 2010. Der Ansatz muss sein, dass es sich lohnt zu arbeiten. Ich bin dagegen, dass jemand, der nichts tut, obwohl er es könnte, eine Grundsicherung bekommt“ (WAZ 27.01.2021).

Diese Signale trafen auf offene Ohren sowohl beim Wirtschaftsrat der CDU, als auch der AfD. So forderte der Wirtschaftsrat, die Zahlung des Bürgergeldes von der Verpflichtung zu einer gemeinnützigen (kostenlosen) Arbeit abhängig zu machen (Merkur.de 02.09.2022), während die AfD dies in der Bundestagsdebatte dahin konkretisierte, dass alle Bürgergeld-„Empfänger*innen“ nach einer Karenzzeit von 6 Monaten grundsätzlich zu einer gemeinnützigen Arbeit von 15 Wochenstunden verpflichtet werden sollten. Diese auf noch mehr Armut und Repression setzende Politik des deutschen Kapitals ist die Blaupause für die in den letzten Wochen vor Verabschiedung des „Bürgergeld-Gesetzes“ erfolgte Kampagne von CDU/CSU. Nachdem sich ihre Behauptung, mit dem neuen Bürgergeld lohne es sich nicht mehr zu arbeiten, weil Bürgergeld im unteren Lohnbereich höher liege, sich als eine erbärmliche Mogelpackung herausgestellt hatte, konzentrierte sie im fliegenden Wechsel ihre Angriffe auf die Höhe der Vermögensfreistellung sowie auf die temporäre Aussetzung der Sanktionen innerhalb der ersten sechs Monate. Die SPD sowie die anderen Parteien der Ampelkoalition erklärten sofort ihre Bereitschaft, auf den Rechtskurs von CDU/CSU einzugehen, so dass die Höhe des Schonvermögens deutlich nach unten geschraubt wurde und die Sanktionen ohne Karenzzeit wieder von Anfang gelten.

Was ist dann überhaupt noch bei der sog. Sozialstaats-Reform herausgekommen:

Die Regelsatzhöhe als der umstrittenste Kernbereich von Hartz IV wird von 449 € bisher auf 502 € ab 1.1.2023 angehoben und kompensiert damit noch nicht einmal die Inflationsrate, die für die von Armut betroffenen Menschen insbesondere bei der Ernährung aktuell bei über 20% liegt. Da die Stromkosten weiterhin Bestandteil des Regelsatzes in völlig unzureichender Höhe bleiben, ist eine Ausweitung von Verschuldung und Notlagen vorprogrammiert. Wichtig ist festzuhalten, dass die SPD sich bei allen ihren vollmundigen „Hartz IV-Überwindungs“-Erklärungen zur Höhe des Bürgergeldes systematisch ausgeschwiegen hatte. Ebenso bleibt die seit Jahren erhobene Forderung nach Anrechnungsfreiheit des Kindergeldes, was allen Bezieher*innen von Erwerbseinkommen zusätzlich zum Einkommen zur Verfügung steht, unberücksichtigt.

Das Sanktions-Regime bleibt grundsätzlich unverändert. Die SPD wollte ihrem Entwurf lediglich in den ersten 6 Monaten des Leistungsbezugs keine Sanktionen verhängen, was aber durch die Intervention von CDU/CSU wieder kassiert wurde. Eine Abschaffung der Sanktionen bzw. zumindest eine deutliche Abmilderung war für die SPD bisher ein zentraler und wichtiger Aspekt ihres Reform-Projekts.
Es soll die bisherige „Eingliederungsvereinbarung“ durch einen „Plan zur Verbesserung der Teilhabe“ (Kooperationsplan) ersetzt wurden, wodurch bisher suggeriert wird, dass damit Jobcenter und Leistungsbezieher*in quasi auf Augenhöhe agieren würden. Auch dies ist ein grandioser Etikettenschindel, da Leistungsbezieher*innen auch weiterhin keine Möglichkeit haben, dass Jobcenter zu irgendwelchen Verpflichtungen zu veranlassen, diese verbleiben ausschließlich bei den Betroffenen.

Auch die neuen sog. „Freibeträge“ bei einer Erwerbsarbeit gleichen eher einer Luftnummer. Denn bis zu einem Einkommen von 1200 € werden im Gegensatz zur bisherigen Regelung maximal 48 € mehr freigestellt, also nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Diese „Sozialstaatsreform“ gleicht einer Reformruine

Das Einknicken der SPD muss im Prinzip überraschen, da sie es war, die im Herbst 2018 sehr lautstark und medienwirksam eine „Überwindung“ von Hartz IV forderte. Ihre damalige Arbeitsministerin und zeitweilige SPD-Chefin Andrea Nahles hatte bei einem Debattencamp der SPD eine „Sozialstaatsreform 2025“ angekündigt und betont: „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen.“ Kurze Zeit später erklärte der damalige Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert: „Der Kampf gegen die Logik des Hartz IV-Systems war immer auch ein Kampf der Jusos.“ Gleichzeitig forderte er eine Abschaffung der Sanktionen, da eine Grundsicherung „niemals relativierbar“ sein könne. Nach diesen vollmundigen Ankündigungen hätte deshalb erwartet werden dürfen, dass das Hartz IV-System, wenn auch nicht abgeschafft, so doch an seinen entscheidenden Baustellen (Regelsatzhöhe, Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln) reformiert werden würde.

Dass dies nicht erfolgt ist, ist nicht nur mit den CDU-Angriffen zu erklären, sondern dürfte seinen wesentlichen Grund darin haben, dass die SPD-Parteiführung bisher an der Agenda-Politik grundsätzlich festgehalten hat und offensichtlich mit ihr eine „Verabschiedung“ von Hartz IV nicht zu haben ist. Dies betrifft insbesondere Scholz als damaligen Generalsekretär der SPD während der Schröder/Fischer-Regierung. Dies betrifft ebenso Hubertus Heil, der 2005 Generalsekretär der SPD wurde und in dieser Eigenschaft Hartz IV von Anfang verteidigt hatte. Dies betrifft insbesondere auch Lars Klingbeil als neuen SPD-Chef, der sich bisher im Seeheimer-Kreis engagierte und aus seiner Nähe zu den Kapitalverbänden nie einen Hehl machte. Dass Nahles und Kühnert nunmehr ebenfalls ihre bisherigen Positionen revidiert haben, zeigt einmal mehr, zu welchen Zugeständnissen der linke Flügel innerhalb der SPD bereit ist, wenn es um finanzielle Privilegien und den Rockzipfeln der Macht geht (Nahles steht inzwischen der Bundesagentur für Arbeit vor und Kühnert hat es vor wenigen Monaten auf den Thron des Generalsekretärs der SPD geschafft).

Auch wenn die vom Wirtschaftslager und Teilen der CDU und der AfD geforderte Zwangsarbeit bisher noch keinen Eingang in das neue Bürgergeld-Gesetz gefunden hat, steht das Gesetz auch weiterhin für Armut und Repression. Dies ist insbesondere eine Schlag ins Gesicht für die bundesweit ca. 3,8 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sowie den ca. 1,5 Mio. Kindern und Jugendlichen bis 14 Jahren, aber auch für die ca. 630.000 Menschen im Rentenalter, die gezwungen sind, aufgrund ihrer zu geringen Renten aufstockende Leistungen vom Sozialamt zu erhalten („Grundsicherung im Alter“).

Zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens gab es noch eine besondere Kuriosität. Nachdem die Linksfraktion im Bundestag bei der Abstimmung ihre Zustimmung verweigerte und ihre Abgeordnete im Vermittlungsausschuss, Gesine Lötzsch, den durch die Intervention der CDU deutlich verschlechterten Kompromiss abgelehnt hatte, erteilten die Regierungsvertreter*innen der LINKEN im Bundesrat bei der abschließenden Abstimmung ihre Zustimmung. Der Vertreter Thüringens, Benjamin Hoff, erklärte dazu: „Wenn Thüringen heute dem Bürgergeldgesetz zustimmt, dann tun wir dies, weil wir anerkennen, dass mit dem Bürgergeldgesetz Verbesserungen verbunden sind.“ Damit wird einmal mehr als deutlich, zu welchen Anpassungsleistungen Linke in der Regierung bereit sind. Dann verkaufen sie lieber die Interessen von ca. 6 Mio. Menschen, die sich mit der „Bürgergeld-Reform“ eine deutliche Verbesserung ihrer Lebenslage erhofft hatten, um weiterhin am Katzentisch der Macht Platz nehmen zu können.

Andererseits müsste den SPD-Verantwortlichen eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben, dass sie in den letzten Jahren auf zahlreichen Konferenzen und mit entsprechenden Positionspapieren erklärt hatten, Hartz IV hinter sich zu lassen, während sie am Ende des Tages an „Erneuerung“ dem bisherigen Hartz IV-System lediglich ein neues Etikett aufgeklebt hat. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

 

Der Autor:

Jürgen Aust ist Mitglied im Bundessprecher*innenrat der AKL und seit Jahren in Duisburg in der Sozialberatung tätig.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen