Ein langes Fazit passt nicht zum Konzept dieses Buches. Erstens würde das so aussehen, als ob die Wissenschaft am Ende doch wieder alles besser weiß — frei nach dem Motto: Erst lassen sie die Menschen reden und dann deuten sie einfach das hinein, was sie von Anfang an geplant haben. Zweitens sperrt sich das Material gegen jede Zusammenfassung. Das heißt: Es würde schon gehen, wäre aber gleichzeitig teuer erkauft. Man lese zum Beispiel nur noch einmal, was Kuros zum ‚Elend der Medien‘ zu sagen hat, der Softwareentwickler aus dem Iran. Anstatt Komplexität zu reduzieren und nach Schnittstellen zu suchen (etwa mit den Kritikern, die sich regelmäßig bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten beschweren), müsste man diesen Monolog eigentlich eher anreichern — mit Literatur zur Mediengeschichte, mit Literatur zur Medienökonomie, mit Literatur zur international vergleichenden Journalismusforschung.
Genau das (Einordnung, Kontextualisierung) haben wir drittens versucht — in den Einführungen zu den einzelnen Kapiteln. Diese Texte sind zugegebenermaßen vergleichsweise kurz, aber nicht nur der Verlag hat gewünscht, dass wir uns wenigstens in Sachen Umfang nicht am Vorbild „Das Elend der Welt“ von Pierre Bourdieu (1997) orientieren.
Dieser Schlussabschnitt kann folglich nur Pflöcke setzen und so hoffentlich einen Weg weisen für die Gruppe, die ab dem Sommer 2021 an einem Bürgergutachten zur Zukunft von Medien und Journalismus arbeiten wird. Das ist der Clou des Projekts Media Future Lab, in dem dieses Buch entstanden ist: Mit dem Wissen aus verschiedenen Welten (Redaktionen, Universitäten, Aufsichtsgremien, Aktivismus, Zivilgesellschaft, Publikum) soll hier etwas Neues entstehen, aufgeschrieben nicht von denen, die sonst immer schreiben, sondern von denen, die es am Ende angeht, weil sie Rundfunkbeiträge zahlen (müssen) und die Medienrealität nicht ignorieren können.
Das Offensichtliche zuerst: Der Desinformations-Frame, mit dem Politik, Medienforschung und der Machtpol des journalistischen Feldes das „Elend der Medien“ erklären, zerschellt an der Wirklichkeit. Etwas präziser: Die Wirklichkeiten, die in diesem Buch präsentiert werden, entlarven den Desinformations-Frame als Ideologie — als eine Sicht auf die Welt, die von einer bestimmten Gruppe getragen wird (in den Worten von Colin Crouch: von der „etablierten Macht“ und von denjenigen, „die es vorziehen, sich auf ihre Seite zu stellen, weil sie ihnen Sicherheit zu bieten vermag“) (1) und die in erster Linie dazu dient, die eigenen Pfründe zu verteidigen. Keiner unserer Protagonisten ist durch „Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass“ (so hat Angela Merkel im Herbst 2020 den ‚Feind‘ aus dem Internet beschrieben) vom Weg abgekommen und zum Zweifler an dem geworden, was Tagesschau, Spiegel oder Regionalzeitung Tag für Tag verbreiten.
Dieser Befund lässt sich mit Blick auf den Stoff, den wir in diesem Buch ausbreiten, sicher verallgemeinern, auch wenn wir unsere Befragten nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt haben. Niemand stößt ‚einfach so‘ auf KenFM oder Rubikon (zwei Plattformen, die hier pars pro toto stehen) — und wenn doch, dann löst dieser Kontakt nichts aus. Zuerst ist die Skepsis da, und dann kommt das Internet. Diese Skepsis kann ganz unterschiedliche Wurzeln haben. Bei den einen sind es Erinnerungen an die DDR oder Menschen, die auf die eine oder andere Weise Distanz zur „etablierten Macht“ vorgelebt haben.
Andere wiederum haben eigene Erfahrungen gesammelt — mit den Mächten vor Ort (wie Attila Projahn, der Bürgermeister von Elend), mit Journalisten (wie Isabel, die ausgebremste Unternehmerin), mit Strukturen (wie Christian, der Filmproduzent) oder mit Medienangeboten, die zu einem ganz bestimmten Thema (etwa: Russland, Gesundheit, Impfen) plötzlich so offensichtlich gegen das angesendet haben, was man selbst für richtig und wichtig hält, dass gar keine andere Wahl blieb, als im Netz nach Informationen zu suchen und auch das zu hinterfragen, was die Leitmedien zu anderen Themen berichten.
Wie jede Ideologie hat auch der Desinformations-Frame einen wahren Kern (sonst könnten nicht so viele an ihn glauben): Ohne das Internet wäre es weit schwerer, das Deutungsmonopol der traditionellen Medien und der „etablierten Macht“, die die Redaktionen füttert (2), auch nur zu erkennen.
Anders als vor 15 Jahren (Facebook startet 2004, Youtube 2005, Twitter 2006 und Instagram 2010) oder gar vor drei Jahrzehnten ist es heute ein Leichtes, den Journalismus der Täuschung zu überführen, wenn er behauptet, ausgewogen, neutral und objektiv zu sein sowie Vielfalt zu liefern (alle Themen und Perspektiven, damit wir uns selbst eine Meinung bilden können) (3). Marcus Klöckner hat beschrieben, wie schwer es für ihn in den 1990ern war, an Informationen über die Bilderberger heranzukommen.
Ohne einen Mentor aus den USA und ohne die Marburger Universitätsbibliothek im Rücken wäre aus ihm vielleicht nie ein herrschaftskritischer Journalist geworden. Heute ist vieles von dem, was die Leitmedien ausblenden oder im Interesse der „etablierten Macht“ verzerren, im Wortsinn öffentlich — oft allerdings auf Portalen, die im Desinformations-Frame als Ursache für gesellschaftliche Probleme gebrandmarkt und (so lautet die Handlungsempfehlung) im Zweifel per Gesetz bekämpft oder in ihrer Reichweite beschnitten werden (entweder über eine Abschaltung der Kanäle oder über „Fakten-Checks“, die dann wiederum zu Warnhinweisen führen).
Wer ‚das Internet‘ verantwortlich machen möchte für das ‚Elend der Medien‘, findet in diesem Buch auch jenseits des Desinformations-Frames genügend Futter. Die neue Konkurrenz (vor allem die aus dem Silicon Valley) hat das Geschäftsmodell obsolet gemacht, von dem Tagespresse und Privatfunk lange gut gelebt haben, und außerdem die Logik des journalistischen Feldes so verändert, wie es der Kommerzialisierungs- und der Mainstream-Frame beschreiben. In Schlagworten: Imperativ der Aufmerksamkeit, Effizienz und Spardruck, Orientierung im Kollegenmilieu und Vernachlässigung der öffentlichen Aufgabe.
Man kann das nachlesen in den beiden Kapiteln, die in das Innere des Feldes schauen und das alles mit vielen Beispielen illustrieren. Dort wird auch über Arbeitsbedingungen gesprochen, die es mindestens schwer machen, den Auftrag Öffentlichkeit (vgl. Pöttker 2001) zu erfüllen: abhängige Beschäftigung, Ressourcen- und Personalknappheit, Outsourcing. Wie soll ich meiner Chefredakteurin widersprechen oder gar dem Anrufer aus der Staatskanzlei, wenn ich nicht sicher sein kann, auch nächsten Monat wieder im Dienstplan zu stehen oder Aufträge zu bekommen?
Um den Gedankengang bis hierher zusammenzufassen: Wer sich im Desinformations-Frame bewegt, baut einen Popanz auf (Verschwörungsmythen aus dem Netz, die angeblich die Demokratie zersetzen) und übersieht oder verniedlicht das, was den Qualitätsjournalismus schon heute fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt: eine Öffentlichkeit, die längst von der Aufmerksamkeits- und Gewinnmaximierungslogik der großen Plattformen regiert wird und von der „etablierten Macht“ schon deshalb leicht zu steuern ist, weil sich die Betreiber nicht an Qualitätskriterien wie publizistische Vielfalt gebunden fühlen und Regulierung eine Drohkulisse mit disziplinierender Wirkung ist, weil jeder Eingriff des Gesetzgebers mit ökonomischen Verlusten verbunden sein würde.
Um zu studieren, welche fatalen Folgen der Desinformations-Frame hat, muss man nur zu dem Kapitel über das ‚andere‘ journalistische Feld zurückblättern. „Ich habe an ganz vielen Debatten teilgenommen“, sagt dort Paul Schreyer, Mitherausgeber des Onlinemagazins Multipolar, über sein politisches Erweckungserlebnis nach dem 11. September. „Ich war begeistert, wie sich die Leute in den Online-Foren ausgetauscht haben, und habe gesehen, wie man vom Internet profitieren kann.“ Und etwas später:
„Im Internet kann man Links setzen, mit Belegen. Man kann prüfen, was dort steht. Zu den Quellen gehen. Das hat mich fasziniert. Das Prinzip, Informationen in dieser Breite für jeden zugänglich und überprüfbar zu machen.“
Schreyer wusste schon damals, mit Mitte 20, um die toxische Wirkung des Desinformations-Frames (er war sich sicher, keine respektable Karriere machen zu können, wenn er zum Thema 9/11 publiziert), und Marcus Klöckner erinnert sich sogar noch an eine TV-Talkshow, in der Andreas von Bülow und sein Buch über Geheimdienste und Terrorismus 2003 aus dem Raum des leitmedienöffentlich Sagbaren ausgeschlossen wurden (vgl. von Bülow 2003).
Schreyer und Klöckner reklamieren heute genau wie Florian Rötzer oder Jens Wernicke für sich, genau das zu tun, was eine Demokratie vom Journalismus erwarten darf. Aufklären. Zur Meinungsbildung beitragen. Die Zeitumstände kritisch begleiten. Niemanden ausgrenzen. Den Positionen eine Stimme geben, die sonst nirgendwo zu hören sind. Die soziale und die politische Wirklichkeit erfassen. Dabei fair sein. Sie tun das aber nicht dort, wo Realität definiert wird (in den Leitmedien), sondern auf Plattformen, die wenig ökonomisches Kapital haben und kaum symbolisches Kapital gewinnen können, solange sie der Desinformations-Frame ins Abseits stellt.
Diese Herausforderer haben die tradierte Erzählung des Journalismus über sich selbst als Berufsideologie enttarnt. Viele der ‚Laien‘, die in diesem Buch zu Wort kommen, wissen oder ahnen, dass professionelle Normen wie Objektivität, Ausgewogenheit oder Neutralität genau wie die Nachrichtenwerttheorie die Zwänge und Interessen verschleiern, die hinter jeder Selektions- und Framingentscheidung stehen. Und:
Kollegen wie Marcus Klöckner, Paul Schreyer oder Jens Wernicke halten dem Journalismus auch in ganz anderer Hinsicht den Spiegel vor, weil sie qua Herkunft oder Lebensweg Erfahrungen in das Feld einbringen, die in den Großstadt-Akademiker-Redaktionen absoluten Seltenheitswert haben.
Das gilt auch für Medienkritiker wie Maren Müller, Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam oder Heiko Hilker, die Selbstverständlichkeiten einfordern und trotzdem an den Mauern abprallen, die das journalistische Feld um sich herum errichtet hat.
Die Lösung scheint ganz einfach: Wir brauchen einen neuen Frame. Das Problem und seine Ursache liegen auf der Hand: der Desinformations-Frame und die „etablierte Macht“, die ein unreguliertes und kaum kontrolliertes Internet zu einer Gefahr stilisiert (und dabei ganz reale Bedrohungen für die Medienqualität übersieht), um ihre Privilegien zu verteidigen. Auch die ‚Guten‘ und die ‚Bösen‘, die es selbstredend auch in einem solchen Demokratie-Frame geben muss, sind leicht auszumachen.
Auf der einen Seite Redaktionen, die sich als Vermittler sehen und den Auftrag Öffentlichkeit erfüllen, sowie eine Bürgerschaft, die nicht einfach schluckt, was ihr dort vorgesetzt wird. Es gibt diese Menschen. Dieses Buch ist voll mit ihnen. Die andere Seite — die „Grenzwächter“, die „sofort losballern“ (Marcus Klöckner) und daran zweifeln, dass der ‚Mensch von nebenan‘ in der Lage ist, sich sinnvoll einzubringen — hat in diesem Fazit ohnehin schon zu viel Platz bekommen.
Bleiben die Handlungsempfehlungen. Ich setze dabei auf das Bürgergutachten. Wie wollen wir gesellschaftliche Kommunikation künftig organisieren: Das ist hier die Frage. Eine große Frage, die Eigentum und Unternehmensstruktur berührt, wenn man mit Heiko Hilker grundsätzlich wird und nach Aufgaben oder Funktionen fragt, die Medien und Journalismus in Demokratie und Gesellschaft haben. Dass so ein Leitbild (übersetzt: welche Ordnung wollen wir) nur über die Kollaboration möglichst vieler entstehen und legitimiert werden kann, ist die Idee, die das Projekt „Media Future Lab“ trägt.
In vielen der Beiträge in diesem Buch finden sich die immer gleichen (oder wenigstens ähnliche) Kriterien, wie sich journalistische Qualität erreichen und dann vielleicht sogar messen lässt. Ganz oben auf dieser imaginären Liste: Transparenz. Offenlegen, wie die Inhalte entstehen und wie sie verbreitet werden (Volker Bräutigam). Ins Netz stellen, wenn jemand versucht, die Berichterstattung zu beeinflussen (David Goeßmann, der glaubt, dass solche Angriffe der Mächtigen dann schnell aufhören würden). Und darüber reflektieren, wer hier schreibt oder sendet und wem das am Ende nutzen könnte.
Genauso wichtig: Perspektivenvielfalt — ein Punkt, der nicht nur im Kapitel über den „Rand des journalistischen Feldes“ gemacht wird und der bei der Zusammensetzung der Redaktionen beginnt. Die Einwanderungsgesellschaft sei dort kaum zu sehen, sagt Ebru Taşdemir. Für Nicht-Akademiker gilt das ganz ähnlich, hier wie da mit Folgen für die Inhalte. Peter Schaber ist sich sicher, dass Journalismus ein Handwerk ist, das man lernen kann, und versucht in Schreibwerkstätten, Menschen aus dem „proletarischen Milieu“ an das Schreiben heranzuführen. Stichwort Selbstermächtigung. Den Leuten ihre Sprache lassen und trotzdem endlich ihre Geschichten hören.
Heiko Hilker wünscht sich eine Institution, die Qualität kontrolliert, alle drei bis fünf Jahre vielleicht, analog zum Public-Value-Test, den neue Onlineangebote öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten durchlaufen müssen. Qualität und Qualitätskontrolle kosten Geld. Ein Prozent vom Rundfunkbeitrag, schlägt Hilker vor. Das klingt wenig, wäre aber ziemlich viel (im Moment rund 80 Millionen Euro). Auch deshalb braucht es ein Leitbild. Und es braucht Debatten — in der Gesellschaft, im Berufsstand. Eine Hürde benennt Heiko Hilker: Medienpolitik spielt für die Parteien (fast) keine Rolle. Das heißt: Es gibt für dieses Thema kaum Ressourcen (Geld, Mitarbeiter), damit auch keine Spezialisten und überhaupt wenig Fachwissen. Das Schlagwort „Medienbildung“ weist deshalb über die Bevölkerung hinaus — in die Zirkel der Entscheider.
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten werden im Bürgergutachten einen zentralen Platz haben. Diese Anstalten gehören uns allen. Wir zahlen dafür sehr viel Geld. Deshalb ist die Kritik hier besonders heftig — in Thüringen und Sachsen genauso wie in Oberbayern. „Betrug am Zuschauer“, sagt Volker Bräutigam, der gut 400 Programmbeschwerden geschrieben hat und noch nie Recht bekam. Die „Gegenöffentlichkeit“, die Bräutigam und sein Mitstreiter Friedhelm Klinkhammer genau wie Maren Müller (Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien) herstellen, ist das eine (Müller: wie „eine Mücke im Schlafzimmer“), institutionalisierte Teilhabe das andere.
Räte, die wirklich das Publikum vertreten, vielleicht ein Mediengerichtswesen, die schon erwähnte (externe) Instanz zur Qualitätskontrolle, Gremienbüros, die für die Rundfunkräte tatsächlich zum „Beratungsapparat“ (so nennt das Heiko Hilker) werden (also nicht nur die Sitzungen organisieren, sondern inhaltlich helfen). Hilker ist Ingenieur. Vielleicht spricht er deshalb von einem ganzen System an „Rückkopplungen“ (Publikumsräte, Ombudsleute und Expertengremien aus der Wissenschaft).
David Goeßmann geht hier ins Grundsätzliche — zum Machtsystem der Gesellschaft (in Deutschland: DAX-Konzerne mit enormer Kapital- und großer politischer Macht). Medien in der Hand von großen Unternehmen zu lassen, sagt er, sei schon deshalb eine schlechte Idee, weil sie andere Interessen hätten als wir Bürgerinnen und Bürger.
Also ein Ja zur Konstruktion öffentlich-rechtlich, da die Frequenzen schließlich allen gehören. Und ein Ja zu „zivilem Ungehorsam“ (hier: „Flashmobs, die vor die Sender ziehen und sagen: Wir wollen eine andere Berichterstattung“). Das Aber: Die Kontrollorgane sind „politisiert“. Folge: Die Politik kontrolliert die Journalisten, obwohl es eigentlich genau umgekehrt sein sollte.
Die Lösungen bei David Goeßmann: Bürgerbeteiligung und wirklich unabhängige Medien, die den Rahmen der Macht sprengen und auch Berichte liefern können, die nicht einfach die ideologischen Annahmen der Herrschenden spiegeln (vgl. Goeßmann 2019). Und, ganz groß gedacht: Hand anlegen an die Lizenzierung kommerzieller Medien, auch bei der Presse, vielleicht nach dem Vorbild der FCC in den USA. Warum nicht Lizenzen für einen begrenzten Zeitraum (etwa: drei Jahre) und dann Neuausschreibung, mit der Möglichkeit, Einspruch einzulegen, und mit Publikumsräten?
Auch intern und im Kleinen (bei der Organisation der Redaktionsarbeit in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten) gibt es offenbar Reformbedarf. Zeitverträge seien ein Unding, sagt Friedhelm Klinkhammer. Jede(r) Freie wisse, wie Chefs und Redakteure denken. Unabhängigkeit sei nur über feste Arbeitsverhältnisse und Kündigungsschutz zu haben. Volker Bräutigam erzählt von dem Ärger, den ihm vor dreieinhalb Jahrzehnten ein Buch über die Tagesschau gebracht hat, über seinen eigenen Laden also (vgl. Bräutigam 1982). Rauswerfen oder maßregeln können habe man ihn, den Redakteur, damals allerdings nicht.
Apropos Unabhängigkeit und Autonomie: Das führt zurück zur (alten) Debatte um innere Pressefreiheit und Redaktionsstatute (vgl. Noelle-Neumann 1977). David Goeßmann fordert „Schutzmauern“ (auch gegen das Proporzdenken), weil der Staat und die Unternehmen immer versuchen würden, ihre Interessen in die Öffentlichkeit zu bringen. Solche „Schutzmauern“ braucht es auch gegen Verleger und Herausgeber. Und Peter Schaber hat sehr plastisch von den „absurden Ideen“ berichtet, die fast zwangsläufig aus prekären Arbeitsbedingungen folgen. Freie Journalisten, die erfinden, lügen oder die Realität so verändern, dass sie zur Story wird (hier unübertroffen: der Film Nightcrawler mit Jake Gyllenhaal). Schabers Credo: Gute Reportagen brauchen Zeit. An einem Tag vor Ort versteht man nichts.
Peter Schaber weiß, dass er eine „exotische Position“ vertritt. Seine Problemanalyse ist trotzdem ein Plädoyer für Vielfalt, auch und gerade bei Angeboten jenseits von Medienkonzernen und öffentlich-rechtlichem Rundfunk. Schaber kritisiert die Monopolisierung (Stichwort Nachrichtenagenturen: überall bis aufs Wort die gleichen Meldungen) und die Verwertungszwänge des Kapitals, die auch dazu führen, dass der Regionaljournalismus an Bedeutung verliert.
An der Finanzierung scheiden sich die Geister. Die Pensionäre Bräutigam und Klinkhammer investieren jeden Tag sechs bis acht Stunden in ihre Tagesschau-Kritik. Maren Müller steckt ihre Freizeit in die öffentliche Präsenz der Publikumskonferenz. Projekte wie Amal, Berlin! oder die Neuen Deutschen MedienmacherInnen leben von Fördermitteln (Bund, Länder, Stiftungen) und damit auf Abruf. In den kommerziellen Verlagen war das Interesse an Perspektiven aus Syrien, Irak, Afghanistan kurz auf einem Peak (2015/16), sinkt aber seitdem wieder. Die Kosten, vor allem für die Übersetzungen. Der Queerspiegel fing als Blog ohne Budget an und hat jetzt beim Tagesspiegel immerhin ein kleines Budget. Iris Meinhardt kann beim BR nur als Journalistin arbeiten, weil ihr das Redaktionsteam hilft. Gebärdendolmetscher sind selten und teuer.
Die Liste ließe sich leicht fortsetzen. Diversität brauche materielle Bedingungen, sagt Lotte Laloire. Sie schlägt Genossenschaften und Vereine vor, Enteignungen und (so praktiziert beim Journalistinnenstreik am 8. März 2019) „Bildet Banden!“ Man könnte mit Heiko Hilker und David Goeßmann ergänzen: das öffentlich-rechtliche Prinzip ausweiten — und wäre sich trotzdem keinesfalls sicher, dass die vielen kritischen Stimmen, die in diesem Buch zu hören sind, in einem solchen Chor mitsingen würden. Paul Schreyer wünscht sich zum Beispiel eher „eine höhere Bewusstseinsebene im Umgang mit Journalismus“. Sein Multipolar-Konzept setzt auf „Einsicht“: Die Spender „bezahlen uns, weil sie verstanden haben, dass es dieses Portal nur gibt, wenn genügend Leute bezahlen“. Hier muss die Debatte zum Bürgergutachten ganz offenkundig anfangen. Auch deshalb spreche ich vorläufig von einem „Demokratie-Frame“.
(1) Crouch (2018: 64) sieht hinter den Konflikten der Gegenwart einen epischen Kampf zwischen Aufklärung und Ancien Régime, heute ausgetragen zwischen „Rechts“ (die „etablierte Macht“ und diejenigen, „die es vorziehen, sich auf ihre Seite zu stellen, weil sie ihnen Sicherheit zu bieten vermag“) und „Links“ („diejenigen, die mit der etablierten Macht unzufrieden sind und sie in Frage stellen).
(2) Wie die herrschenden Eliten über die Massenmedien Zustimmung organisieren, beschreiben Edward S. Herman und Noam Chomsky (1988) für die USA im Vor-Internet-Zeitalter: Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon 1988. Aktuelle Perspektiven aus dem deutschen Sprachraum versammelt zum Beispiel Jens Wernicke (2017).
(3) Das Qualitätskriterium „publizistische Vielfalt“ wurzelt im Pluralismusmodell: In der Gesellschaft gibt es viele und zum Teil gegensätzliche Meinungen und Interessen, die prinzipiell gleichberechtigt sind (die Interessen von Einzelpersonen und Außenseitern genauso wie die Interessen, die in Parteien oder Verbänden organisiert sind). Feld der Verständigung ist die Öffentlichkeit, wobei ein Ausgleich nur möglich scheint, wenn die verschiedenen Interessen in den Leitmedien artikuliert werden können (vgl. Meyen 2009) — ohne dass die (Ab-)Wertung gleich mitgeliefert wird wie in vielen der „Fakten-Checks“, die gerade wie Pilze aus dem Boden schießen.
Literaturangaben:
Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Studienausgabe. Konstanz: UVK 1997
Volker Bräutigam: Die Tagesschauer. Ein Tagesschau-Redakteur berichtet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982
Andreas von Bülow: Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste. München: Piper 2003
Colin Crouch: Der Kampf um die Globalisierung. Wien: Passagen Verlag 2018
David Goeßmann: Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden. Berlin: Das Neue Berlin 2019
Edward S. Herman, Noam Chomsky: Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon 1988
Michael Meyen: Kommunikationskontrolle und publizistische Vielfalt. Ein Beitrag zur Medienpolitik im Zeitalter von Digitalisierung und Ökonomisierung. In: Stefanie Averbeck-Lietz,
Petra Klein, Michael Meyen (Hrsg.): Historische und systematische Kommunikationswissenschaft. Festschrift für Arnulf Kutsch. Bremen: editionlumiere 2009, S. 607-620
Elisabeth Noelle-Neumann: Umfragen zur inneren Pressefreiheit. Das Verhältnis Verlag-Redaktion. Düsseldorf: Droste 1977
Horst Pöttker (Hrsg.): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Klassiker der Sozialwissenschaft über Journalismus und Medien. Konstanz: UVK 2001
Jens Wernicke: Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung. Frankfurt am Main: Westend 2017